An Wilhelm Hemsen in Stuttgart

Hast du das Goethebildchen im Sinn? Vor neunzig und einem
Jahr entstand es in Rom, da hier mit dem wackeren Tischbein
Er sich bescheiden vertrug, wie im Storchenneste der Adler
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Sich zu wohnen bequemt, weitab in die Ferne verschlagen.
Nicht die Tafel, die ihn »als Reisenden zeigt, in den weißen
Mantel gehüllt, im Freien, auf umgestürztem Getrümmer,
In die Campagna die Blicke gekehrt«; nein, jenes geringre
Blatt, mit der Feder umrissen und leicht schattiert mit dem Pinsel,
Wo er so bäuslich erscheint in der Sommerfrühe, nur eben
Aus dem Bette gesprungen und erst notdürftig bekleidet,
Wie er, den hölzernen Laden zurückgeschlagen, des schönen
Römischen Morgens genießt und bequem hemdärmlig am Simse
Lehnt und der Sonne die Brust und das atmende Antlitz zukehrt.
Nur vom Rücken belauschest du ihn, doch glaubst du in jeder
Linie den Hauch zu empfinden des Wohlseins, der aus dem Lichtquell
Sich durch Adern und Nerven des Neuerweckten ergossen.
Selbst im Nacken das Zöpfchen, der Fuß, der aus dem Pantoffel
Halb sich erhob, die Schnalle, die unterm Kniee den Strumpf hält,
Jeglicher Zug spricht aus: dem Mann ist wohl; wie ein Halbgott
Schlürft er, vom Zwange befreit, den verjüngenden Atem der Frühe.
Sieh nun, unter dem nämlichen Dach – nur wuchs es um einen
Stock seitdem noch hinauf – ward deinen Freunden zu wohnen
Vom Geschicke vergönnt. Wir wanderten neulich im Korso,
Scharf nach Täfelchen spähend, darauf uns winkte die Losung
Camere mobiliate da affittarsi. Und »gegen
Rondanini über« begrüßt' in Marmor gegraben
Uns die Notiz, »es hab' hier einst Unsterbliches dichtend
Wolfgang Goethe gewohnt (Volfango nennt ihn der Römer);
Des zum Gedächtnis sei von der Stadt die Tafel gestiftet«.
Doch wir wandten enttäuscht uns weg, wie übelbehauste
Fremdlinge tun, die selbst denkwürdigsten Stätten vorbeisehn,
Nur von der Sorge bewegt, wo nachts sie ihr Haupt hinbetten.
Just da holt' uns die Botschaft ein des Wohnungsvermittlers:
Zwei vortreffliche Zimmer am Korso könn' er empfehlen,
Casa Goethe. – Fürwahr, dir hat dein Glaube geholfen!
Rief ich. Umsonst nicht hast du ihn nun zeitlebens vergöttert.
Wie dem redlichen Priester im Heiligtume zu wohnen
Nicht als Frevel erscheint, so ziemt's auch dir, in den Mauern,
Die sein Name geweiht, dein winterlich Wesen zu treiben.
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Ach, nur leider die Jahre, sie haben der teuren Erinnrung
Traulichste Spuren verwischt. Er selbst, wenn heut er der alten
Römischen Zeit Schauplätze mit Geisterschritten durchwallte,
Fände den Saal nicht mehr, darin er über den Sommer
Kühl und still sich gehalten, aus dem hinab in die Gasse
Nachts die Geigen erklangen und schöne Musik, bis drunten
Ein musikalischer Wagen, auf nächtlicher Runde begriffen,
Anhielt, Sang und Klang mit vollem Orchester erwidernd,
Während das lauschende Volk mit Händeklatschen dem schönen
Doppelkonzert Dank sagte, vorab dem reichen Milordo,
Der so treffliche Künstler in seinem Hause versammelt.
Kaum das Fenster erkennt' er vielleicht, aus welchem herüber
Ihm Angelika winkte, die Künstlerin, etwa dem Freunde
Mitzuteilen: Ich hole dich ab zu Wagen; der Tag ist
Schön. Acqu' acetosa verspricht uns herrliche Fernsicht. –
Alles ist längst verwandelt vom neuernden Geiste der Enkel;
Nur nach Süden der Blick schweift über den Garten am Hause,
Über die Nachbargärtchen, getrennt durch schwärzliche Mauern,
Zwar auch sie nicht mehr »mit einfach edeler Baukunst,
Gartensälen, Balkonen, Terrassen und offenen Logen«
Frei und lustig geschmückt; ein unansehnlich Gewinkel
Strebt vielfältig empor und dient allein dem Bedürfnis.
Doch wie damals noch erfreun Zitronen und reife
Goldorangen den Blick, »ein grünendes, blühendes Eden«,
Und zwei Brünnlein sprühn in reinliche Becken die Welle,
Die es erfrischt. Und wenn hoch über den Dächern die Sonne
Mitten im starrenden Winter den Hauch ausbreitet des Frühlings
Ist's gar lieblich dahinten, und allerlei Götter und Geister
Meinst du schweben zu sehen entlang den sonnigen Pfaden,
Ganz wie am lachenden Morgen, da droben im oberen Stockwerk
Sich ein Laden geöffnet und aus zwei strahlenden braunen
Augen ein hoher Mensch in das niedere Gärtchen hinabsah.
Wohl! Er hatte die Augen, die sonnenhaften, gewohnt ins
Helle zu schaun, und gleich den Königskindern im Märchen,
»Vor ihm Tag und hinter ihm Nacht«, durchschritt er das Leben
Leuchtenden Haupts. Wie vor des Gestirns Glutpfeilen der Nebel
Weicht, schien jegliche Trübe vor seinen siegenden Blicken
Sich zu zerstreun und sanft zum Farbenspiele der Dichtung
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Selbst die Schatten des Todes versöhnt auseinanderzuklingen.
Ach, mit solcher Gabe, der köstlichsten, wähnt' ich mich selber
Einst vor vielen begnadet. Talent zur Freude zu haben,
Rühmt' ich mich oft; stets war ich bedacht, den Neid der Dämonen
Nicht durch Prahlen zu reizen, und nicht durch frostigen Undank
Mir zu verscherzen das himmlische Gut. Und sonnige Jahre
Lebt' ich fruchtbar hin. Nun aber umspann mich das Schicksal
Mit so dichtem Gewölk, daß mir die Wimper, die schwere,
Lang schon haftet am Boden, und wie ein Vogel im Regen
Unter dem Dachfirst stumm den triefenden Flügel gesenkt hält,
Sitz' ich beklommen und starr und keinem Gestirn mehr trauend,
Das noch blinzelnd zuweilen aus tiefer Umschleierung vorbricht.
Denn zu schwer im Tiefsten verwundete diesmal der Parze
Schnitt, die den goldensten Faden aus unsres Glückes Gewebe
Hart lostrennend zerriß. Nun ward das zarte Gebilde
Unbarmherzig zerrüttet. Das Händlein, das so geschäftig
Mit an dem Einschlag helfend die buntesten Blumen hineinwob,
Ruht in ewiger Nacht. Wir aber leben von Dämmrung
Schaudernd umgraut. Nichts Holdes und Sonniges kommt uns zu lichten,
Selbst hier unter dem römischen Dach, wo jener gewalt'ge
Sohn des Lichtes den Hauch der Erinnerung wärmend zurückließ.
Und ich frage mich: Hätt' auch ihn so Herbes getroffen,
Wie wohl hätt' er's getragen? mit welchem Balsam der Wunde
Fieber gekühlt? Wär' auch so seelumnachtende Trübsal
Vor dem strahlenden Auge des Welterleuchters zerronnen?
Hätt' ein Gott ihm gegeben, auch das von Herzen zu singen,
Sein verlornes Geliebtes mit dichtender Kraft zu verew'gen?
Doch was frommt es, zu grübeln, wie wohl ein Stärkrer geduldet,
Wie er bewältiget hätte sein Weh! Ich dulde das meine,
Wehrlos gegen die Übergewalt, obwohl ich in andrer
Not nicht schimpflich bestand und ein Kämpfer zu sein mir bewußt bin.
Mehr als geliebt ja hab' ich dies Kind: es war meine letzte
Leidenschaft. Nie wird so Liebliches je mir begegnen,
Nie so Liebenswürd'ges die brennende Sehnsucht kühlen.
Liebt' ich in ihm doch mit die verlorenen beiden. In ihm war
All das Holde versammelt in sprossenden Trieben und Keimen,
Was, zu frühe gewelkt am sengenden Strahle des Lebens,
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Wieder dem Staub sich vermählt. Es schienen die ewigen Mächte
Vollen Ersatz zu vergönnen in diesem beglückenden Kinde,
Das, als ahnt' es, wie früh auch ihm vom Stamme gerissen
Hinzuwelken bestimmt, so süß in klammernder Inbrunst
Mit liebkosendem Wort, das sonst aus reifem Gemüt nur
Quillt, in lachender Lust all seine Geliebten umarmte.
Ach, was gilt der erhabenen Macht ein jauchzendes Lallen
Armer sterblicher Menschen! Sie selbst ist kummer- und freudlos,
Und wie ein Fremdling nur, ein geduldeter, mischt sich die Freude
In der Genien Rat, die am Werk teilhaben des Schicksals.
Uns nur ist sie die höchste von allen beseelenden Kräften,
Die aus glimmender Wärme der Menschenbrust wie ein Flämmchen
Aufschlägt, rings in frostiger Nacht des irdischen Daseins
Unsern Weg zu erleuchten und Herz am Herzen zu wärmen.
Wird auch uns noch wieder, den Schwerverzagten, der Funken
Aufglühn, der so traurig in Staub und Asche verglommen?
Uns das brennende Aug ins sonnige Leben noch einmal
Wieder zurück sich gewöhnen? – Für jetzt noch mögen die Freunde
Still im Schatten uns dulden. Es tränt zu heftig die Wimper,
Die ins Helle sich wagt. Und hier in der heiligen Roma
Sind umschatteter Stätten genug, von Menschen gemieden,
Die nichts Teures besessen und nichts verloren. Zu denen
Laß uns flüchten, sobald an jenen Fenstern vorüber,
Draus Angelika grüßt' und winkend der Freund ihr entgegnet,
Wieder der Karneval braust, den er so farbig geschildert.

Rom, 31. Januar 1878


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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. An Wilhelm Hemsen in Stuttgart. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6846-4