[457] An Joseph Viktor v. Scheffel in Karlsruhe

Lieber alter Freund, gedenkst du
Unsrer Sorrentiner Tage,
Da wir in der Rosa magra,
Jener billigen, bescheidnen
Künstlerherberg' alten Stiles,
Traulich hausten Tür an Tür?
Du, von Capri erst gelandet,
Da wir kaum in rotem Landwein
Uns den Willkomm zugetrunken,
Gabst des Säckinger Trompeters
Erst Kapitel mir zum besten,
Frischgedichtet in Paganos
Palmenschatten; ich dagegen
Ließ dich sehn die Arrabbiata,
Kaum noch von der Tinte trocken.
(Lest Ihr eine Predigt? fragt' uns
Die Luisa, die von anderm
Mündlich feierlichem Vortrag,
Von Gedichten und Novellen
Nie ein Sterbenswort gehört.
Und wir lachten.) Sacht inzwischen
Hatte sich Laurellas Urbild,
Jener braune, fünfzehnjähr'ge
Wildfang, bei uns eingeschlichen.
Einen Rosenstrauß in Händen
Raste sie um Tisch und Stühle,
Keines heft'gen Zurufs achtend,
Bis ich bei den schwarzen Flechten
Sie ergriff; da fletschte wild sie
Ihre blanken Katzenzähne,
Mich mit scharfem Biß bedrohend,
Wenn ich etwa hinterm Gitter
Des Balkons sie zähmen wollte;
Aber plötzlich sich besinnend
Warf sie ins Gesicht den Strauß mir
Und entsprang mit hellem Schrei.
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Draußen war indes der Vollmond
Rot am Horizont erglommen,
Hatte bald um Strand und Gärten
Ausgespannt sein weiches Goldnetz,
Das die Seelen magisch einfängt,
Und hinaus zum offnen Söller
Lockt' uns seine Zauberpracht.
Welche Nächte! Welche Wonnen!
Über allen Zauber Jugend!
Weit hinaus im Glanz verduftend
Schwamm das Meer; die eigne Zukunft
Schien uns wie ein Wundereiland
Fern emporgetaucht zu grüßen,
Und wir standen, starrten, staunten,
Bis vom Wind gewiegt das letzte
Ritornell am Strand verstummte
Und der Schlaf, der Freund der Jugend,
Uns auf hartem Bett umfing.
Hart wohl in der Rosa magra
War das Lager, hart zuweilen
Das arrosto oder fritto,
Doch die Herzen weichgeschaffen
(Sempr' allegra, ma onesta!
Klang Luisas biedrer Wahlspruch),
Und wir lebten so vergnüglich,
Wie ich dies in den Idyllen
Von Sorrent hernach des Breitern,
Nur vielleicht zu offenherzig,
Beichtet' einem günst'gen Leser,
Einer strengen Leserin.
Kürzlich nun, nach fünfundzwanzig
Langen süß' und bittren Jahren,
Da im Zauberland der Jugend
Ich gesucht ein Leidasyl, –
Gleich des herzlichen Genossen
Jener Tage mußt' ich denken,
Wie auch er aus andern Augen
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Heut in Meeresweite blicken,
Wie auch er mit anderm Herzen
Grüßen würde diesen Strand.
Zwar den groß' und kleinen Hafen,
Die gewundne Treppensteile,
Grau und schlüpfrig, fändst du wieder,
Fändst die wohlbekannten schmalen,
Mauerschluchtig dunklen Gassen
Noch wie damals von Gerüchen –
Stockfisch, Öl, Johannisbrotfrucht –
Hexenküchenhaft durchduftet;
Noch wie damals auf den Schwellen,
Loggien, Mäuerchen, Balkonen
Braune Weiber, wockenschwingend,
Ihre nackten, funkeläugigen
Kinder säugend oder kämmend,
Mit dem Ruf: Muojo di fame!
Nur die großen Fremdenfallen,
Die Hotels, an allen Ecken
Sind sie mächtig aufgeschossen,
Daß die schmächt'ge Rosa magra
Vollends schamhaft sich verkriecht.
Dann die Piazza – traun, du kenntest
Einzig an der Schlucht sie wieder,
Die von Brücken überwölbet
Schauerkühl zum Meer hinabsinkt.
Ringsumher stehn neue Häuser;
Auf dem Ehrenplatz inmitten,
Unter Kutschern, Eseltreibern,
Müßig lungerndem Gesindel,
Tassos weißes Marmorstandbild,
Halb ein Landsknecht, halb ein Geck.
Armer Dichter! Noch im Tode
Spürt' er seines Unsterns Walten,
Und von allen Marmorstümpern
Fiel dem Gröbsten er anheim!
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Doch genug von toten Steinen!
Unser Herz gehört Beseeltem,
Menschen unser Angedenken.
Zwar, die Menschen, wenn nicht zeitig
Von der Bühne sie verschwinden,
Tauschen seltsam oft die Rollen.
Aus dem Helden wird zuweilen
Ein Philister, feig und schäbig,
Aus Naiven tragische Mütter,
Aus dem Primo amoroso
Ein moroser alter Narr.
Besser fand ich's hier im ganzen.
Freilich, aus der Rosa magra
War die Mutter weggestorben,
Weggezogen alle Kinder,
Nur Gennaro, der als Jüngster
Damals noch im Hemd herumlief,
Hält mit seinem jungen Weibe
Aufrecht ihres Hauses Ruhm.
Doch Luisa heimzusuchen,
Mußten wir nach Meta wandern,
Wo sie, eines Stubenmalers
Ehweib, mit der einz'gen Tochter
(Ganz ihr Abbild! non è bella,
Ma simpatica, sapete!)
Haust in mäßigem Behagen
Und ein Farbenlädchen hält.
Sempr' allegra, ma onesta
Gab sie den Besuch uns wieder,
Kam mit Mann und Kind und Schwester,
(Die in feurig süßem Wein sich
Einen Spitz trank, poverella!)
Und viel tausend Grüße soll ich
Dir bestellen, Don Pepino,
Und sie wußten noch den kleinsten
Umstand jener alten Zeit.
Auch die Arrabbiata fand ich,
Da sie just im Hof am Ziehbrunn
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Wasser schöpfte. Näher tretend
Bat ich: Reicht mir auch zu trinken!
Und so übern Krug hinüber:
Kennt Ihr mich nicht mehr, Laurella?
(Selbst erkannt' ich kaum die alten
Übermüt'gen Züg' im breiten,
Ruhigen Matronenantlitz.)
Doch sie wiegt' ihr Haupt verneinend,
Noch im Schmuck der schwarzen Flechten,
Dran ich damals sie gezügelt,
Und erzählte mir, wie vieles
Unterdes sich zugetragen,
Wie sie ihren Mann gefunden
Und verloren, sieben Kinder
Ihm geboren, vier begraben,
Nur zwei Mädchen noch im Hause
Und der Sohn ein rüst'ger Schiffer.
Wahrlich, sieben Kinder löschen
Wohl der eignen Kinderpossen
Angedenken in dem Herzen
Eines schlichten Weibes aus.
Und wir reichten uns die Hände;
Auch die beiden Mädchen kamen,
Schön und schlank herangesprossen,
Zahmer als die Mutter damals,
Und mit stillem Segenswunsche
Schritt ich aus dem stillen Haus.
Doch auf deinen Lippen lang schon
Seh' ich eine Frage schweben
Nach der Lieblichen, der Liebsten,
Jener stillen, schöngeäugten
Jungen Nachbarin, die damals
Schwesterlich das Herz mir rührte,
Ihres auch mir freundlich neigte,
Sehr unschuldig. Waren beide
Herzen doch in festen Händen,
Beide, wie in Ferienlaune,
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Wärmten sich an fremdem Feuer,
Bis die Scheidestunde schlug.
Wohl! auch Mariuccia fand ich,
Noch im alten finstren Häuschen,
Täglich am Balkone sitzend,
Träumrisch, ihr Gestrick in Händen
Und beträchtlich stark geworden,
Um sie her ein schwirrend, gurrend,
Glucksend Volk von Hühnern, Tauben,
Auch ein Kätzchen im gebräunten
Lehnstuhl kauernd; rings die Wände
Rauch- und staubgeschwärzt; die alten
Möbel dürftig, blind das Spieglein
An der Wand, vergilbt die bunten
Heil'genbilder überm Bette,
Daß beklommen, da ich eintrat,
Sich das Herz zusammenzog.
Und ich saß ihr gegenüber,
Und wir suchten eins im andern
Die entschwundne Jugend wieder.
Sag mir, Mariuccia, fragt' ich,
Warum bist du einsam blieben?
Angiolinas Onkel, weißt du,
Jener schlanke Apotheker,
Warst du nicht mit ihm versprochen?
Und er liebte dich, und du auch
Liebtest ihn
Im nächsten Jahre,
Sprach sie still, ist er gestorben,
Und seitdem Ihr weggegangen,
Ist kein andrer mehr gekommen,
Mariuccia schön zu finden.
Seht, ich bin's auch nicht geblieben;
Wer betrübt ist, altert frühe.
Und nun führ' ich meinem Bruder
Hier das Haus seit manchem Jahre.
An Gesellschaft ist kein Mangel,
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Wie ihr seht; ich bin genügsam.
Immer seh' ich vom Balkone
Einen Tag dem andern folgen,
Bis zuletzt der letzte kommt.
Fünfundzwanzig lange Jahre,
Nicht voll süß' und bittrer Stunden,
Liebeleer, in ödem Gleichmaß,
Statt von holden Kinderlauten,
Nur umschwirrt von Vogelstimmen,
Ach, und das ein Menschenleben?
O Mariuccia, armes Herz!
Und wir reichten uns die Hände,
Und ich sah auf mir die schönen
Junggebliebnen Augen ruhen
Ohne Wunsch und ohne Klage,
Und mit tiefbewegter Seele
Schritt ich aus dem stillen Haus.
Abends, da mit meiner Liebsten
Ich im Dante las – dem kleinen
Exemplar, das du mir scheidend
In Sorrent zurückgelassen,
Noch am Rand die Spuren deines
Hermeneutischen Bemühens –
Und der Mond durch der Oliven
Zartes Silberlaub hereinsah,
Und wir an die Stelle kamen,
Wo Francesca seufzt: Es ist kein
Größrer Schmerz, als sich im Leid auf
Altes Glück zurückbesinnen! –
Plötzlich aus den Händen gleiten
Ließ ich stumm das Buch; im Sessel
Lehnte sich mein Weib zurücke,
Und ich sah, wie große Tropfen
Schwer ihr aus den Wimpern quollen.
Woran dachten wir? O Teurer,
Still davon! Es soll der Wehmut
Dunkler Kelch nicht überfließen.
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Birgt doch auch geheime Süße
Alten Glückes treu Erinnern.
Des zum Zeichen, von der Küste
Napolis, der lebensfrohen,
Trag' im Winter dieses Blatt dir
Einen Hauch des Südens zu!
Neapel, November 1877

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. An Joseph Viktor v. Scheffel in Karlsruhe. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-68E4-D