Peter Hille
Blätter vom fünfzigjährigen Baum

[33] An die Poesie

Zu dir meine Flucht,
An deinen lindernden Busen,
In deine weich
Umschlingenden Arme
Rett ich mein Herz,
Das prosawunde
Qualenzuckende Herz,
O du meine tröstende Mutter,
Sorgen verkosendes Lieb,
O du meine Muse!
Ruhe lächelt dein Auge,
Dein mildes, hehres Auge,
In meine dunklen Qualen und Sorgen,
Das glänzende tiefe,
Das mit olympischer Klarheit
Tränkte den greisen Homer,
Mit tragischer Milde umgoß
Die bruderbestattende,
Still ins Todesbrautgemach
Steigende Jungfrau ...
Muse, du wölbtest
Den blauen Himmel von Hellas
Auf Marmor Plastik,
Mit blitzzerrissener,
[33]
Düsterer Wolken hehrer Phantastik
Bangtest du
Dem Jehovah heiligen Lande.
Wilde Schwüle ließest du zittern
Über dem üppigen Traubengehänge,
Drin der schwellende Busen der Braut
Wogte unter den Küssen
Des ebenholz-lockigen Freundes.
Ein Leichenfeld
Sieht der begeisterte Seher,
[33]
Ein Wirbelwind
Dreht die Gebeine zusammen,
Sie fügen sich ein,
Dasteht
Ein totenköpfiges Heer.
Sehnen schießen und Fleisch sproßt,
Haut spannt sich herum.
Ein Gotteshauch:
Mit den Waffen
Rasselt das Heer. –
Dem glutenhagern
Jacopone di Todi
Erschienst du
Hoher düsterer Gestalt,
Drücktest kohlenbrennenden Kuß
Auf seine schroffe steinerne Stirn,
Draus die düstern Flammenrhythmen
Des dies irae glühten,
Das heiße Angstgebet,
Das Flammenflehen:
Recordare, Jesu pie,
Quod sum causa tuae viae,
Ne me perdas illa die!
O, entsende auch mich!
Laß mich nicht stehn
Im Alltagsgrau,
Und Neidesblicke
Werfen auf die Erkorenen,
Gedrückt durch niedere Prosa,
Gequält von den Stichen
Des kleinlichen Lebens,
Der Philister Umgebung,
Philisterhaft
Die Pfennige zu rechnen gezwungen.
[34]
Nein Muse, so grausam
Kannst du nicht sein,
Mich hocken nicht lassen
Auf dumpfem Bureau,
Angewidert von Allem,
Verhöhnt von Allen!
Mit selbstzerfressendem Grimm,
Mit selbstvergiftendem Hohn
Mich selbst regalierend,
Was bleibt mir als Wahnsinn?
Halbdichter zu sein!
O diesen Jammerstand
Hab' ihn verdient ich,
Weil mit allen
Fasern mein Wesen
Sich drängt zu dir?
Berauscht hat mich
Dein wonniger Atem,
Vollende dein Werk.
Drücke den Kuß der Weihe
Mir auf die Stirn,
Erschließe sie –
Und ich gehöre ganz dir.
O schleudere mich nicht
Zurück in die Prosa!!

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hille, Peter. An die Poesie. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-699F-3