Erstes Kapitel
Der Wirt zum »Silbernen Lamm« riß seine Mütze vom Kopf, warf sie auf die Erde und rief, mit beiden Füßen darauf herumstampfend: »So – so – trittst du alle Rechtschaffenheit, alle Tugend, alle Nächstenliebe mit Füßen, du ehrvergessener Gevatter, du gottloser Wirt zum ›Goldnen Bock‹! – Hat der Kerl nicht lediglich mir zum Tort seinen verwünschten Bock über dem Tor mit schweren Kosten so gleißend neu vergülden lassen, daß mein niedliches silbernes Lämmlein nun ganz ärmlich und bleich dagegen absticht, und alle Gäste mir vorbei nach dem funkelnden Tiere ziehen? – Alles mögliche Gesindel von Seiltänzern, Komödianten und Taschenspielern reißt der Spitzbube an sich, damit sein Haus nur immer von Menschen wimmle, die sich erlustieren und seinen essigsauren, doppelt geschwefelten Wein saufen, statt daß ich meinen vortrefflichen Hochheimer und Nierensteiner selbst aussaufen muß, um ihn nur los zu werden an einen Mann, der echten Wein zu schätzen weiß. Kaum verläßt die Komödiantenbande den vertrackten ›Bock‹, als die kluge Frau einkehrt mit dem Raben, und alles strömt wieder hin und läßt sich wahrsagen und ruiniert sich mit Essen und Trinken. Und wie der heillose Nachbar oft seine Leute, die bei ihm einkehren, behandeln mag, kann ich mir wohl denken, denn der junge hübsche Herr, der erst vor wenigen Tagen dort war und heute zurückkam, ist doch richtig nicht bei ihm; sondern bei mir eingekehrt.[489] – Aber er soll auch bedient werden fürstlich. – Ach! – Ach! – Teufel! – Da geht er ja hin, der junge Herr, nach dem ›Goldenen Bock‹ – die verfluchte weise Frau, die wird er sehen wollen. Es ist Mittagszeit – der Hochwohlgeborne strebt nach dem ›Goldnen Bock‹ – verschmäht alle Speisung des ›Silbernen Lämmleins!‹ – Gnädiger Herr! – Ihr Gnaden!« –
So schrie der Wirt zum offnen Fenster heraus, aber Deodatus Schwendy (das war der junge Mann) überließ sich dem Strom der Menschenmenge, der ihn unaufhaltsam fortriß in das unfern gelegene Wirtshaus.
Dicht gedrängt stand alles in Flur und Hofraum, ein leises erwartungsvolles Geflüster lief hin und wieder. Einzelne wurden in den Saal gelassen, andere traten heraus, bald mit verstörten, bald mit nachdenklichen, bald mit frohen Gesichtern.
»Ich weiß nicht,« sprach ein alter ernster Mann, der sich mit Deodatus zugleich in eine Ecke geflüchtet hatte, »ich weiß nicht, weshalb diesem Unfug nicht von Obrigkeits wegen gesteuert wird.« »Warum?« fragte Deodatus. »Ach,« fuhr der Mann fort, »ach! Sie sind fremd, Ihnen ist daher unbekannt, daß von Zeit zu Zeit ein altes Weib herkommt, die das Publikum äfft mit wunderbaren Prophezeiungen und Orakelsprüchen. Sie hat einen großen Raben bei sich, der den Leuten über alles, was sie wissen wollen, wahr-oder vielmehr falschsagt. Denn ist es auch richtig, daß mancher Ausspruch des klugen Raben eintrifft auf sonderbare Weise, so bin ich doch überzeugt, daß er dagegen hundertmal ins Gelag hineinlügt. Sehn Sie nur die Leute an, wenn sie herauskommen, und Sie werden leicht merken, daß das Weib mit dem Raben sie ganz und gar berückt. – Muß denn in unserm, dem Himmel sei Dank! – aufgeklärten Zeitalter solch ein verderblicher Aberglaube« –
Weiter hörte Deodatus nichts von dem, was der in vollen Eifer geratene Mann schwatzte, denn eben trat der [490] bildschöne Jüngling, totenbleich, helle Tränen in den Augen, aus dem Saal heraus, in den er vor wenigen Minuten heiter, frohlächelnd hineingegangen.
Da war es dem Deodatus, als sei hinter jenen Vorhängen, durch die die Menschen hineinschlüpften, wirklich eine dunkle, unheimliche Macht verborgen, die dem Fröhlichen die unheilbringende Zukunft enthülle und so schadenfroh jeden Genuß des Augenblicks töte. –
Und doch stieg in ihm der Gedanke auf, selbst hinzugehen und den Raben darum zu befragen, was ihm die nächsten Tage, ja die nächsten Augenblicke bringen könnten. Auf geheimnisvolle Weise war Deodatus von seinem Vater, dem alten Amadeus Schwendy, aus weiter Ferne nach Hohenflüh geschickt worden.
Hier auf die höchste Spitze des Lebens gestellt, sollte sich seine Zukunft entscheiden durch ein wunderbares Ereignis, das ihm der Vater in dunklen geheimnisvollen Worten verkündet. Mit leiblichen Augen sollte er ein Wesen schauen, das sich nur wie ein Traum in sein Leben verschlungen. Er sollte nun prüfen, ob dieser Traum, der aus einem in sein Inneres geworfenen Funken immer frischer und strahlender emporgekeimt, wirklich heraustreten dürfe in sein äußeres weltliches Treiben. Er sollte, war dieses, eingreifen mit der Tat. – Schon stand er an der Türe des Saals, schon wurden die Vorhänge gelüpft. Er hörte eine widrige krächzende Stimme, ein Eisstrom glitt durch sein Inneres, es war, als dränge ihn eine unbekannte Gewalt zurück, andere kamen ihm zuvor, und so geschah es, daß er, ohne daran zu denken, unwillkürlich die Treppe emporstieg und in ein Zimmer geriet, wo man das Mittagsmahl für die zahlreichen Gäste des Hauses bereitet hatte.
Der Wirt kam ihm freundlich entgegen. »Ei sieh da! Herr Haberland! – Nun, das ist schön. Sind Sie gleich da drüben in dem schlechten Hause, in dem ›Silbernen Lamm‹, eingekehrt, so können Sie sich doch nicht der [491] weltberühmten Wirtstafel des ›Goldnen Bocks‹ entziehen. Ich habe die Ehre, diesen Platz für Sie zu belegen.«
Deodatus merkte wohl, daß sich der Wirt in seiner Person irrte, allein ganz und gar befangen von der großen Unlust zu sprechen, die jede heftige Anregung aus dem Innern heraus erzeugt, ließ er sich nicht darauf ein, den Irrtum aufzuklären, sondern setzte sich stillschweigend an seinen Platz. Die weise Frau war der Gegenstand des Tischgesprächs, und es herrschten die verschiedensten Meinungen, indem manche alles für ein kindisches Gaukelspiel erklärten, andere dagegen ihr in der Tat die vollkommenste Erkenntnis der geheimnisvollen Verschlingungen des Lebens zutrauten und daraus ihre Sehergabe herleiteten.
Ein kleiner, alter, etwas zu dicker Herr, der sehr oft aus einer goldnen Dose, nachdem er sie auf dem Rockärmel gerieben, Tabak nahm und dabei ungemein klug vor sich hinlächelte, meinte, der hochweise Rat, dessen geringes Mitglied zu sein er die Ehre habe, werde bald der verdammten Hexe das Handwerk legen, vorzüglich weil sie eine Pfuscherin sei und keine wahre ordentliche Hexe. Denn daß sie jedes Lebenslauf in der Tasche habe und in nuce, wiewohl in absonderlichen, schlecht stilisierten Redensarten, durch den Raben hersagen lasse, sei übrigens kein solch großes Kunststück. Wäre doch noch zum vorigen Jahrmarkt ein Maler und Bilderhändler am Orte gewesen, in dessen Bude ein jeder sein wohlgetroffenes Porträt habe finden können.
Alles lachte laut auf. »Das ist,« rief ein junger Mann dem Deodatus zu, »das ist etwas für Sie, Herr Haberland. Sie sind ja selbst ein tüchtiger Porträtmaler, aber so hoch haben Sie Ihre Kunst doch wohl nicht gesteigert!«
Deodatus, schon zum zweitenmal als Herr Haberland, der, wie er nun vernommen, ein Maler sein mußte, angesprochen, konnte sich eines innern Schauers nicht erwehren, indem es ihm plötzlich vorkam, als sei er mit [492] seiner Gestalt und seinem Wesen der unheimliche Spuk jenes ihm unbekannten Haberlands. Aber bis zum Entsetzlichen wurde dieses innere Grauen gesteigert, als in dem Augenblick, noch ehe er dem, der ihn als Haberland angeredet, antworten konnte, ein junger Mensch in Reisekleidern auf ihn zustürzte und ihn heftig in seine Arme schloß, laut rufend: »Haberland – liebster bester George, hab' ich dich endlich getroffen! Nun können wir fröhlich unsern Weg fortwandern nach dem schönen Italia! Aber du siehst so blaß und verstört?« –
Deodatus erwiderte die Umarmung des ihm unbekannten Fremden, als sei er in der Tat der längst gesuchte und erwartete Maler George Haberland. Er merkte wohl, daß er nun wirklich in den Kreis der wunderbaren Erscheinungen trete, die ihm sein alter Vater in mancherlei Andeutungen verkündet hatte. Er mußte sich hingeben allem dem, was die dunkle Macht über ihn beschlossen. Aber jene Ironie des tiefsten Grimms gegen fremde unerreichbare Willkür, in der man Eigenes zu bewahren und zu erhalten strebt, erfaßte ihn gewaltig. In verzehrendem Feuer erglüht, hielt er den Fremden fest bei beiden Armen und rief: »Ei du unbekannter Bruder, wie sollt' ich nicht konfus aussehen, da ich soeben mit meinem Ich in einen andern Menschen gefahren bin wie in einen neuen Überrock, der hin und wieder zu eng ist oder zu weit, der noch drückt und preßt. Ei du mein Junge, bin ich denn nicht wirklich der Maler George Haberland?«
»Ich weiß nicht,« sprach der Fremde, »wie du mir heute vorkommst, George. Bist du denn wieder einmal von deinem wunderlichen Wesen befangen, das über dich kommt wie eine periodische Krankheit? Überhaupt wollt' ich fragen, was du denn mit all dem unverständlichen Zeuge haben willst, der deinen letzten Brief anfüllt«
Damit holte der Fremde einen Brief hervor und schlug ihn auseinander. Sowie Deodatus hineinblickte, schrie er auf, wie von einer unsichtbaren feindlichen Macht schmerzhaft [493] berührt. Die Handschrift des Briefes war ja ganz genau seine eigene.
Der Fremde warf einen raschen Blick auf Deodatus und las dann langsam und leise aus dem Briefe:
»Ach, lieber Kunstbruder Berthold! Du weißt nicht, welch eine düstere, schmerzende und doch wohltuende Schwermut mich befängt, je weiter ich fortwandere. Sollst Du es wohl glauben, daß mir meine Kunst, ja all mein Leben, Tun und Treiben oft schal und dürftig vorkommt? Aber dann erwachen süße Träume aus meiner fröhlichen frischen Jugendzeit. Ich liege in des alten Priesters kleinem Garten ins Gras hingestreckt und schaue hinauf, wie der holde Frühling auf goldnen Morgenwolken dahergezogen kommt. Die Blümlein schlagen, von dem Schimmer geweckt, die lieblichen Augen auf und strahlen ihre Düfte empor wie ein herrliches Loblied. Ach, Berthold! – mir will die Brust zerspringen vor Liebe, vor Sehnsucht, vor brünstigem Verlangen! Wo finde ich sie wieder, die mein ganzes Leben ist, mein ganzes Sein! – Ich gedenke Dich in Hohenflüh zu treffen, wo ich einige Tage verweile. Es ist mir, als müsse mir eben in Hohenflüh was Besonderes begegnen, woher dieser Glaube, weiß ich nicht!« – –
»Nun sage mir,« sprach der Kupferstecher Berthold – das war eben der Fremde – weiter, nachdem er dies gelesen, »nun sage mir nur, Bruder George, wie du in frischer fröhlicher Jugend auf der vergnüglichen Reise nach dem Kunstlande solcher weichlicher Schwärmerei nachhängen magst.«
»Ja, lieber Kunstbruder,« erwiderte Deodatus, »es ist mit mir ein ganz tolles absonderliches Ding. Sowie das nun gleich gar possierlich ist, daß ich recht aus der tiefsten Seele das geschrieben, was du eben lasest, und daß ich dennoch gar nicht der Georg Haberland bin, den du« –
In dem Augenblick trat der junge Mann hinein, der[494] schon früher den Deodatus als Georg Haberland begrüßt hatte, und meinte, Georg habe recht getan, daß er der weisen Frau halber noch einmal zurückgekehrt sei. Er solle sich an all das Geschwätz bei Tische gar nicht kehren, denn wollten auch die Weissagungen des Raben eben nicht viel bedeuten, so sei es doch höchst merkwürdig, wenn sie, die weise Frau, selbst auftrete wie eine zweite Sibylle oder Pythia und in beinahe wilder Begeisterung geheimnisvolle Sprüche hersage, indem dumpfe geheimnisvolle Stimmen sie umtönten. Sie gebe heute in dem geräumigen Boskett des Gartens eine solche Darstellung, die Georg durchaus nicht versäumen müsse.
Berthold ging, um manches Geschäft, das ihm in Hohenflüh oblag, abzutun. Deodatus ließ es sich gefallen, mit jenem jungen Mann ein paar Flaschen zu leeren und so die Zeit bis zum Sonnenuntergang hinzubringen.
Die Gesellschaft, die im Zimmer versammelt, brach endlich auf, um sich nach dem Garten zu begeben. Da strich auf dem Flur ein langer hagrer, vornehm gekleideter Mann, der eben angekommen schien, bei ihnen vorüber. Im Begriff, in die Zimmer hineinzutreten, wandte er sich noch einmal um, sein Blick fiel auf Deodatus, und den Türdrücker in der Hand, blieb er wie eingewurzelt stehen! Wildes Feuer blitzte aus seinen düstern Augen, während Totenblässe sein krampfhaft zuckendes Antlitz überzog. Er trat einen Schritt vorwärts auf die Gesellschaft zu, doch wie plötzlich sich besinnend, kehrte er wieder um, rannte hinein in das Zimmer und warf dröhnend die Türe hinter sich zu. Was er zwischen den Zähnen murmelte, konnte niemand verstehen.
Mehr als dem jungen Schwendy war dem andern das Betragen des Fremden aufgefallen, Deodatus hatte nicht sonderlich darauf geachtet. Man begab sich nach dem Boskett. –
Die letzten Strahlen der Abendsonne fielen auf eine hohe, von Kopf bis zu Fuß in ein weites erdgelbes Gewand gehüllte Gestalt, die den Zuschauern den Rücken [495] zugewendet hatte. Neben ihr auf der Erde lag ein großer Rabe wie tot, mit gesenkten Flügeln. Alle wurden von dem fremden grauenhaften Anblick erfaßt, das leise Geflüster verstummte, und in dumpfem, die Brust belastenden Schweigen erwartete man, was die Gestalt beginnen werde.
Ein Säuseln strömte, wie Wellengeplätscher wunderbar klingend, durch das dunkle Gebüsch und wurde zu Tönen, zu vernehmbaren Worten:
»Phosphorus ist bezwungen. Der Feuerkessel glüht auf im Westen! – Nachtadler! schwing dich empor zu den erwachten Träumen.«
Da erhob der Rabe das gesenkte Haupt, schlug mit den Flügeln und stieg krächzend in die Höhe. Die Gestalt breitete beide Arme aus, das Gewand fiel herab, und eine hohe wunderherrliche Frau stand da im weißen faltenreichen Kleide mit einem Gürtel von funkelnden Steinen und schwarzen, hochaufgenestelten Haaren. Hals, Nacken und Arme zeigten entblößte, jugendlich üppige Formen.
»Das ist ja nicht die Alte!« so flüsterte es durch die Reihen der Zuschauer –
Jetzt begann eine ferne dumpfe Stimme:
»Hörst du, wie es im Abendwinde heult und jammert?«
Eine noch fernere Stimme murmelte:
»Die Klage beginnt, wenn der Glutwurm leuchtet!«
Da ging ein entsetzlich herzzerschneidender Jammer durch die Lüfte. Die Frau sprach:
»Ihr fernen Klagetöne, habt ihr euch losgewunden aus der Brust des Menschen, daß ihr vermöget, frei euch zu erheben im gewaltigen Chor? – Aber verhallen müßt ihr in Lust, denn die in segensreichen Himmeln thronende Macht, die euch gebietet, ist ja die Sehnsucht.«
Die dumpfen Stimmen heulten stärker:
»Die Hoffnung ist gestorben! Der Sehnsucht Lust war die Hoffnung. Sehnsucht ohne Hoffnung ist namenlose Qual!«
[496] Tief auf seufzte die Frau und rief wie in Verzweiflung:
»Die Hoffnung ist der Tod! – Das Leben dunkler Mächte grauses Spiel!«
Da schrie Deodatus unwillkürlich aus dem Innersten heraus: »Natalie!«
Rasch wandte sich die Frau um, und ein altes, fürchterlich verzerrtes Weiberantlitz starrte ihn an mit glühenden Augen. Grimmig mit aufgespreizten Armen auf ihn losfahrend, kreischte das Weib: »Was willst du hier? – Fort! Fort! – der Mord ist hinter dir her! – Rette Natalien!« – Der Rabe rauschte durch die Bäume herab auf Deodatus und krächzte gräßlich: »Mord – Mord!« Von wildem Entsetzen gepackt, halb sinnlos, rannte Deodatus fort nach seiner Wohnung.
Der Wirt sagte ihm, daß währenddessen ein fremder reich gekleideter Herr mehrmals nach ihm gefragt, indem er seine Person genau beschrieben, ohne seinen Namen zu nennen, und endlich ein Billett zurückgelassen habe.
Deodatus erbrach das Billett, das ihm der Wirt einhändigte und das richtig an ihn adressiert war. Er fand folgende Worte:
»Ich weiß nicht, ob ich es unerhörte Frechheit oder Wahnsinn nennen soll, daß Sie sich hier blicken lassen. Sind Sie nicht, wie ich es jetzt glauben muß, ein ehrloser Bösewicht, so entfernen Sie sich augenblicklich aus Hohenflüh, oder erwarten Sie, daß ich Mittel finden werde, Sie von Ihrer Tollheit auf immer zu heilen.
Graf Hektor von Zelies.«
»Die Hoffnung ist der Tod, das Leben dunkler Mächte grauses Spiel!« – So murmelte Deodatus dumpf in sich hinein, als er dies gelesen. Er war entschlossen, sich durch die Drohungen eines Unbekannten, die noch dazu auf irgendeinem unerklärlichen Irrtum beruhen mußten, durchaus nicht aus Hohenflüh vertreiben zu lassen, sondern [497] mit festem Mut, mit männlicher Kraft dem entgegenzutreten, was irgendeine dunkle Macht über ihn verhängt. Sein ganzes Inneres war erfüllt mit banger Ahnung, die Brust wollte ihm zerspringen, hinaus sehnte er sich aus den Mauern ins Freie. Die Nacht war eingebrochen, als er, eingedenk des unbekannten bedrohlichen Verfolgers, seine geladenen Pistolen einsteckte und forteilte durch das Neudorfer Tor. Schon war er auf dem freien Platz, der vor diesem Tore befindlich, als er sich von hinten gefaßt und zurückgezogen fühlte. »Eile – eile, rette Natalien, die Zeit ist da!« – So murmelte es ihm in die Ohren. Es war das gräßliche Weib, die ihn gefaßt hatte und die ihn unaufhaltsam mit sich fortriß. Ein Wagen hielt in geringer Entfernung, der Schlag war geöffnet, die Alte half ihm hinein und stieg nach. Er fühlte sich von weichen Armen umfangen, und eine süße Stimme lispelte: »Mein geliebter Freund! endlich! – endlich kommst du!« – »Natalie, meine Natalie!« So schrie er auf, indem er, halb ohnmächtig vor Entzücken, die Geliebte in die Arme schloß.
Rasch ging es nun fort; im dicken Walde schimmerte plötzlich heller Fackelglanz durch das Gebüsch. »Sie sind es,« rief die Alte; »noch einen Schritt weiter, und uns trifft Verderben!« –
Deodatus, zur Besinnung gekommen, ließ halten, stieg aus dem Wagen und schlich leise, die gespannte Pistole in der Hand, auf den Fackelglanz zu, der augenblicklich verschwand. Er eilte zurück zum Wagen, aber erstarrt vor Entsetzen, blieb er eingewurzelt stehen, als er eine männliche Figur erblickte, die mit seiner Stimme sprach: »Die Gefahr ist vorüber!« und dann einstieg.
Nachstürzen wollte Deodatus dem schnell fortrollenden Wagen, als ihn ein Schuß aus dem Gebüsch zu Boden warf.
[498]