[101] Sünde des Lebens

Wie die Lieder wirbelnd erklingen!
Wie sie fiedeln, zwitschern und singen!
Wie aus den Blicken die Funken springen!
Wie sich die Glücklichen liebend umschlingen!
Jauchzend und schrankenlos,
Sorglos, gedankenlos
Dreht sich der Reigen,
Der Lebensreigen. –
Ich muß schweigen,
Kann mich nicht freuen,
Mir ist so angst ...
Finster am Bergesrand
Wandelt die Wolke,
Hebt sich des Herren Hand
Dräuend dem Volke:
Und meine Augen, sie sehens alleine,
Und meine Sorgen verstehens alleine ...
Es fiel auf mich in der schweigenden Nacht,
Und es läßt mich nicht los,
Wie dumpfer hallender Glockenlaut,
Es folgt mir durch die Frühlingspracht,
Ich hör es durch der Wellen Getos:
Ich habe den Frevel des Lebens geschaut!
Ich sah den Todeskeim, der aus dem Leben sprießt,
Das Meer von Schuld, das aus dem Leben fließt,
Ich sah die Fluten der Sünden branden,
Die wir ahnungslos begehen,
Weil wir andere nicht verstanden,
Weil uns andere nicht verstehen.
[102]
O flöge mein Wort von Haus zu Haus,
Dröhnend wie eherne Becken,
Gellend durch das Alltagsgebraus,
Die Welt aus dem Taumel zu wecken,
Mit bebendem Halle
Zu fragen euch alle:
Dichter im Lorbeerkranz,
Betrogner Betrüger,
Wärmt dich dein Ruhmesglanz,
Macht er dich klüger?!
Deuten willst du das dämmernde Leben,
Im Herzen erlösen das träumende Streben?
Kannst du denn noch verstehen,
Was du selber gestern gedacht,
Kannst du noch einmal fühlen
Den Traum der letzten Nacht?
Wenn deine Seele weinet,
Weißt du denn auch warum?
Dir ahnt und dünkt und scheinet, –
Oh, bleibe lieber stumm.
Denn was dein Geist, von Glut durchzuckt, gebar,
Eh dus gestaltet, ists schon nicht mehr wahr.
Es ward dir fremd, du kannst es nicht mehr halten,
Kennst nicht seine tötenden Gewalten:
Endlose Kreise
Ziehet das leise
Unsterbliche Wort,
Fort und fort.
Wie es tausendfach gedeutet
Irrlichtgleich die Welt verleitet,
Schmeichelnd die Seelen betöret,
Tobend die Seelen zerstöret,
Ewig seine Form vertauschend,
[103]
Durch die Zeiten vorwärtsrauschend,
Nachempfunden, nachgehallt,
Seellos wogt und weiterwallt,
Ewig unverstanden taumelt,
Ruh- und friedlos immerzu,
Deines Geists verfluchtes Kind,
Unsterblich wie du!
Gatte der jungen Frau,
Hast du es auch bedacht,
Als um dich liebelau
Rauschte die erste Nacht,
Als du sie glühend an dich drücktest,
Daß du vielleicht ihre Seele ersticktest?
Daß vielleicht, was in ihr schlief,
Nach einem Andern angstvoll rief,
Um dens ihr unbezwinglich bangte,
Nach dem ihr ganzes Sein verlangte?
Daß dein Umfangen vielleicht ein Zerbrechen,
Daß dein Recht vielleicht ein Verbrechen? ...
Nimm dich in acht!
Seltsame Kreise
Spinnen sich leise
Aus klagenden Augen
Und sie saugen
An deinem Glück!
Einen Andern
Hätten die Kreise
Golden umgeben,
Kraft ihm entzündend,
Liebe verkündend;
Dich aber quälen sie,
Schweigend erzählen sie
Dir von Entbehrung,
Die du verschuldet hast,
Dir von Entehrung,
[104]
Die du geduldet hast,
Und von Wünschen, unerfüllbar,
Und von Sehnsucht, die unstillbar
Ihr betrognes Herz durchbebt,
Wie die Ahnung des Verlornen,
Die um blasse Kinderwangen
Und um frühverwelkte Blumen
Traurig und verklärend webt.
Reicher im goldnen Haus,
Fühlst du kein Schauern?
Dringt nicht ein Stimmgebraus
Dumpf durch die Mauern?
Die da draußen frierend lungern,
Dich zu berauschen, müssen sie hungern,
Ihre gierigen Blicke suchen dich,
Ihre blassen Lippen verfluchen dich,
Und ihr Hirn mit dumpfem, dröhnendem Schlag,
Das schmiedet, das schmiedet den kommenden Tag.
Priester, du willst die Seele erkennen,
Willst Gesundes vom Kranken trennen,
Irrt dein Sinn oder lügt dein Mund?
Was ist krank?! Was ist gesund?!
Richter, eh du den Stab gebrochen,
Hat keine Stimme in dir gesprochen:
Ist das Gute denn nicht schlecht?
Ist das Unrecht denn nicht Recht?
Mensch, eh du einen Glauben verwarfst,
Weißt du denn auch, ob du es darfst?
Wärest du tief genug nur gedrungen,
Wär dir derselbe Quell nicht entsprungen?
Keiner ahnet, was er verbricht,
Keiner die Schuld und keiner die Pflicht.
Darfst du leben, wenn jeder Schritt
[105]
Tausend fremde Leben zertritt,
Wenn du nicht denken kannst, nichts erspüren,
Ohne zu lügen, zu verführen!
Wenn dein bloßes Träumen Macht ist,
Wenn dein bloßes Leben Schlacht ist,
Dunkles Verderben dein dunkles Streben,
Dir selbst verborgen, so Nehmen wie Geben!
Darfst du sagen »Ich sehe«?
Dich rühmen »Ich verstehe«?
Dem Irrtum wehren,
Rätsel klären,
Du selber Rätsel,
Dir selber Rätsel,
Ewig ungelöst?!
Mensch!
Verlornes Licht im Raum,
Traum in einem tollen Traum,
Losgerissen und doch gekettet,
Vielleicht verdammt, vielleicht gerettet,
Vielleicht des Weltenwillens Ziel,
Vielleicht der Weltenlaune Spiel,
Vielleicht unvergänglich, vielleicht ein Spott,
Vielleicht ein Tier, vielleicht ein Gott.
– – – – – – – – – – – – – – –
Wohl mir, mein müder Geist
Wird wieder Staub,
Wird, wie der Weltlauf kreist,
Wurzel und Laub;
Wird sich keimenden Daseins freuen,
Frühlingstriebe still erneuen,
Saftige Früchte zur Erde streuen;
Freilich, sein spreitendes Dach zu belauben,
Wird er andern die Säfte rauben,
Andern stehlen Leben und Lust:
Wohl mir, er frevelt unbewußt!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Hofmannsthal, Hugo von. Gedichte. Die Gedichte 1891-1898. Sünde des Lebens. Sünde des Lebens. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-780C-7