Hugo von Hofmannsthal
Blick auf Jean Paul

1763–1913

[434] Geht der Blick hundertfünfzig Jahre nach rückwärts, so trifft er den Lebensanfang dieses Dichters, der einst den Deutschen so teuer war, geht er um ein Jahrhundert zurück, seine volle Gewalt und überschwengliche Berühmtheit, ein halbes Jahrhundert, seine Geringschätzung und drohende Vergessenheit. Aber auch heute lebt sein Werk noch fort, wenn es auch nur ein dämmerndes Halbdasein ist. Ein wesenhaftes, geistiges Leben, in der Sprache ausgeprägt, ist niemals völlig abgetan, und wie eben in der Überlieferung eines großen Volkes alles da ist, »Stärke und Schwäche, Keime, Knospen, Trümmer und Verfallenes neben-und durcheinander«, so sind auch diese Werke da, und wenn der Blick auf sie fällt, scheinen sie widerzublicken und den Betrachtenden zu binden mit der Zauberkraft, die von jedem Leben ausgeht und ihm verliehen wurde zum Ersatz dafür, daß es ein Einmaliges, Nichtwiederkommendes ist.

Wer sich aber einlassen will mit diesen seltsamen Lebensgängen und barocken Zusammenfügungen, die zu durchlaufen unseren Großeltern so leicht und süß schien, dem widersteht das Ganze, und ihn verwirrt auch das Einzelne. Die Zusammenfügung ist lose, die Handlung zugleich dürftig und sonderbar, die Gestaltung schwach. In einem war dieser Dichter, den die Mitwelt den Einzigen nannte, den ein Herder über Goethe stellte, groß; herrlich nennt ihn der strenge Grillparzer in diesem einen: im Abspiegeln innerer Zustände. Uns aber ist zuerst auch in diesem einen das Überschwengliche befremdlich, bis das Seelenhafte und trotz allem Wahre uns überwältigt. Vielleicht ist uns dieser Überschwang darum so fremd, weil wir heute in einem anderen Überschwang, diesem entgegengesetzt, befangen sind. Das in Freude und Wehmut ausschweifende Ich ist selten unter uns, desto häufiger ein dumpfes, beschwertes, ängstlich-selbstsüchtiges Wesen. Das Aufgeschlossene, die grenzenlos gesellige zarte Gesinnung ist uns verloren, statt dessen sind wir in die Materie zu viel und zu wenig eingedrungen, das allseitig Bedingte zieht uns in einen trostlosen Wirbel – das doch im geheimen auch allseitig frei ist, erkennten wir es nur so tief –, wir sind wahrhaftig jene, »Anachoreten in der Wüste des Verstandes, auf denen schwer das Geheimnis der Mechanik liegt«. Solchen Wechsel schaffen die Umstände der Zeit, die für das Ganze das sind, was für den Einzelnen die leibliche Verfassung. Die geistigen Ab- und Ausschweifungen wechseln von Geschlecht zu Geschlecht, aber auch ihr Rückstand und Bodensatz, das Gewöhnliche und Alberne, das, worin die Naivität und Beschränktheit einer Zeit liegt, wechselt bis zur Unbegreiflichkeit; darum gibt es kein Fern und Nah bei der Betrachtung der Vergangenheit, alles ist schwankend und unmeßbar, das Geistige in dem Individuum von 1830 uns ganz nahe, das Fratzenhafte der Epoche uns ganz fern; daß auch unsere eigene Zeit den Nachlebenden ein solches Gesicht zeigen wird, müssen wir einsehen, ohne es begreifen zu können.


Jean Paul teilte seine Gemälde in die italienischen und die niederländischen; eine dritte Weise, die deutsche, stellte er dazwischen, worin er beide zu verbinden suchte. In seiner italienischen Manier sind die großen Romane abgefaßt, in denen es um hohe Gegenstände und die großen Verknüpfungen des Lebens geht und die das Entzücken seiner Mitlebenden bildeten; in der niederländischen und deutschen die kleinen Gemälde der wehmütig-vergnügten Anmut und des dürftigen, eingeschränkten Lebens, worin auch für unseren Sinn neben dem Barocken das Zarte, Tiefsinnige und Unerwartete fast nicht zu erschöpfen ist. Den großen Romanen aber, »Titan«, »Hesperus«, deren Namen selbst die Geringschätzung der Jahrzehnte nicht völlig haben klanglos machen können, waren mehr oder minder lose jene unvergleichlichen Stücke eingefügt, die wahrhaftige Gedichte sind und die in einer Blütenlese zusammenzustellen immer wieder von solchen versucht werden wird, deren Sinn dem Schönen in der Dichtkunst aufgeschlossen ist. Denn wessen Geist das Schöne überhaupt erfaßt, der kann auch nicht an irgendeiner Art des Schönen stumpf vorübergehen. Diese Gedichte, ohne Silbenmaß, aber von der zartesten Einheit des Aufschwunges und Klanges, sind die Selbstgespräche und Briefe der Figuren, ihre Ergießungen gegen die Einsamkeit oder gegen ein verstehendes Herz, ihre Träume, ihre letzten Gespräche und Abschiede, ihre Todes- und Seligkeitsgedanken; oder es sind Landschaften, Sonnenuntergänge, Mondnächte, aber Landschaften und Mondnächte der Seele mehr als der Welt. Die deutsche Dichtung hat nichts hervorgebracht, das der Musik so verwandt wäre, nicht so Wehendes, Ahnungsvolles, Unendliches.

Bald ist es ein tönendes Anschwellen der Seele in einem erhabenen Traumgesicht, bald die Mittagswehmut oder die Beklommenheit der Dämmerung; es ist ein Zittern, ein Auseinanderfließen in träumende Ruhe, oder die Unendlichkeit einer letzten Begegnung, eines letzten Augenblicks, die Ahnung des Einganges der Welt und die vorausgeahnte Seligkeit des Vergehens.

In diesen Gesichten und Ergießungen ist die Ferne bezwungen, der Abgrund des Gemüts, den von allen Künsten nur die tönende ausmißt; in den niederländisch -deutschen Gemälden aber oder den Idyllen, wie man sie wohl nennen muß, ist es das Nahe, das mit einer unbegreiflichen Kraft seelenhaft aufgelöst und vergöttlicht ist. Auch diese kleinen Dichtungen, der »Siebenkäs«, der »Quintus Fixlein«, der »Jubelsenior« und vor allem das »Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auenthal«, sind fürs erste nicht leicht zu lesen. Hier gleichfalls ist in einer barocken Weise alles zusammengefügt und durcheinander hingebaut, alles ist Anspielung und Gleichnis, neuerfundene Wörter und absonderliche Kunstwörter, zusammengetragen aus der Sternkunde und Anatomie, der Gartenkunst oder dem Staatsrecht wie der Kochkunst; aber zwischen dem allen dringt etwas hervor, das wahre Poesie ist, vielleicht noch seltener und kostbarer als jene Ahnungen und Träume. Nach einer erhabenen Ferne strebt in Träumen und halben Träumen etwa auch ein zerrissenes und zweideutiges Gemüt, aber um das völlig Nahe in seiner Göttlichkeit zu erkennen, dazu bedarf es eines vor Ehrfurcht zitternden und zugleich gefaßten Herzens, denn eben weil es das Nahe und überall dicht an uns Herangedrängte ist, so überwächst sichs schnell mit der Dunkelheit des Lebens, geht wieder hin, wie nie geboren. So ist es mit dem Unsagbaren zwischen Eltern und Kindern, zwischen Mann und Frau, auch zwischen Freunden und miteinander Lebenden. Hier bedürfte es einer beharrenden Spannung des Herzens, der aber der Mensch ebensowenig fähig ist wie eines beständigen Gebetes. Nur in Aufschwüngen vermag er sich zu einem grenzenlos innigen Anschauen zu erheben, wo dann Groß und Klein, Vergänglich und Beständig als leere Worte dahinterbleiben. Die Jean Paulschen höchsten Momente sind dieser Art. Sie heften sich immer an das Kleine und Alltägliche; es ist in diesen idyllischen Erzählungen von nichts die Rede als von dem Gewöhnlichen der Leiblichkeit und der niedrigen Regungen des Geistigen, die fast wieder ins Leibliche fallen, den kleinen Eitelkeiten, Ängstigungen und Befriedigungen des Alltags. Der Leser hört viel von dem Zubehör der Kleidung, Bettzeug, Küchengerät und anderen Dürftigkeiten, womit vierundzwanzig Stunden des Alltags und der Raum zwischen Stubenwand und Fensterscheiben ausgefüllt sind. Aber dem Blick des Gemüts, der zart und gespannt genug ist, auf stummen Nichtigkeiten und Wehmut und Zärtlichkeit zu verweilen, steht ein redender Himmel offen, wenn bloß nur in einem alten Gesicht das Kindergesicht sich aufschlägt, worin das Unsagbarste uns auf die Seele fällt und Leben und Tod ineinandergehen. Diese beharrliche liebende Betrachtungskraft – von wie vielen vergeblich nachgeahmt, nicht nur dem zarten Stifter, sondern auch dem strengen Hebbel, dem witzigen Heine – trägt den Segen in sich, daß vor ihr wie das Häßliche so auch der Schmerz sich auflöst, ja die Nichtigkeit des Daseins selber sich vernichtigt: so wirkt sie, woran aller Schwung und Tiefsinn des angespannten Denkens scheitert: die kleine Wirklichkeit unseres Lebens liegt in diesen Dichtungen tröstlich da und umfriedigt. Diese Bücher und die in ihnen webende Gesinnung mögen halb vergessen sein und allmählich noch mehr in Vergessenheit geraten, wie leicht möglich ist, es ist gleichwohl in ihnen etwas vom tiefsten deutschen dichterischen Wesen wirkend, das immer wieder nach oben kommen wird: das Nahe so fern zu machen und das Ferne so nah, daß unser Herz sie beide fassen könne.


Notes
Erstdruck in: Neue Freie Presse (Wien), 23.3.1913.
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TextGrid Repository (2012). Hofmannsthal, Hugo von. Blick auf Jean Paul. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7834-B