Das Traumbild

Wo bist du, Bild, das vor mir stand,
Als ich im Garten träumte,
Den Rosmarin ins Haar mir wand,
Der um mein Lager keimte;
Wo bist du, Bild, das vor mir stand,
Mir in die Seele blickte,
Und eine warme Mädchenhand
An meine Wange drückte?
Nun such' ich dich, mit Harm erfüllt,
Bald bey des Dorfes Linden,
Bald in der Stadt, geliebtes Bild,
Und kan dich nirgends finden.
Nach jedem Fenster blick' ich hin,
Wo nur ein Schleyer wehet,
Und habe dich, o Lieblingin,
Noch nirgends ausgespähet.
Komm' selber, süßes Bild der Nacht,
Komm', mit den Engelsminen,
Und mit der leichten Schäfertracht,
Worin du mir erschienen.
Bring' mit die schwanenweiße Hand,
Die mir das Herz gestohlen,
Das purpurrothe Busenband,
Das Sträuschen von Violen.
[64]
Dein großes, blaues Augenpaar,
Woraus ein Engel blickte,
Die Stirne, die so freundlich war,
Und guten Abend nickte.
Den Mund, der Liebe Paradies,
Die kleinen Wangengrübchen,
Wo sich der Himmel offen wies,
Bring' alles mit, mein Liebchen!
[65]

Notes
Entstanden 1771. Erstdruck in: Musenalmanach 1775, Göttingen (J.C. Dieterich). Entstanden 1774. Erstdruck in: Musenalmanach für das Jahr 1776. Von den Verfassern des bish. Götting. Musenalmanachs. Herausgegeben von Johann Heinrich Voss, Lauenburg (Berenburg).
License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hölty, Ludwig Christoph Heinrich. Das Traumbild. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7E4C-3