Der rechte Gebrauch des Lebens

Wer hemmt den Flug der Stunden? Sie rauschen hin
Wie Pfeile Gottes! Jeder Sekundenschlag
Reißt uns dem Sterbebette näher,
Näher dem eisernen Todesschlafe!
Dir blüht kein Frühling, wenn du gestorben bist;
Dir weht kein Schatten, tönet kein Becherklang;
Dir lacht kein süßes Mädchenlächeln,
Strömet kein Scherz von des Freundes Lippe!
Noch rauscht der schwarze Flügel des Todes nicht!
Drum hasch die Freuden, eh sie der Sturm verweht,
Die Gott, wie Sonnenschein und Regen,
Aus der vergeudenden Urne schüttet!
Ein froher Abend, welchen der heitre Scherz
Der Freundschaft flügelt, oder das Deckelglas;
Ein Kuß auf deines Mädchens Wangen,
Oder auf ihren gehobnen Busen;
Ein Gang im Grünen, wann du, o Nachtigall,
Dein süßes Maylied durch die Gesträuche tönst,
Wägt jeden Kranz des Nachruhms nieder,
Den sich der Held und der Weise wanden!
Der Kuß, den mir die blühende Tochter giebt,
Ist süßer, als die Küße der Enkelin,
Die sie dem kalten Hügel opfert,
Wo ich den eisernen Schlummer schlafe.
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Notes
Entstanden 1775. Erstdruck in: Musenalmanach für 1777. Herausgegeben von Johann Heinrich Voss, Hamburg (C.E. Bohn).
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hölty, Ludwig Christoph Heinrich. Der rechte Gebrauch des Lebens. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7E90-5