An Sangrich

Noch wohnet Unschuld, die von der Marn' entfloh,
In deutschen Mädchen. Tugend und Sanftmuth blickt
Aus ihren großen blauen Augen,
Wo sich der Engel, die Seele, spiegelt.
Nicht Purpurrosen, welche die Schminke schafft,
Entknospen auf den Wangen der Mädchen sich;
Die mögen auf den Wangen Deiner
Töchter, Lutetien, sich entfalten!
Die süße Röthe schüchterner Sittsamkeit
Umströmt ihr Antlitz, wenn sich der Jüngling naht,
Den ihre Seelen lieben, und dann
Blicke den Blicken entgegenschmachten.
Ein freudenseelig Lächeln entschwebet oft
Den Grübchen ihrer Wangen und blitzet flugs
Ein Eden in die Brust – – O Wonne!
Wonne dem Sänger der deutschen Mädchen!
Sie lieben deutsche Lieder, beseelen oft
Klavier und Laute, gießen den Silberstrom
Des Zaubersangs darinn – – O Wonne!
Wonne dem Sänger der deutschen Mädchen!
Sey, Freund, ihr Sänger! Mutter Natur verlieh
Dir zart Gefühl und zaubernden Harfengriff;
Es wandeln sich ob Deinen Liedern
Stürme des Busens ins Westgesäusel.
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Besing die Wonnen, welche die Liebe giebt,
Der Tugend Schwester, wenn sich der Geist besäuft,
Durch tausend Irren schwankt, dem offnen
Himmel der Himmel entgegentaumelt.
Lobpreis' auch Unschuld, Unschuld, den Genius
Der deutschen Mädchen; Sänger, Dein süßes Lied
Soll einst das Mädchen wirbeln, das mich
Künftig, so flüstert mein Engel, liebet;
In Blüthenlauben wirbeln, wenn Dämmerung
Beströmt mit Röthe winket – – Wir kosen dann
Den Abendstern ins Meer hinunter,
Kosen von Dir und unsrer Freundschaft.
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Notes
Entstanden 1772. Erstdruck in: Archiv für Literaturgeschichte, 7. Jg.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hölty, Ludwig Christoph Heinrich. An Sangrich. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7EEE-6