[281] Romanzen

Verliebtes Rätsel

Gefächelt von der Lüfte Schwingen,
Zeigt's deiner Lippen hohe Rosenglut
Und knistert leis, wie deine Lippen singen,
Wenn ein geheimer Traum bewegt dein Blut.
Nun schweigt das Knistern, stirbt die Röte,
In tiefe Nacht versinkt der Fünklein Tanz;
Nun ist es tot und schwarz; was überböte
Die Schwärze als dein Haar im Morgenglanz?
Noch warm, nehm ich die zarte Leiche
Und schreib auf deines Flurs besonnten Stein
Ihr art'ges Leben, dem das deine gleiche,
So hoch erglühend und so schlicht und rein:
»Ich war ein Bäumlein auf den Rainen,
Mein Mark war weich und weiß, die Blättlein grün,
Ich sah die Sonne feurig niederscheinen,
Dann brannt ich selber, selig im Verglühn.
Was von mir blieb, zeigt noch die Triebe
Der Adern und der Jahresringe Lauf;
Schreib froh mit mir, Poet! den Preis der Liebe
Und brauch mich ganz zu deinem Liede auf!«

[282] Vergleich

O ein Glöcklein klingelt mir früh und spät
Silbernen Schalles in die Seele hinein,
Zart wie ein Luftlied, welches von Osten weht,
Unermüdlich plaudernd, melodisch rein!
Aber wandl' ich es um zum Becherlein,
Kehr ich es um und häng es an meinen Mund,
Trinke daraus den allersüßesten Wein:
Schweigt das Glockenbecherchen zur Stund,
Hält sich stille, solang ich trinken mag,
An meinen durstigen Lippen verhallt sein Rand,
Tönet jedoch wieder mit hellem Schlag,
Kaum ich es der innigen Haft entband.
Glas und Glöcklein ist, mein Engelchen!
Mir dein Mündchen ohne Rast und Ruh,
Und das Zünglein drin das Schwengelchen,
Das nie schweigt, als wenn ich dich küssen tu!

Ehescheidung

Zum Pfäffel kam ein Pärchen und schrie:
»Geschwinde laßt uns frein!
Wir können nicht eine einzige Stund
Mehr ohne einander sein!«
Und aber ein Jährlein kaum verstrich,
Sie liefen herbei und schrien:
»Herr Pfarrer, trennt und scheidet uns,
Laßt keine Minute verziehn!«
[283]
Das Pfäfflein runzelte sich und sprach:
»Macht euch die Scham nicht rot?
Wir haben es alle drei beschworn:
Euch trenne nur der Tod!« –
»Rot macht die Scham, doch Reue bleich!
Herr Pfarrer, gebt uns frei!«
Der Mann bot einen Beutel dar,
Die Frau der Beutel zwei.
Da tat das Pfäffel zwischen sie
Ein Kätzelein, heil und ganz;
Der Mann, der hielt es bei dem Kopf,
Die Frau hielt es am Schwanz.
Der Pfaff mit großem Messer hieb
Das Kätzelein entzwei:
»Es trennt, es trennt, es trennt der Tod!«
Da waren sie wieder frei.

Die Aufgeregten

Welche tief bewegte Lebensläufchen,
Welche Leidenschaft, welch wilder Schmerz!
Eine Bachwelle und ein Sandhäufchen
Brachen aneinander sich das Herz!
Eine Biene summte hohl und stieß
Ihren Stachel in ein Rosendüftchen,
Und ein holder Schmetterling zerriß
Den azurnen Frack im Sturm der Mailüftchen!
[284]
In ein Tröpflein Tau am Butterblümchen
Stürzt' sich eine zarte Käferfrau,
Und die Blume schloß ihr Heiligtümchen
Sterbend über dem verspritzten Tau!

Aurelie

Wenn so goldrötlich dunkel
Mit schillerndem Gefunkel
Dein Haar in Ruhe liegt,
In Flechten reich gebunden,
Von Purpurband umwunden
Sich an die Wangen schmiegt:
Dann ist es uns der Ordnung Bild
Und streng gezogner Schranken,
Und wir ergehn uns friedlich mild
In zierlichen Gedanken.
Doch, wenn in ungebundner
Pracht es sich aufgetan,
Dann haucht ein unumwundner
Und wilder Geist uns an,
Wie wenn von Bergeshöhen
Die Feuerzeichen wehen
Und glühn von Tal zu Tal!
Die dunkle Flamme flüstert,
Die rote Seide knistert,
Nun ist dein Haar ein lohes
Und leidenschaftlich frohes
Hochwehendes Streitsignal!

[285] Seemärchen

Und als die Nixe den Fischer gefaßt,
Da machte sie sich abseiten;
Sie schwamm hinaus mit lüsterner Hast,
Hinaus in die nächtlichen Weiten.
Sie schwamm in gewaltigen Kreisen herum,
Bald oben, bald tief am Grunde,
Sie wälzt' mit dem Armen sich um und um
Und küßt' ihm das Rot vom Munde.
Drei Tage hatte sie Zeitvertreib
Mit ihm in den Meeresweiten,
Am vierten ließ sie den toten Leib
Aus ihren Armen gleiten.
Da schoß sie empor an das sonnige Licht
Und schaute hinüber zum Lande;
Sie schminkte mit Purpur das weiße Gesicht
Und nahte sich singend dem Strande.

Rot

»Blut ist ein ganz besondrer Saft!«

»Ich bin rot und hab's erwogen
Und verkünd es unverweilt!
Und geköpft sei jeder, welcher
Das Prinzip nicht mit mir teilt!«
Also in des Baders Stube
Hört ich einen, der dies sprach,
[286]
Eben als 'nem feisten Bäcker
Jener in die Ader stach.
Und des Blutes muntrer Bogen
Aus dem dicken drallen Arm
Fiel dem Sprecher auf die Nase,
Sie begrüßend freundlich warm!
Bleich entsetzt fuhr er zusammen,
Wusch darauf sich siebenmal;
Doch noch lang rümpft' sich die Nase,
Fühlt' noch lang den warmen Strahl.
Eine Ros' im Wetterscheine
Sah ich blühen brennend rot;
Einen Becher sah ich glühen,
Der noch tiefre Röte bot!
Aber rief etwa die Knospe
Vorher, daß sie rot wollt sein?
Schrie der junge grüne Weinstock:
Ich will geben roten Wein?
Nein, der ewig goldengrüne
Baum des Lebens tut das nie,
Das tut nur die ewig graue,
Graue Eselstheorie!
Manches Brünnlein mag noch springen
In das Gras mit rotem Schein;
Doch der Freiheit echter, rechter
Letzter Sieg wird trocken sein.

[287] Frühlingsbotschaft

Zum Gerichte rief der Frühling.
Und mit Strenge zu verfahren
Gegen ketzerisch verstockte
Übelsinnige Verzweiflung,
Haben Seine Heiligkeit
Bei der Sonne Glanz geschworen!
Und in grünem Feuer flammen
Alle Bäume nun auf Erden;
Jeder Baum ist eine Flamme!
Und geschürt sind alle Gluten,
Angefacht glühn alle Rosen,
Während die schismatisch grauen
Aufgelösten Nebelflocken
Klagend durch die Lüfte flattern,
Gleich verbrannter Ketzer Asche!
Doch der heilig ernste Himmel
Läßt sie ohne Spur verschwinden,
Und er schaut ins grüne Feuer
Mit erbarmungsloser Bläue.
Habt ihr jetzo unter euch
Einen schlimmen und verschrobnen,
Heuchlerischen und verstockten
Und verbohrten Hypochonder,
Der da zwischen Gut und Böse
Eigensinnig schwankt und zweifelt,
Weder warm noch kalt kann werden
Oder zu gerechtem Argwohn
Grund gibt, daß sein schwarzes Innres
Wohl ein ungeheures hohles,
Aufgeblasnes Schisma berge:
[288]
Diesen legt nun auf die Folter,
Diesen lasset nun bekennen!
Bindet ihn mit jungem Efeu,
Werft ihn nieder auf die Rosen!
Gießt ihm Wein auf seine Zunge,
Flüssig heißes Gold des Weines,
Das den Mann zum Beichten zwingt,
Glas auf Glas, bis er bekennt!
Zeiget sich ein Hoffnungsfunken,
Nur ein Funken heitren Glaubens,
Nur ein Strahl des guten Geistes:
O so stellt ihn auf zur Linken,
Zur Belehrung und zur Beßrung,
O so stellt ihn, wo das Herz schlägt,
Auf der Menschheit frohe Linke,
Auf des Frühlings große Seite!
Sollt es sich jedoch ereignen,
Daß das peinliche Verfahren
Nichts enthüllte, nichts verriete,
Was da nur der Rede wert –
Das Delirium des Rausches
Selbst nur eine dunkle Leere
Vor den Richtern offenbarte:
Schleunig laßt den Sünder laufen!
Jagt ihn stracks zur schnöden Rechten,
Wo Geheul und Zähneklappen,
Dummheit und Verdammnis wohnen!

[289] Die falsche Scham

Graulockig ein Mann und ein blöndlicher Fant,
Die gehen spazieren am sonnigen Strand,
Der Ältere spricht zu dem jüngeren Wicht:
»Was schneidest du für ein betrübtes Gesicht?«
Der klagt ihm, wie er ein Weib hielt wert,
Dem neulich er fruchtlos die Liebe erklärt,
Und wie nun verletzt seine stolze Brust,
Daß er den Mund nicht zu halten gewußt!
Und jener spricht: »Des Fährmanns Magd,
Siehst du, die über dem Strome ragt,
Gering und arm und der Zierde bar,
Und siehst auch mein ergrauendes Haar?
Glömm mir ein Fünklein Lieb zu ihr,
Laut rief' ich es von der Stelle hier,
Rief's laut in der Wellen tönenden Gang,
Mich dünkt' es der allerschönste Gesang!
Hoch schlug mir in meiner Jugend das Herz,
Und feurig schweifte das Aug allwärts;
Fromm hab ich so manches Geständnis gemacht,
Die ein' hat geweint und die andre gelacht.
Bei einer nur hab ich das Wörtchen verschluckt,
Wie sehr es auch sterbend im Herzen gezuckt.
Ich glaube, sie ahnt' es und lächelte fein;
Doch weiß ich nicht, sang's in ihr ja oder nein.
Und grämlich schwieg ich und ging in die Welt,
Schlug auf, brach ab mein Wanderzelt;
[290]
Auch oftmals kam ich wieder ins Land,
Wo stets ich die lächelnde Dame fand.
Der Sommer war warm und der Winter kalt,
Die Zeit verging, und wir wurden alt;
Als ich zum letzten Mal sie sah,
Lag sie im Leichenhemde da.
Die Augen starrten mich offen an,
Weil niemand liebend sie zugetan,
Doch auf den Lippen, bleich und tot,
Lag lieblich lächelnd noch der Spott.
Er schien zu sagen: 'O grober Mann,
Der so mit Worten geizen kann!'
Ich ärgerte und kränkte mich,
Daß ich beschämt von dannen schlich!«

Schlafwandel am Tage

Im afrikanischen Felsental
Marschiert ein Bataillon,
Sich selber fremd, eine braune Schar
Der Fremdenlegion;
Lang ist ihr wildes Lied verhallt
In Sprachen mancherlei,
Stumm glüht der römische Schutt am Weg,
Schlafend ziehn sie vorbei.
Unter der Trommel vorgebeugt
Der schlafende Tambour geht,
Es nickt der Kommandant zu Roß,
Von webender Glut umweht;
[291]
Es schläft die Truppe, Haupt für Haupt
Unter der Sonne gesenkt,
Von der Gewohnheit Eisenfaust
In Schritt und Tritt gelenkt.
Und was sonst in der dunklen Nacht
Das enge Zelt nur sieht,
Wird unterm offnen Himmelblau
Vom Wüstenlicht durchglüht.
Es spielt das schmerzliche Mienenspiel
Unglücklichen Manns, der träumt,
Von Gram und Leid und Bitterkeit
Ist jeglicher Mund umsäumt.
Es zuckt die Lippe, es zuckt das Aug,
Auf dürre Wangen quillt
Die unbemeisterte Träne hin,
Vom Sonnenbrand gestillt.
Sie schaun ein reizend Spiegelbild
Vom kühlen Heimatstrand,
Das grüne Kleefeld, rot beblümt,
Die Mutter, die einst den Sohn gerühmt,
Verlornes Vaterland!
Ein Schuß – da flattert's weiß heran,
Und schon steht das Quarré
Schlagfertig und munter, und keiner sah
Des andern Reu und Weh;
Nur zorniger ist jeder Mann
Und ihm willkommen der Streit;
Doch wie er kam, zerstiebt der Feind,
Wie Traum und Reu so weit!

[292] Trochäen

Wohl, ich saß im hohen Eschenbaume,
In der grünen Krone still verborgen,
Unterm Baume lag ein schönes Fräulein
Auf dem sonnbeglänzten Sand im Bade.
Auf dem Rücken lag sie unbeweglich,
Mit dem Köpfchen auf dem warmen Ufer,
Ihre Arme reglos drum geschlungen;
Doch die zarten Füße, sie verschwanden
In dem blauen Purpur des Gewässers.
Aber sichtbar wurde schon das Leuchten
Ihrer Kniee aus der klaren Feuchte,
Und wie Glas auf ihrem weißen Schoße
Unablässig floß die Welle weiter,
Und die Silberfischchen schwammen ruhig
Über ihre Hüften hin, erblinkend,
Wenn sie lässig ihre Flossen regten.
Auf des Stromes hellbeglänzte Breite
Sah die Schöne mit halboffnen Augen.
Kahl und einsam lag das andre Ufer,
Nicht ein menschlich Wesen zu erspähen.
Doch auf einmal kam ein Schiff gefahren
Mitten auf des Stromes heitrem Glanze;
Und ich sah das Schiff und sah die Schöne.
Sachte, sachte schloß sie ihre Augen,
Nicht sich regend, bis das Schiff vorüber.
Und die Schiffer fuhren in die Ferne,
Nur nach ihrem Ziel den Sinn gewendet. –
Triumphierend lächelte die Holde;
Denn das Äußerste zu wagen und ihm
[293]
Zu entgehen lieben stets die Frauen.
Doch sie ahnte nicht, daß ihr zu Häupten
Sie belauscht' ein arger Müßiggänger,
Den die Laune auf den Baum getrieben.
Und ich mußte mich zusammenfassen,
Nicht wie reife Frucht vom Baum zu fallen,
Während ich in meinem Sinn erwägte,
Was zum Heil der Schönen zu beginnen?
Schweigen, dacht ich, ist das Heil für alle;
Wenn ich schweig von dem, was ich gesehen,
Ist mir wohl und ihr nicht weh geschehen!

Jung gewohnt, alt getan

Die Schenke dröhnt, und an dem langen Tisch
Ragt Kopf an Kopf verkommener Gesellen;
Man pfeift, man lacht; Geschrei, Fluch und Gezisch
Ertönte an des Bieres trüben Wellen.
In dieser Wüste glänzt' ein weißes Brot,
Sah man es an, so ward dem Herzen besser;
Sie drehten eifrig draus ein schwarzes Schrot
Und wischten dran die blinden Schenkemesser.
Doch einem, der da mit den andern schrie,
Fiel untern Tisch des Brots ein kleiner Bissen;
Schnell fuhr er nieder, wo sich Knie an Knie
Gebogen drängte in den Finsternissen.
Dort sucht' er selbstvergessen nach dem Brot;
Doch da begann's rings um ihn zu rumoren,
Sie brachten mit den Füßen ihn in Not
Und schrien erbost: »Was, Kerl! hast du verloren?«
[294]
Errötend taucht' er aus dem dunklen Graus
Und barg das Brötchen in des Tischtuchs Falten.
Er sann und sah sein ehrlich Vaterhaus
Und einer edlen Mutter strenges Walten.
Nach Jahren aber saß derselbe Mann
Bei Herrn und Damen an der Tafelrunde,
Wo Sonnenlicht das Silber überspann
Und in gewählten Worten floh die Stunde.
Auch hier lag Brot, weiß wie der Wirtin Hand,
Wohlschmeckend in dem Dufte guter Sitten;
Er selber hielt's nun fest und mit Verstand,
Doch einem Fräulein war ein Stück entglitten.
»O lassen Sie es liegen!« sagt sie schnell;
Zu spät, schon ist er untern Tisch gefahren
Und späht und sucht, der treffliche Gesell,
Wo kleine seidne Füßchen stehn zu Paaren!
Die Herren lächeln, und die Damen ziehn
Die Sessel scheu zurück vor dem Beginnen;
Er taucht empor und legt das Brötchen hin,
Errötend hin auf das damastne Linnen.
»Zu artig, Herr!« dankt' ihm das schöne Kind,
Indem sie spöttisch lächelnd sich verneigte;
Er aber sagte höflich und gelind,
Indem er sich gar sittsamlich verbeugte:
»Wohl einer Frau galt meine Artigkeit –
Euch aber diesmal nicht, verehrte Dame!
Sie galt der Mutter, die vor langer Zeit
Entschlafen ist in Leid und bittrem Grame.«

[295] Die Winzerin

Am sonnig edlen Gartenhaus,
Da reifet Traub an Traube,
Die sanfte Schöne tritt heraus,
Prüft sinnend ihre Laube;
Dem blauen Blick der Schönen gleicht
Der Beeren dunkle Menge,
Wohin ihr freundlich Auge reicht,
Lacht freundliches Gedränge.
Rings lockt der Trauben stille Glut
Zu Häupten und zu Füßen,
Und sie beginnt mit stillem Mut
Zu schneiden all die süßen;
Und wie sie mit der lieben Hand
Die goldnen Blätter teilet,
Im Fluge über See und Land
Schweift hin der Blick und weilet.
Wie eine reife Beere glänzt
Ihr feuchtes Aug hinüber,
Wo's blaut und leuchtet unbegrenzt
So fern, so fern herüber;
Sie lässet still und ahnungsvoll
Die schweren Trauben sinken,
Bis es in Körben reizend schwoll
Mit tausendfachem Blinken.
Sie wandelt hin und wandelt her
Geschäftig durch den Garten,
Bis all die Körbe, früchteschwer,
Gereiht der Kelter warten.
Die Kelter ist gar reich gebaut,
[296]
Recht für der Schönen Hände;
Von Silber man die Spindel schaut,
Von Rosenholz die Wände.
Sie steht auf einem Marmortisch.
Die Winzerin beginnet,
Daß aus der Kelter süß und frisch
Das Blut der Traube rinnet;
Wie reg der weißen Arme Zier
Mit holder Kraft sich mühet!
Sie keltert, bis die Wange ihr
In dunklem Purpur glühet.
Sie keltert, daß der Busen fliegt
Und woget ungemessen,
Umsonst – was ihr im Sinne liegt,
Das kann sie nicht vergessen!
Umsonst – und wie die Krüge sie
Mit edlem Moste füllet:
Sie selber hat den Durst noch nie,
Das Sehnen nie gestillet.
Sie läßt den süßen Feuersaft
Verschlossen in sich gären,
In kühler Nacht zu milder Kraft,
Zum seltnen Wein verjähren;
Den trägt sie zu den Hütten hin
Wohl auf und ab im Tale,
Sie reicht der armen Wöchnerin,
Dem kranken Greis die Schale.
So keltert sie den Edelwein
Im Herbst seit manchen Jahren.
Ein Segel kommt im goldnen Schein
[297]
Des Abends fern gefahren,
Ein Schifflein legt im Hafen an,
Sie hört die Schiffer singen,
Und einen hochgemuten Mann
Sieht sie ans Ufer springen.
Sie kennt ihn und sie kennt ihn nicht,
Sie starrt hinaus ins Weite,
Als es mit trauter Stimme spricht
Und grüßt schon ihr zur Seite.
Die holden Klänge mischen sich,
Das Wort hier, dort die Lieder:
»Ratlos verließ der Knabe dich,
Ein Mann kehrt dir nun wieder!
O schau, wie leuchtet's weit und breit,
Wie klar der Tag, die Stunde!
Und reif die schönste Weiblichkeit
Küßt mich von deinem Munde!«
Da ist in seine Arme hin
Sie wonnevoll gesunken,
Und weinend hat die Winzerin
Zum ersten Mal getrunken.

Notizen
Die »Romanzen« fehlten in der Ausgabe von 1851.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Romanzen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-98AE-8