[40] Winter

1

Wie zieht das finster türmende
Gewölk so kalt und schwer!
Wie jagt der Wind, der stürmende,
Das Schneegestöber her!
Wo sonst die Venus funkelte,
Ist es nun grau und tot;
Ich denk in das verdunkelte
Westland das Abendrot!
Verschwunden ist die blühende
Und grüne Weltgestalt;
Es eilt der Fuß, der fliehende,
Durchs Schneefeld naß und kalt.
Wohl dem, der nun zufrieden ist
Und innerlich sich kennt,
Dem warm ein Herz beschieden ist,
Das heimlich loht und brennt,
Wo, traulich sich dran schmiegend, es
Die stille Seele schürt,
Ein sprudelnd übersiegendes
Gedankensüpplein rührt!

[41] 2

Verschlossen und dunkel ist um und um
Mein winterlich Herze zu schauen,
Doch innen, da ist es erleuchtet und hell,
Da dehnen sich grünende Auen.
Da stell ich den Frühling im kleinen auf
Mit Rosengärten und Bronnen,
Da spann ich ein liebliches Himmelblau aus
Mit Regenbogen und Sonnen!
Da zünd ich das Morgen- und Abendrot an
Und lasse die Nachtigall schlagen,
Da lasse ich singende Jungfräulein gehn,
Die meergrüne Kleider tragen!
Dann ändr' ich die Szene und lasse mit Macht
Den blitzenden Sommer erglühen,
Ich lasse die Schnitter auf Garben ruhn
Und blutrote Mohnfelder blühen.
Und dann durchschneid ich mit Wetterschein
Mein Herz und füll es mit Stürmen,
Laß Schiffe und Mannschaft zu Grunde gehn,
Dann »Feuer« von Bergen und Türmen!
Hei, Revolutionen und Mordgeschrei,
Mit Galgen und Guillotinen,
Geköpfte Könige, wahnsinnig Volk,
Konvente und Höllenmaschinen!
Nun ist mein Herze der Grèveplatz,
Voll Pöbel und blutige Leichen;
[42]
Ich sehe mich selber im dicksten Troß
Erschrocken und totenblaß schleichen.
Der Draht ist gebrochen an meiner Figur,
Ich kann mich nicht mehr entziehen;
Es wird mir bang, und ich lasse das Bild
Mit all seinen Schrecken entfliehen.
Ich schüttle die Tannen wie Besenreis
Und fege das Laub von den Wäldern,
Ich lösche am Himmel die Sterne aus
Und senge das Gras auf den Feldern.
Wenn alles erstorben und stille ist,
Dann trag ich mich selber zu Grabe
Und stecke ein schwarzes Kreuzlein darauf,
Das ich selbsten geschnitzelt habe.
So spiel ich den langen Winter hindurch;
Doch wenn die Maiblumen sprossen,
Zerbrech ich das gläserne Puppenspiel
Und mache den Dichter im großen!

3

Der Winter ist eine ehrliche Haut,
Ein alter Poldrian;
Wie zornig er mir ins Auge schaut,
Blick ich ihn wiederum an!
Sein Blut ist kühl und starr wie Eis,
Doch nie seine Treue wankt;
Wie oft hab ich mich nächtlicherweis
Mit ihm herumgezankt!
[43]
Da rüttelt er mir am Gartentor
Und stampft auf den Beeten herum,
Er schimpft mich einen sanguinischen Tor,
Leichtgläubig und herzlich dumm!
Viel Hoffnungen zieh ich in Scherben auf
Am kalten Sternenschein,
Da ist er besonders versessen drauf
Und stürmt auf sie herein.
Ich balge mich immer, so gut ich kann,
Um jedes grüne Reis;
Er aber entrupft sie, der harte Mann,
Den Scherben büschelweis.
Doch die mir der Alte stehenläßt,
Die sind erprobt und gefeit!
Die sind gelenzet und frühlingsfest
Und der Erfüllung geweiht!

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Winter. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9A3E-3