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Sieh! kaum glimmt des Stromes Spiegel
Silbermatt im Dämmerlicht,
Und schon schlägt die Sammetflügel
Mir ein Falter ins Gesicht!
Sieh den Abendstern dort blinken
Ungewöhnlich schön und hell!
Lieblich ist und klar zu trinken
Dieser Nachtluft kühler Quell.
Komm heraus, du junges Leben!
Komm, so leis dein Fuß dich trägt!
Recht in Lieb und Traum zu schweben
Wär ich jetzo aufgelegt.
Und ich habe dir zu Ehren
Einen guten Freund gebracht:
Er will uns die Minne lehren
Durch die kurze Sommernacht.
Liebeslieder sollen schallen,
Die vor siebzig Jahren schon
Unsern Mütterlein gefallen;
Rein klingt ihrer Weise Ton.
Laß uns einmal rückwärts fliegen
In die Zeit, die still und fern!
Dieser Laune dich zu schmiegen,
Weiß ich, tust du zwiefach gern! –
– »Sie kommt nicht?« fragt mein Begleiter,
»Und schon wird es morgenrot!« –
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Ach, 's ist wahr! so sag ich weiter,
Denn sie ist, wie du, schon tot!
Armer Hölty! Du kannst gehen!
Traurig such dein kühles Haus!
Sieh, das frische Morgenwehen
Lacht uns alte Kinder aus!

Notes
Entstanden 1845. Erstdruck 1846.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. 27. [Sieh! kaum glimmt des Stromes Spiegel]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9B51-B