[7] Natur

Abendlied an die Natur

Hüll mich in deine grünen Decken
Und lulle mich mit Liedern ein!
Bei guter Zeit magst du mich wecken
Mit eines jungen Tages Schein!
Ich hab mich müd in dir ergangen,
Mein Aug ist matt von deiner Pracht;
Nun ist mein einziges Verlangen,
Im Traum zu ruhn durch deine Nacht.
Der Kindesaugen freudig Leuchten
Schon fingest du mit Blumen auf,
Und wollte junger Gram sie feuchten,
Du legtest weiche Lindrung drauf.
Ob wildes Hassen, maßlos Lieben
Mich seither auch gefangen nahm,
Bin ich doch immer Kind geblieben,
Wenn ich zu dir ins Freie kam!
Geliebte, die mit ew'ger Treue
Und ew'ger Jugend mich erquickt,
Du einz'ge Lust, die ohne Reue
Und ohne Nachweh mich entzückt!
Sollt ich dir jemals untreu werden,
Dich kalt vergessen, ohne Dank:
Dann ist mein Fall wohl nah auf Erden,
Mein Herz verdorben oder krank!
[7]
O steh mir immerdar im Rücken,
Bin ich im Feld mit meiner Zeit!
Mit deinen hellen Mutterblicken
Ruh auf mir, auch im wärmsten Streit!
Und sollte mich mein Stündlein finden,
Schnell decke mich mit Rasen zu!
O selig Sterben und Verschwinden
In deines Urgrunds tiefste Ruh!

Notes
Entstanden 1845. Erstdruck 1846.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Abendlied an die Natur. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9C2A-0