Denker und Dichter

1

Wohlan, ihr neunmal Weisen!
Ich fordre euch heraus!
Baut ihr aus Stahl und Eisen
Und Marmor euer Haus:
Bau ich aus Rosendüften
Und Mondschein mir ein Schloß;
Drin biete ich euch allen Hohn
Und eurem Schülertroß!
Die goldnen Sonnenstrahlen
Sind meine Lanzen scharf;
Die Blumen in den Talen
Sind all mein Schießbedarf!
Die Tannen auf den Bergen
Sind meine Wächtersleut,
Des Himmels Sterne allzumal
Mein glänzend Heer zum Streit.
[149]
Mein Oberstfeldzeugmeister
Ist meine Phantasie,
Denn ihre guten Geister
Verließen mich noch nie;
Und meine Kriegeskasse
Der Quellen Silberschaum,
Mein lustig säuselnd Lagerzelt
Des Waldes grüner Baum!
Und meine Siegsstandarte,
Die ist das Morgenrot!
Und meine Feldherrnkarte,
Die ist das Abendrot!
Mein Tambour ist der Donner,
Der in den Bergen rollt,
Trompeter ist der wilde Sturm,
Der auf den Meeren grollt.
Die Wolken sind Trabanten,
Die meine Stimme ruft,
Und meine Adjutanten
Die Adler in der Luft.
Die fliegen und die spähen
Hinaus in alle Welt.
Mein Dichterherz ist Feldmarschall,
Das ist ein guter Held.
Ich schicke dir entgegen,
O Feind! die Nachtigall:
Die bringt mit ihren Schlägen
Dich alsogleich zu Fall.
Ich werde lassen spielen
Mein duftendes Geschütz,
Und euer Eis vergehen soll
An meiner Waffen Blitz.
[150]
Gott hat zu seinem Zeugen
Erschaffen den Gesang,
Der wird nun nimmer schweigen
Die Ewigkeit entlang.
In seinen Zauberwellen
Versinkt der letzte Spott!
Solange noch ein Dichter singt,
So lange lebt auch Gott!

2

Nein! – zwischen uns soll Friede sein,
Ich stell die weiße Fahne auf,
Daß in geharnischtem Verein
Wir fahren einen Siegeslauf!
Voran! voran! ihr Bittern,
In fegenden Gewittern!
Wir aber ziehen hintendrein
Mit klar gestimmten Zithern!
Ihr seid die feuerschwangre Kraft,
Die Luft und Erde reinigt,
Sprengt den entlaubten Eichenschaft,
Der dorrend überm Abgrund steht.
Doch funkelnd aufgezogen
Sind wir der Regenbogen,
Der nach dem Sturm am Himmel lacht,
Wenn aller Dunst verflogen.
Ihr seid des Winters kalter Graus,
Verjagt das schwüle Heidentum,
Ihr jätet Dorn und Distel aus
Und pflügt den starren Acker um.
[151]
Doch wir auf Lenzesschwingen,
Mit Spielen und mit Singen,
Wir müssen in die Furche dann
Den neuen Samen bringen!
Ihr seid die Vorhut und die Wacht,
Die sengt und brennt in Feindes Land,
Und ihr durchkreuzt die schwarze Nacht
Mit gleißend rotem Fackelbrand.
Von der Posaunen Schallen
Ist Jericho gefallen:
Vor eurem Hauche stürzen selbst
Des Himmels hohe Hallen!
Dann aber folgt die Dichterschar,
Die einen neuen Himmel baut,
Darinnen man im Lichttalar
Den alten Gott der Liebe schaut.
Voran, voran, ihr Bittern,
In fegenden Gewittern!
Wir ziehen heilend, segnend nach
Mit klar gestimmten Zithern.

Lizenz
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link zur Lizenz

Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Denker und Dichter. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9C8F-C