Morgen

1

Sooft die Sonne aufersteht,
Erneuet sich mein Hoffen
Und bleibet, bis sie niedergeht,
Wie eine Blume offen!
Dann schlummert es ermattet,
Geduldig mit ihr ein;
Doch wacht es fröhlich wieder auf
Mit ihrem ersten Schein!
Das ist die Kraft, die nie erstirbt
Und immer wieder streitet,
Das gute Blut, das nie verdirbt,
Geheimnisvoll verbreitet.
Solang noch Morgenwinde
Auf Erden festlich wehn,
Wird auch der Freiheit Priesterstamm
Nie gänzlich untergehn!

[8] 2

Fahre herauf, du kristallener Wagen,
Klingender Morgen, so frisch und so klar!
Seidene Wimpel, vom Ostwind getragen,
Flattre, du rosige Wölkleinschar!
Siehe die Meere, sie schaukeln und branden,
Fröhlich die Brise vom Morgenland weht,
Sühnend erfunkelt der Tau auf den Landen,
Weihbrunn zum heiligen Sonnengebet.
Tausendfach wollen die Blumen entriegeln
Aus ihrer Brust den gefangenen Gott;
Doch die vergoldeten Kreuze bespiegeln
Sich auf den Domen mit gleißendem Spott!
Singen nicht Lerchen dort hoch in den Lüften,
Schwenkend und ziehend im freudigen Zug?
Nein, aber aufwärtsgeschwungen aus Grüften,
Sonnt sich ein kreischender Rabenflug!
Springt nicht ein Fischlein aus silberner Welle,
Das sich am lieblichen Lichte erfreut?
Ja, 's ist ein Hecht, der mit tückischer Schnelle
Seinen täglichen Raub nur erneut!
Fahre hinüber auf klingenden Speichen,
Glänzender Morgen! noch ist es nicht Zeit;
Rosige Wimpel, und ihr mögt erbleichen!
Weh mir! schon weht ihr so blaß und so weit!
Fahre! – es träumet ein Riese auf Erden,
Dem es gar ahnend im Ohre erklingt.
[9]
Auf springt er einst, in den Zügel den Pferden,
Die zum Stehn der Gewaltige zwingt.
Heißt dann die Freiheit dem Wagen entsteigen
Mit ihrer ganzen herrlichen Fracht.
Mag sich die Sonne nur heben und neigen:
Schön ist der Tag dann und glücklich die Nacht!

3

Nun, da diese alten Herrn
Tief im Rausche sanken,
Oben auch von Stern zu Stern
Morgennebel schwanken:
Rücken wir zusammen
Unterm Gartentor.
Jetzt in neue Flammen
Schlägt die Lust empor!
Daß der junge Sonnenball,
Rollt er auf den Hügeln,
Sich im funkelnden Kristall
Fröhlich mag bespiegeln:
Halten wir entgegen
Becher ihm und Glas!
Fließe, goldner Regen,
Glühe, dunkles Naß!
Jungfrau! geh und sieh mir nach
Rings in allen Gärten,
Ob schon viele Rosen wach:
Bring die tauverklärten!
Rosen, Rosen bringe!
Rosenduft soll wehn!
[10]
Wenn ich trink und singe,
Will ich Blumen sehn!
Horcht! der erste Amselschlag
Schallet aus den Gründen!
Treue Wächter soll der Tag
Freudig in uns finden!
Wer wird denn vermissen
Eine Erdennacht,
Wenn sie sangbeflissen,
Heiter durchgewacht?
Tief ist meiner Freude Born,
Tiefer als das Leiden,
Doch es wacht der rote Zorn
Hell in ihnen beiden!
Darum lasset rinnen
Letztes Glas und Lied:
Zornig uns von hinnen
Nun die Freude zieht!

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Morgen. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9DE5-2