Bartholomäus und der junge Mann
(Einem Freunde)

Bartholomäus hatte ihn im Odeoncafé kennen gelernt. Das Café war ziemlich gefüllt und er mußte sich an einen Tisch setzen, an dem bereits ein junger Mann saß.

Er lüftete den in London gekauften Zylinder und fragte mit seiner leisen gepflegten Stimme:

»Ist hier ein Platz frei?«

Der junge Mann lächelte höflich, aber doch ein wenig verächtlich zu ihm und seinem Zylinder empor und sagte: »Bitte.«

Bartholomäus hörte aus dem Klang des einen Wortes sofort den eingeborenen Münchner heraus.

Er bestellte ein Erdbeereis mit Schlagrahm und prüfte unauffällig den jungen Mann, der ihn – er wußte nicht warum – stark zu beschäftigen begann.

Der junge Mann trug einen einfachen blauen, und dem Stoff nach zu urteilen, sehr wohlfeilen zweireihigen [88] Jackettanzug, der ihm mit einer ungewollten Eleganz zu Leibe stand.

In seinem rotbraunen kantigen Indianergesicht steckte eine Virginia zu zwölf Pfennig.

Zwei harte blaue Augen musterten mit einer heiteren und bestimmten Sachlichkeit bald den, bald die aus dem Publikum.

Die Kapelle spielte den Walzer aus dem Rosenkavalier.

»Eine nette Musik,« sagte der junge Mann und sprach das letzte Wort zu Bartholomäus herüber.

»Gewiß.« Bartholomäus pflichtete dem jungen Mann zuvorkommend bei.

»Es ist ein Walzer,« sagte der junge Mann. »Von wem wohl?«

»Von Strauß,« beeilte sich Bartholomäus Auskunft zu geben.

»Der Strauß hat noch mehr nette Walzer gemacht, zum Beispiel die Donauwellen,« setzte der junge Mann das Gespräch fort.

»Das ist ein anderer Strauß,« meinte Bartholomäus, »es gibt sehr viele Komponisten, welche Strauß heißen.«

»Eigentlich ist es ja auch gleichgültig wie die Leute heißen, welche Musik machen,« gab der junge Mann zu bedenken, »es ist nur gut, daß überhaupt Musik auf der Welt ist. Was hätten wohl die Menschen, wenn sie sterben [89] müßten, ohne einen Walzer gehört oder getanzt zu haben.«

»Sie tanzen gern?«

»So gern wie eine Frau.«

»Und Sie scheinen mir doch einer der männlichsten Männer, die mir je begegnet sind.«–

»Frauen tanzen immer für andere, ich tanze für mich selbst.«

»Wann haben Sie zuletzt getanzt?«

»Vor fünf Wochen.«

»Wo? Hier in München? Wo tanzt man hier?«

»In Buenos-Ayres.«

»Sie waren in Buenos-Ayres?«

»Ich komme direkt daher.«

»Direkt aus Buenos-Ayres in dies Café?«

»Direkt aus Buenos-Ayres in dies Café! Mein Gepäck – wenn ich mein Bündel Gepäck nennen darf – liegt noch auf dem Bahnhof.«

»Aber Sie sind doch Münchner ...«

»Gewiß ...«

»Verzeihen Sie die Neugierde: wo haben Sie in Buenos-Ayres getanzt? In einem Varieté?«

»Nein, im Spital.«

»Sie sind kein Berufstänzer?«

Der junge Mann lachte laut und ernsthaft.

[90] »Ich war Krankenpfleger. Ich habe den Sterbenden im Spital, ehe sie starben, noch einmal das Leben vorgetanzt.«

Bartholomäus klopfte sich mit den grauen Glacéhandschuhen nervös und nachdenklich auf die Schenkel.

»Verzeihen Sie,« sagte er endlich und betonte zögernd und wie ergriffen jedes Wort, »verzeihen Sie, wenn ich noch eine weitere Frage an Sie richte. Ich beginne, Sie als mein Schicksal zu ahnen. (Nicht zufällig trat ich an diesen Tisch ...) Alles, was ich je gedacht habe, das haben Sie getan. Sie sind recht eigentlich der, der mein Leben lebt. Ich denke es nur.– Wie alt sind Sie?«

»Siebzehn Jahr!« sagte der junge Mann und lächelte. Denn er verstand nicht viel von dem, was Bartholomäus sagte.

»Siebzehn Jahr!« echote Bartholomäus und versuchte, sich zu verwundern, »siebzehn Jahr! Mit wie viel Jahren sind Sie denn von Hause fort?«

»Mit vierzehn.«

»Ausgerückt?«

»Natürlich!«

»Und jetzt –?«

»Bin ich wieder hier!«

»Sie haben Recht: Sie sind wieder hier. Sie sind überall, wo Sie sind. Aber ich bin zum Beispiel nicht da, [91] wo ich bin. Ich sitze gar nicht hier auf meinem Stuhl.«

»Wo sind Sie dann, wenn ich fragen darf?« fragte der junge Mann belustigt und ließ seine silbernen Zähne glänzen.

»Mein Wille sitzt auf Ihrem Stuhl und nur mein Gedanke aß dieses Erdbeereis ... Aber das begreifen Sie nicht, und Sie sollen es auch nie begreifen –.«

Bartholomäus erhob sich.

»Ich habe noch eine Verabredung in der Bar mit dem Dichter Rainer Josefa Fintenfein. Hier ist meine Karte. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich einmal besuchen würden. Ich bitte Sie darum. Vielleicht kann ich Ihnen (und mir) ein wenig nützen. Guten Abend.«

Bartholomäus ließ sich von der Kellnerin den Pelz umlegen und verneigte sich leicht.

Der junge Mann sah ihm nach. Dann sah er auf die Visitenkarte, die Bartholomäus ihm gereicht hatte, schüttelte den Kopf und zündete sich eine neue Virginia an.


*


Bartholomäus lebte hinfort nur das Leben des jungen Mannes. Das heißt: er ließ sich sein Leben von dem jungen Mann erleben.

Er dachte: es wäre hübsch, jene Schauspielerin zu lieben. Und der junge Mann liebte sie.

[92] Er dachte: es wäre an der Zeit, nach Monte Carlo zu fahren.

Und der junge Mann fuhr nach Monte Carlo.

Der Dichter Rainer Josefa Fintenfein schrieb ein Sonett auf den jungen Mann, welcher im Spital von Buenos-Ayres den Sterbenden zwischen den Betten noch einmal das Leben vorgetanzt hatte.

Der Maler Ramsold Ruck malte ihn als Schiffsjunge mit einem Hintergrund von unerhört wundervollem Blau. Und dieses Blau sollte der südamerikanische Himmel sein.

Der Schauspieler Kalischer Bohnenblust spielte in seiner Maske den Hannibal in der Komödie »Hannibals Brautfahrt«.

Bartholomäus hatte alles dies erdacht, und zum erstenmal in seinem Leben wurden alle seine Gedanken zu Taten.

Er war eins mit sich, weil er eins mit dem jungen Mann war.


*


Als der Krieg ausbrach, wurde Bartholomäus von ihm wie von einer Sensation erfaßt.

Er meldete sich bei den leichten bayerischen Reitern als Kriegsfreiwilliger.

[93] Aber der schwer Herz- und Lungenkranke wurde als völlig dienstuntauglich bei der Musterung zurückgewiesen.

Der junge Mann zog an seiner Stelle ins Feld.

Und er sang ihm am letzten Abend zur Guitarre noch allerlei Lieder: deutsche und spanische und englische, und zum Schluß sang er das alte Soldatenlied:

»Ich weiß nicht, bin ich reich oder arm

Oder gehts mit mir zum Verderben?

Ich weiß nicht, komm ich noch einmal nach Haus

Oder muß ich vorm Feinde sterben ...«

Dann gab er ihm die Hand, sagte: »Adiö, Bartholomäus« und ging.


*


Als die Nachricht kam, daß er bei Souchez gefallen sei: durch Kopfschuß beim Sturmangriff –, da wußte Bartholomäus, daß er für ihn gestorben sei.

Er, Bartholomäus, hätte eigentlich so sterben müssen. Ihm war dieser Tod zugedacht.

Aber da er sein Leben nicht gelebt hatte, so war er auch seinen Tod nicht gestorben.

Er begriff, daß es keinen Zweck mehr für ihn habe, sich mit dem Dichter Rainer Josefa Fintenfein in der Odeonbar zu verabreden, im Kunstsalon Dietzel ein Bild von Ramsold Ruck zu kaufen und den Schauspieler Kalischer Bohnenblust in seiner neuesten Rolle zu betrachten.

[94] Er fuhr eines Tages nach Berchtesgaden.

Touristen begegneten ihm noch auf dem Wege nach dem kleinen Watzmann.

Dann wurde er nicht mehr gesehen.

Auch seine Leiche fand man nicht.

In den »Münchener Neuesten Nachrichten« hieß es, er sei wahrscheinlich in den Schroffen am Königssee abgestürzt.

[95]

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TextGrid Repository (2012). Klabund. Erzählungen. Der Marketenderwagen. Bartholomäus und der junge Mann. Bartholomäus und der junge Mann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-AB70-6