[6] Weissagung

An die Grafen Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg.


An der Eiche Sprössling gelehnt, von hellen
Düften umhüllt, stand die Telyn, und schnell
Erscholl sie von selbst; doch ich liess
Unerweckt sie mir erschallen.
Da entströmt' ihr rascher Verdruss, da zürnte
Wirbelnd ihr Ton! Eilend ging ich, und nahm
Die drohende, dass sie dereinst
Zum Vergelt nicht mir verstumte.
[7]
Aus des Rosses Auge, des Hufs Erhebung,
Stampfen des Hufs, Schnauben, Wiehern und Sprung
Weissagten die Barden; auch mir
Ist der Blick hell in die Zukunft.
Obs auf immer laste? Dein Joch, o Deutschland,
Sinket dereinst! Ein Jahrhundert nur noch;
So ist es geschehen, so herscht
Der Vernunft Recht vor dem Schwertrecht!
Denn im Haine brauset' es her gehohnes
Halses, und sprang, Flug die Mähne, dahin
Das heilige Ross, und ein Spott
War der Sturm ihm, und der Strom ihm!
Auf der Wiese stand es, und stampft', und blickte
Wiehernd umher; sorglos weidet' es, sah
Voll Stolz nach dem Reiter nicht hin,
Der im Blut lag an dem Gränzstein!
Nicht auf immer lastet es! Frey, o Deutschland,
Wirst du dereinst! Ein Jahrhundert nur noch;
So ist es geschehen, so herscht
Der Vernunft Recht vor dem Schwertrecht!

Notes
Entstanden 1773. Erstdruck in: Göttinger Musenalmanach für 1774.
License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Klopstock, Friedrich Gottlieb. Weissagung. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B355-5