[234] Die Rathgeberin

Tiegel des Dichtenden, oder hörst Rathgeberin lieber
Du dich nennen? doch welcher der Name sey, den du wühlest;
Bist du ernster, bist tiefsinniger, als im Traumel
Flug dich der Ungeweihte kent,
Bist entscheidender! Wie verstumt' ich oft, und wie fühlt' ich
Bleich mich werden, wenn empor ich sah zu der Höhe,
Die mir zeigte dein goldener Stab! und mit welchem Hinschaun
Mass ich den einsamen, steilen Pfad!
Noch erheb' ich, denk' ich zurück an die Tiefen, in deren
Nähe der schwindelnde Pfad sich erhob. Darstellung gelinget
Droben allein, nur auf dem erstiegenen fernen Gipfel,
Führt man in ihren Zauberkreis.
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Aber wer hat den Reiz, durch den die Führungen glücken,
Immer erspähet? wer das Lebende niemals getödtet?
O verzeihest du auch, Rathgeberin, dass dein Wink dann
Nach der Höhe vergebens wies?
Jünglinge, lasset euch Beyspiele warnen. Es sey euch
Wacker das Auge, so bald an dem Zauberkreise sich Leben,
Grosses, Leidenschaft zeigt. Darstellung gebietet festen,
Hingehefteten Forscherblick.
Nicht das Auge gabet ihr euch; allein wenn ihr oft blickt,
Könnet, den Schlummer scheuchend, dass heller es sieht, ihr ihm geben.
Leiterin ist sie euch nicht die Regel, (Verzeiht dem Greise,
Dass er fortspricht,) wird euch nie
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Ihren goldenen Stab erheben: wenn euch nicht Geist ward,
Dem die Empfindung heisser glüht, wie ihn Bilder entflammen,
Und in dem, Beherscher der Flamm' und der Glut, das Urteil
Unbezaubert den Ausspruch thut;
Nie den goldenen Stab erheben, wenn ihr nicht alle
Ihre Gebehrden kent, nicht ihre Winke, die Stirn nicht,
Die nun faltig, nun sanft verbeut, nicht die helle Seele,
Ganz nicht, die stolze Griechin kent.
Weniges nur, allein Zielführendes grub sie in ihre
Eherne Tafel. Einiges wird hier selten, dort öfter,
Aber Anderes immer gethan. Wenn von dem ihr weichet;
Habt ihr das erste nur halb gethan.
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Auf die schöne Natur, auf die nur weiset sie. Hübsch ist
Diese nicht, ist nicht wild; hat auch furchtbare Grazie; kerkert
Engumkreisend nicht ein: doch mit Feinheit begränzt die Messung,
Ziehet nicht selten Apelless Strich.
Wolt ihr der Griechin folgen; so kieset von dem, was sie lehret,
Stimmendes zu des Gesangs Erfindung, legt's auf die Wagschal,
Wägt es ihr zu. Was ihr nach falschem Gewicht verbildet,
Schimmert vielleicht; wird untergehn.

Notes
Entstanden 1795. Erstdruck in: Klopstocks Werke, 2. Bd., Leipzig (Göschen) 1798.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Klopstock, Friedrich Gottlieb. Die Rathgeberin. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B3F9-4