72. Ewig Leben.

Mündlich von einem Bauer aus Thomsdorf, einer alten Frau aus Swinemünde und einer Bäuerin aus Lichterfelde.

1.

In London ist mal ein Mädchen gewesen, die wünschte sich ewig zu leben, darum heißt es:

London, London ist eine schöne Stadt,

Eine Jungfer um's ewige Leben bat.


Und noch heute lebt sie und hängt in einer Kirche in einem Korb, und alle Johannistage um die Mittagsstunde verzehrt sie einen Weck Semmel.

2.

In Danzig lebte einmal eine Frau, die war so reich und hatte alle Güter des Lebens so voll auf, daß sie wünschte, ewig zu leben. Als es nun mit ihr zu Ende ging, starb sie nicht wirklich, sondern war nur scheintodt, und bald darauf sah man sie in einer Höhlung eines Pfeilers in der Kirche, in einer halbsitzenden, halbstehenden Stellung unbeweglich. Sie rührte zwar kein Glied, [70] aber man sah ihr doch an, daß sie noch leben müßte, und so sitzt sie noch bis auf den heutigen Tag. Alljährlich am ersten Tage des neuen Jahres kommt der Küster und steckt ihr eine Oblate in den Mund; das ist die einzige Speise, von der sie lebt. Sie mag wohl längst bereut haben, jenen Wunsch gethan, und dies vergängliche Leben höher als jenes himmlische und unvergängliche geschätzt zu haben.

3.

Weit, weit von Lichterfelde lebte einmal ein Edelfräulein, die that den Wunsch, daß sie ewig leben möchte; da setzte man sie in einen Korb und hing sie in der Kirche auf, und seit der Zeit sitzt sie nun da, obgleich es schon viele, viele Jahre her ist, und stirbt nicht; alle Jahr aber, an einem bestimmten Tage, bekommt sie einen Hälling Semmel, den verzehrt sie und ruft: »Ewig, ewig, ewig!« Und wenn sie das gesprochen hat, wird sie still und sitzt wieder so bis zum nächsten Jahre, und so gehts fort bis in alle Ewigkeit.


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TextGrid Repository (2012). Kuhn, Adalbert. 72. Ewig Leben. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-BD6C-7