72. Die zerbrochene Schütze. 1

Mündlich.


Zur Zeit, als die um Lehnin liegenden Dörfer noch Hofedienste auf dem dortigen Amte thun mußten, fuhren einmal ein Paar Hofediener Getraide nach Berlin,[70] und als sie in die Haide kamen, wo es wegen des tiefen Sandes nur etwas langsam ging, blieb der Knecht, der den hintersten Wagen fuhr, etwas hinter den übrigen zurück. Wie er nun so neben dem Wagen daher geht, hört er auf einmal ein großes Getöse und eine Stimme über sich in der Luft rufen: »Meine Schütze ist entzwei, meine Schütze ist entzwei!« Obgleich er nun wohl wußte, daß das die wilde Jagd sei, die über ihm dahin fahre, war er doch übermüthig genug und rief: »Na so komm, ich will sie dir machen!« Kaum hatte er das auch nur gesagt, so saß einer hinten auf seinem Wagen und hielt eine zerbrochene Schütze in der Hand. Nun ward ihm doch etwas bange, und er wußte im Augenblick gar nicht, wie er den lästigen Gefährten los werden sollte, doch besann er sich noch zur rechten Zeit und sagte: »I da nehmen wir einen Spahn von der Wagenrunge, damit wollen wir sie schon wieder zusammenkriegen!« Nahm auch gleich sein Messer hervor, schnitt einen tüchtigen Pflock von der Runge ab und trieb den durch zwei Löcher, welche er mit dem Messer in die zerbrochenen Enden gebohrt hatte, und so machte er die Schütze wieder brauchbar. Da sagte jener: »Das hat dich Gott thun heißen, aber nun sollst du auch deine Bezahlung haben!« Sprachs und legte ihm ein kleines Brötchen hinten auf den Wagen, worauf er verschwand. Darauf fuhr der Bauer seinen Gefährten nach, holte sie auch bald wieder ein, sagte ihnen aber nichts von dem, was ihm begegnet war, und steckte das geschenkte Brot in seinen Kober. In Berlin [71] kehrten sie nun, so oft sie dahin kamen, stets in demselben Gasthofe ein, wo sie alsdann, was sie von den ihnen mitgegebenen Lebensmitteln übrig behielten, gewöhnlich an eine alte Frau, die dahin kam, zu verkaufen pflegten. An diese verkaufte nun der Knecht auch sein geschenktes Brot und kehrte dann nach Hause zurück. – Wie er das nächste Mal wieder dahin kam, war auch die alte Frau schon da, die bat ihn, ob er ihr nicht wieder ein solches Brötchen verkaufen wolle, denn das habe ihr doch gar zu schön geschmeckt. Da wurden auch die übrigen Bauern neugierig und er erzählte ihnen seinen Vorfall; man drang weiter in die Alte und erfuhr von ihr, daß bei jedem Stückchen, welches sie von dem Brote abgeschnitten habe, ein Goldstück herausgefallen sei. Nun hätte er sein Brot gern wieder haben mögen, aber es war verzehrt und er hat auch nie eins wieder bekommen.

Fußnoten

1 Schütze ist der Name für den Brotschieber, die Backschaufel, mit welcher die Bäcker das Brot in den Ofen schieben.

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TextGrid Repository (2012). Kuhn, Adalbert. Märchen und Sagen. Märkische Sagen und Märchen. Sagen der Mittelmark. 1. Das Land südlich der Havel und Spree. 72. Die zerbrochene Schütze. 72. Die zerbrochene Schütze. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-C20D-8