10. Vom Mädchen, das seine Brüder sucht.

Mündlich aus Brodewin in d.U.M.


Da war einmal eine Mutter, die hatte neun Kinder, und von diesen waren achte Knaben, aber nur eines ein Mädchen, und sie hätte doch so gerne mehrere gehabt, damit sie ihr bei der Arbeit zur Hand gehn könnten; da überwältigte sie oft der Unmuth, und einmal rief sie gar in demselben aus: »Ei so wünscht ich doch, daß ihr vier Stunden zu Schwänen und zwei wieder zu Menschen würdet!« und kaum hatte sie das gesagt, so flogen die acht Brüder als Schwäne auf und davon und kamen nicht wieder. Bald darauf starb auch die Mutter und da war nun das Mädchen allein in der weiten Welt, und deshalb ging sie weit weit fort, ihre Brüder zu suchen, und kam endlich zum Wind, bei dem saß eine alte Frau in der Hütte, die spann; das war des Windes Mutter. Wie diese das Mädchen zur Thür hereintreten sah, freute sie sich über die Maaßen und rief ihr entgegen: »Ei was freue ich mich, dich zu sehen, denn es ist nun ganzer zehn Jahre her, daß ich keinen Menschen gesehen habe. Aber wie kommst du denn hierher?« Nun erzählte ihr das Mädchen, wie sie ihre Brüder verloren habe und den Wind, der doch [282] auch manch Fleckchen auf der Welt zu sehn bekomme, fragen wolle, ob er sie nicht gesehen. Aber die Alte sagte: »Ach das geht nicht an, du liebes Kind, mein Sohn ist ein gar schlimmer und gewaltiger Riese, und wenn der zu Hause kommt, so frißt er dich auf.« Da wurde das arme Mädchen ganz traurig, daß es der Alten zu Herzen ging und sie sich ihrer erbarmte, und ihr sagte: »Kriech nur dort in die Tonne, die werd ich zudecken, und dann will ich meinen Sohn fragen, ob er deine Brüder nicht gesehn; wenn er dann morgen früh wieder fort ist, so kannst du weiter gehn.« Sie versteckte also das Mädchen in der Tonne, schlachtete darauf einen Hahn und kochte ihn, und nicht lange war sie damit fertig, so hörte man ein gewaltiges Heulen und Brausen in der Luft, das kam immer näher und näher und fuhr endlich in den Schornstein nieder, denn das war der Wind, der zu Hause kam. Kaum war er aber in die Stube getreten; so ging er schnuppernd umher und sagte: »Ich riech', ich rieche Menschenfleisch!« – I nicht doch, mein Söhnchen, sagte die Mutter, das kommt dir nur so vor, denn ich habe einen Hahn gekocht. Aber der Wind blieb bei seinem: »Ich riech' ich rieche Menschenfleisch!« und endlich mußte ihm die Alte gestehen, daß das Mädchen da sei, und erzählte ihm alles genau, warum es gekommen sei. Das dauerte den Riesen und er behielt sie bei sich, und als er sich nun zum Abendessen setzte, ließ er sie mitessen, und sagte ihr auch, sie solle die Hahnenknochen in ihr Tüchlein wickeln, denn sie würde sie [283] brauchen. Die Brüder aber hatte er nicht gesehen, doch rieth er ihr, sie solle einmal zum Monde gehen, und den fragen. Drauf gab er ihr auch seine Siebenmeilenschuh und sagte ihr, wenn sie zum Monde käme, solle sie dieselben nur mit den Spitzen nach seiner Hütte zugekehrt stellen, dann kämen sie ganz von selbst zurück.

Darauf brach die Kleine auf und that alles, was ihr der Riese geheißen hatte; als sie nun zum Monde kam, fand sie auch da eine Hütte, in der saß eine alte Frau, die war des Mondes Mutter, und freute sich über die Maaßen sie zu sehen, denn es war nun zwanzig Jahre her, daß sie keinen Menschen gesehen hatte. Als sie aber erfuhr, weshalb sie käme, wollte sie sie auch anfänglich nicht beherbergen, weil ihr Sohn, der ein gar schlimmer und gewaltiger Riese wäre, sie fressen werde, wenn er zu Hause käme. Aber zuletzt erbarmte sie sich doch des armen verlassenen Wesens, und verbarg sie, wie des Windes Mutter es auch gethan hatte, in einer Tonne. Sogleich kochte sie darauf einen Hahn und nicht lange danach kam der Mond zu Hause und sagte bald: »Ich riech', ich rieche Menschenfleisch!« Die Alte wollte es ihm zwar ausreden, aber er blieb dabei, und da kam denn endlich die Kleine weinend hervor, und sagte ihm, weshalb sie gekommen sei. Da ließ auch er sich erbarmen, sie aß mit ihm und mußte die Hahnenknochen in ihr Tüchlein binden, und blieb die Nacht in seiner Hütte. Andern Morgens gab er ihr seine Siebenmeilenschuh und sagte ihr, sie solle zur Sonne gehn, denn er habe ihre Brüder nicht gesehn, vielleicht könnte [284] sie's aber bei der Sonne erfahren; doch solle sie, wenn sie da ankäme, seine Schuh mit den Spitzen nach seiner Hütte gekehrt stellen, dann würden sie von selbst zurückkehren. Nun ging die Kleine zur Sonne und fand auch da in der Hütte eine Alte, die saß und spann, und freute sich über die Maaßen sie zu sehen, denn sie hatte seit dreißig Jahren keinen Menschen gesehen; aber sie mochte die Kleine auch nicht behalten, weil ihr Sohn ein schlimmer und gewaltiger Riese sei, der sie fressen würde. Doch verbarg sie sie endlich in einer Tonne, kochte einen Hahn, und als der Riese nach Hause kam, erbarmte er sich endlich auch des armen Mädchens und konnte ihr auch Auskunft über ihre Brüder geben. Er sagte ihr nämlich, daß sie auf dem Glasberg wohnten, aber da könne sie nicht hinauf kommen, denn er sei gar hoch; deshalb solle sie sich eine Leiter bauen und dazu wolle er ihr die Hahnenknochen geben, doch seien das nicht genug. Da sagte ihm die Kleine freudig, sie hätte auch schon solche vom Winde und vom Monde erhalten und die würden wohl ausreichen. Darauf aß sie mit ihm, band die Knöchlein in ihr Tuch und nahm freudig von der Sonne Abschied, denn sie sollte ja nun ihre Brüder wiedersehn.

Als sie nun an den Glasberg kam, baute sie sich von den Hahnenknochen sogleich eine Leiter, und als sie damit fertig war, fehlte nur noch die letzte Sprosse, da wußte sie sich nicht anders zu helfen, als daß sie ein Messer nahm und sich den kleinen Finger abschnitt, den sie als Sprosse einsetzte, und nun stieg sie froh auf den [285] Glasberg hinauf. Dort oben fand sie eine Hütte, in der war keine Seele, es standen aber rund umher an den Wänden acht Betten, die sich ihre Brüder aus den mit Zeit gesammelten Schwanenfedern gemacht hatten, und da kroch sie nun in das Bette des Jüngsten. Nicht lange danach hörte sie die Schwäne um die Hütte rauschen, und bald danach traten ihre Brüder in Menschengestalt herein, denn es war jetzt die Zeit, wo sie wieder Menschen waren. Als sie in der Stube umhergingen, sagte einer von ihnen; »Ich riech', ich rieche Menschenfleisch!« darauf suchten sie umher und fanden die Kleine in dem Bette des Jüngsten. Da freuten sie sich denn sehr, ihre Schwester, die sie so lange nicht gesehen hatten, wieder zu erblicken und sagten: »Du kannst uns erlösen, wenn du willst.« Das war sie denn gerne Willens, und sie sagten ihr nun, daß sie in acht Jahren acht Hemden machen müsse, aber kein einziges Wort dabei sprechen dürfe. Sie bauten ihr nun auf einem so recht krausen Baum eine Hütte, damit sie niemand sehen und sprechen könne, und brachten ihr reichlich Disteln und Dornen hinauf, daß sie damit die Hemden mache.

So hatte sie nun schon eine lange Zeit auf dem Baume gesessen, da traf sichs einmal, daß der König in dem Walde jagte, und als er bei dem Baume vorbeikam, blieben seine Hunde, die Wittrung bekamen, daß etwas da oben sei, stehen und bellten hinauf. Da richtete er sein Auge nach oben und sah das Mädchen, die grade den Kopf aus der Hütte steckte, um zu sehen, [286] was unten vorgehe. Nun hieß sie der König herunterkommen, und als sie nicht antwortete, sondern in der Hütte blieb, ward er zornig und drohte ihr, daß er sie todt schießen oder den Baum umhauen wolle, und da sah sie sich denn endlich genöthigt, herabzusteigen. Dem König gefiel sie aber gar sehr, er nahm sie mit sich, gab ihr andre prächtigere Kleider und heiratete sie darauf, aber sie sprach immer noch kein Wort. Das verdroß des Königs alte Mutter, denn sie glaubte, die Königin sei niedern Standes, und als sie nun niederkam, der König aber grade in den Krieg gezogen war, nahm sie ihr das Kind und ließ es in den Wald bringen, der Königin aber beschmierte sie, als sie schlief, Hände und Gesicht mit Blut, und als nun der König zurückkam, ging sie ihn gleich an und sagte: »Da sieh nun, was du dir für eine undeutsche Frau genommen hast; das Kind, das sie geboren, hat sie selber aufgefressen!« Darüber war nun der König sehr betrübt, aber er liebte sie doch zu sehr, als daß er ihr hätte einen Vorwurf darüber machen können. Als sie darauf zum zweiten Male niederkam, machte es die alte Königin wieder wie das erste Mal, und der König war auch grade wieder in den Krieg gezogen. Als er aber wieder zurückkam, sprach seine Mutter wie das erste Mal, allein auch jetzt noch wollte er seiner Gemahlin, die er doch gar zu sehr liebte, kein Leides thun; doch als es zum dritten Male eben so ging, da befahl er, sie in den Wald zu führen und sie dort ums Leben zu bringen. Als nun der Diener, dem er es befohlen hatte, [287] mit ihr hinauskam und ans Werk gehen wollte, da fiel sie ihm zu Fußen und weinte und rang die Hände, so daß er sich ihrer erbarmte, einen Frischling, der grade vorüberstürzte, schoß, ihm Herz und Leber ausschnitt, und diese als Wahrzeichen, daß er die Königin getödtet habe, mit zurück brachte. Wie sie nun aber dort im Walde umherirrte, da fand sie auch ihre Kinder, die waren von den Thieren des Waldes gespeist worden, und nun bereitete sie für alle ein Lager in einem hohlen Baum und sie nährten sich von Wurzeln und Kräutern.

Einige Zeit hatten sie hier gelebt, da trug sich's zu, daß der König hier jagte; den sah der älteste Knabe, kam zu der Mutter gelaufen und zeigte ihn ihr; in demselben Augenblick sah aber die Königin auch die Schwäne über ihrem Haupte schweben und die acht Jahre, wo sie nicht sprechen durfte, waren um. Da rief sie freudig: »Kind! das ist dein Vater!« Nun lief er hin zum König, der kam zum Baume, hieß die Königin hervortreten, aber sie schämete sich, da sie nackt und bloß war, und da warf er ihr denn seinen Mantel zu, daß sie sich bedecke. Da kam sie hervor und erzählte ihm alles, wie es geschehen war, und der König nahm sie mit sich nach Hause und machte sie wieder zur Königin. Seine Mutter aber, die noch nichts davon wußte, fragte er, was eine Mutter verdiene, die ihren Sohn schändlich belüge und ihn von seiner Frau und seinen Kindern durch Bosheit und Hinterlist trenne. Da sagte sie: »Die muß mit zwei Ochsen auseinander gerissen werden!« und nun befahl der König, daß man ihr also thue.

[288] Die Brüder der Königin waren nun aber auch erlöst, denn auch, als sie im Walde bei den wilden Thieren lebte, hatte sie fortgefahren, die Hemden zu nähen, und so lebten sie denn alle glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.

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TextGrid Repository (2012). Kuhn, Adalbert. Märchen und Sagen. Märkische Sagen und Märchen. Märchen. 10. Vom Mädchen, das seine Brüder sucht. 10. Vom Mädchen, das seine Brüder sucht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-D23F-A