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Vermischte Schriften
des Hrn. Christlob Mylius,

gesammelt von

Gotthold Ephraim Lessing

Vorrede

Es würde schwer zu bestimmen sein, ob Herr Christlob Mylius sich mehr als einen Kenner der Natur, oder mehr als einen witzigen Kopf bekannt gemacht habe, wenn nicht die letzten Unternehmungen seines Lebens für das erstere den Ausschlag geben müßten. Sein Bestreben war allezeit, diesen gedoppelten Ruhm zu verbinden, den nur diejenigen für widersprechend ansehn, welche die Natur entweder zu plumb oder zu leicht gebildet hat.

Ich war verschiedene Jahre hindurch einer seiner vertrautesten Freunde, und jetzt bin ich sein Herausgeber geworden; zwei Titel, die mir hinlängliche Erlaubnis geben könnten, mich weitläuftig in sein Lob einzulassen, wenn ich mir nicht ein Gewissen machte, denjenigen im Tode zu schmeicheln, welcher mich nie in seinem Leben als einen Schmeichler gefunden hat.

Mit diesem Vorsatze würde ich eine sehr kurze und kahle Vorrede machen müssen, wenn ich nicht, zu [526] Glücke, eine kleine Folge von Briefen in Bereitschaft hätte, durch welche zum Teil diese Sammlung vermischter Schriften ist veranlasset worden. Sie sind an einen Freund geschrieben, welcher den Hrn. Mylius nur bei dem letzten Geräusche, welches er machte, recht kennen lernte. Ich bestimmte sie zwar nur für zwei Augen; da ich aber niemals gern für zwei Augen etwas zu schreiben pflege, welches nicht allenfalls tausend Augen lesen dürften: so mache ich mir kein Bedenken, sie dem Leser vorzulegen. Er wird alles darinnen finden, was ihn in den [526] Stand setzen kann, von den folgenden prosaischen und poetischen Aufsätzen, zugleich auch von allen übrigen Schriften des Hrn. Mylius, ein richtiges Urteil zu fällen. Sie bedürfen keiner weitern Einleitung.

Erster Brief. Vom 20. März 1754

Erster Brief
Vom 20. März 1754

Ja, mein Herr, die Nachricht ist gegründet; Herr Mylius ist zwischen den 6ten und 7ten dieses in London gestorben. Ich nehme Ihr Beileid, welches Sie mir in diesem Falle bezeugen wollen, an. Sie kennen mich zu wohl, als daß Sie mir bei diesem Verluste nicht alle die Empfindlichkeit zutrauen sollten, deren ein zur Freundschaft gemachtes Herz fähig ist. Es macht einen ganz besondern Eindruck auf mich, ihn nunmehr in einer Welt zu wissen, die etwas mehr und etwas anders als die See, von der unsrigen trennet. Die Art, mit welcher ich von ihm Abschied nahm, war eine Beurlaubung auf einige flüchtige Tage, und kein Abschied, so gewiß bildete ich mir ein, ihn wieder zu sehen. Ich spottete über die, welche ihm gar zu gern das Herz schwer gemacht hätten.


Wohin, wohin treibt dich mit blutgen Sporen,
Die Wißbegier, dich, ihren Held?
Du eilst, o Mylius! im Auge feiger Toren,
Zur künftgen, nicht zu neuen Welt.

So redete ich ihn in einem kleinen Gedichte, noch wenige Tage vor seiner Abreise, an. Aber ach, die Vermutung dieser feigen Toren ist richtiger gewesen, als meine Hoffnung! Und gleichwohl war sie auf die Kenntnis seines Körpers, den ich nie einer merklichen Unbäßlichkeit unterworfen gesehen hatte, und auf das Urteil erfahrner Leute gebauet, welche eben die Reisen getan hatten, die er zu tun Willens war, und die darauf schworen, daß er das vollkommne Ansehen eines guten Seefahrers habe. Sagen Sie mir, möchte man nicht die Lust verlieren, sich auf irgend etwas schmeichelhaftes, das noch nicht gänzlich in unserer Gewalt ist, mehr Rechnung zu [527] machen? Wäre es nicht besser, wenn man auf gut stoisch in den Tag hinein lebte, und das Künftige das für uns sein ließe, was es in der Tat ist; nichts? – – Zwar die Herren, welche ihm den Tod prophezeiten, haben doch nicht recht prophezeit, obgleich dasjenige, was sie prophezeiten, eingetroffen ist. Die See und Amerika war das, wofür er sich fürchten sollte; England war es nicht. Eine Reise nur von etliche tausend Meilen sollte ihm tödlich sein; und ich kann noch immer behaupten, daß sie es ihm nicht würde gewesen sein, wenn er nichtvorher gestorben wäre – – So viel ist gewiß, er hat sie nicht tun sollen. Wenn ich von den allweisen Einrichtungen der Vorsehung weniger ehrerbietig zu reden gewohnt wäre, so würde ich keck sagen, daß ein gewisses neidisches Geschick über die deutschen Genies, welche ihrem Vaterlande Ehre machen könnten, zu herrschen scheine. Wie viele derselben fallen in ihrer Blüte dahin! Sie sterben reich an Entwürfen, und schwanger mit Gedanken, denen zu ihrer Größe nichts als die Ausführung fehlt. Sollte es aber wohl schwer sein, eine natürliche Ursache hiervon anzugeben? Wahrhaftig sie ist so klar, daß sie nur derjenige nicht sieht, der sie nicht sehen will. Nehmen Sie an, mein Herr, daß ein solches Genie, in einem gewissen Stande geboren wird, der, ich will nicht sagen, der elendeste, sondern nur zu mittelmäßig ist, als daß er noch zu der sogenannten güldnen Mittelmäßigkeit zu rechnen wäre. Und Sie wissen wohl, die Natur hat einen Wohlgefallen daran, aus eben diesem immer mehr große Geister hervor zu bringen, als aus irgend einem andern. Nun überlegen Sie, was für Schwierigkeiten dieses Genie, in einem Lande als Deutschland, wo fast alle Arten von Ermunterungen unbekannt sind, zu übersteigen habe. Bald wird es von dem Mangel der nötigsten Hülfsmittel zurück gehalten; bald von dem Neide, welcher die Verdienste auch schon in ihrer Wiege verfolgt, unterdrückt; bald in mühsamen und seiner unwürdigen Geschäften entkräftet. Ist es ein Wunder, daß es nach aufgeopferten Jugendkräften dem ersten starken Sturme unterliegt? Ist es ein Wunder, daß Armut, Ärgernis, Kränkung, Verachtung endlich über einen Körper siegen, der ohnedem schon der stärkste nicht ist, weil er kein Körper [528] eines Holzhackers werden sollte? Und glauben Sie mir, mein Herr, in diesem Falle war unser Mylius, oder es ist nie einer darinne gewesen. Er ward in einem Dorfe geboren, wo er gar bald mehr lernen wollte, als man ihn daselbst lehren konnte. Er ward von Ältern geboren, deren Vermögen es nicht zuließ, ihn aus einer andern Ursache studieren zu lassen, als daß er einmal, nach der Weise seiner Väter, von einer geschwind erlernten Brodwissenschaft leben könne. Er kam auf eine Schule, die ihn kaum zu dieser Brodwissenschaft vorbereiten konnte. Er kam auf eine Akademie, wo man beinahe nichts so zeitig lernt, als ein Schriftsteller zu werden. Er fiel einem Manne in die Hände, welcher durch Wohltaten manchen jungen Witzling zu seinem Vorfechter zu machen wußte. Er besaß eine natürliche Leichtigkeit zu reimen, und seine Umstände zwangen ihn, sich diese Leichtigkeit mehr zu Nutze zu machen, als es dem Vorsatze ein Dichter zu werden zuträglich ist. Er schrieb, und die grausame Verbindlichkeit, daß er viel schreiben mußte, raubte ihm die Zeit, die er seiner liebsten Wissenschaft, der Kenntnis der Natur, mit bessern Nutzen hätte weihen können. Er verließ endlich die Akademie, und begab sich an einen Ort, wo es ihm mit seiner Gelehrsamkeit beinahe wie denjenigen ging, die von dem, was sie einmal erworben haben, zehren müssen, ohne etwas mehrers dazu verdienen zu können. Nach einiger Zeit ward er zu einem Unternehmen für tüchtig erkannt, von welchem einige Leute sagten, daß man sich nur aus Verzweiflung dazu könne brauchen lassen. Er wollte und sollte reisen; er reisete auch, allein er reisete auf fremder Leute Gnade; und was folgt auf fremder Leute Gnade? Er starb. – – Ja, mein Herr, das ist sein Lebenslauf. Ein Lebenslauf, ohne Zweifel, in welchem das Ende das unglücklichste nicht ist. Und doch behaupte ich, daß er mehr darinne geleistet hat, als tausend andere in seinen Umständen nicht würden geleistet haben. Der Tod hat ihn früh, aber nicht so früh überrascht, daß er keinen Teil seines Namens vor ihm in Sicherheit hätte bringen können. Hiermit tröste ich mich noch; noch mehr aber mit der gewissen Überzeugung, daß er in einer vollkommen philosophischen Gleichgültigkeit wird gestorben sein. Seine Meinungen, [529] die er von dem Zustande der abgeschiedenen Seelen hatte, 1 haben es nicht anders zulassen können. Es ist wahr, er ward in einem großen Vorhaben gestört, aber nicht so, daß er es ganz und gar hätte aufgeben dürfen. Sein Eifer, die Werke der Allmacht näher kennen zu lernen, trieb ihn aus seinem Vaterlande. Und eben dieser Eifer führt seine entbundene Seele nunmehr von einem Planeten auf den andern, aus einem Weltgebäude in das andre. Er gewinnet im Verlieren, und ist vielleicht eben jetzt beschäftiget mit erleuchteten Augen zu untersuchen, ob Newton glücklich geraten, und Bradley genau gemessen habe. Eine augenblickliche Veränderung hat ihn vielleicht Männern gleich gemacht, die er hier nicht genug bewundern konnte. Er weiß ohne Zweifel schon mehr, als er jemals auf der Welt hätte begreifen können. Alles dieses hat er sich in seinem letzten Augenblicke gewiß zum voraus vorgestellt, und diese Vorstellungen haben ihn beruhiget, oder es sind keine Vorstellungen fähig, einen sterbenden Philosophen zu beruhigen – – Ich will aufhören, Sie mit diesen traurigangenehmen Ideen zu beschäftigen. Ich will aufhören, um mich ihnen desto lebhafter überlassen zu können. Es ist bereits Mitternacht, und die herrschende Stille ladet mich dazu ein. Leben Sie wohl.

Zweiter Brief. Vom 3. April

Zweiter Brief
Vom 3. April

Ich soll Ihnen, mein Herr, einige Nachricht von den Schriften des Hrn. Mylius, welche Sie noch nicht kennen, und unter diesen besonders von denen erteilen, in welchen er sich als einen schönen Geist hat zeigen wollen? Mit Vergnügen. Aber erlauben Sie mir, daß ich Sie vorher an eine kleine Anmerkung erinnern darf. Ein gutes Genie ist nicht allezeit ein guter Schriftsteller, und es ist oft eben so unbillig einen Gelehrten nach seinen Schriften zu beurteilen, als einen Vater nach seinen Kindern. Der rechtschaffenste Mann hat oft die nichtswürdigsten, [530] und der klügste die dümmsten; ohne Zweifel, weil dieser nicht die gelegensten Stunden zu ihrer Bildung, und jener nicht den nötigen Fleiß zu ihrer Erziehung angewendet hat. Der geistliche Vater kann oft in eben diesem Falle sein, besonders wenn ihn äußerliche Umstände nötigen, den Gewinnst seine Minerva, und die Notwendigkeit seine Begeisterung sein zu lassen. Ein solcher ist alsdann meistenteils gelehrter als seine Bücher, anstatt daß die Bücher derjenigen, welche sie mit aller Muße und mit Anwendung aller Hülfsmittel ausarbeiten können, nicht selten gelehrter als ihre Verfasser zu sein pflegen – – Nun lassen Sie mich anfangen. Aber wo wollen Sie, daß ich anfangen soll? – – Das erste, was unter seinem Namen gedruckt ward, war eine Ode auf die Schauspielkunst, oder vielmehr eine Ode auf die Verdienste des Hrn. Prof. Gottscheds um die Schauspielkunst. Ihr Inhalt gab ihr ein Recht auf eine Stelle in den »Belustigungen«, die sie in dem sechsten Bande derselben fand. Ich nenne sie eine Ode, weil sie Herr Mylius selbst so nennt, und ein Verfasser ohne Zweifel seine Geburten nennen kann, wie er will. Was halte ich mich dabei auf? Er hat sie nach der Zeit selbst verachtet, und die letzte Strophe ziemlich boshaft parodieren helfen, wie Sie es in dem ersten Teile des »Liebhabers der schönen Wissenschaften« finden können. So geht es fast immer, wenn man Leute von zweideutigen Verdiensten allzusehr erhebt, ehe man sie näher untersucht hat. Man schämt sich endlich, daß man sich bloß gegeben hat, und will allzuspät durch eben so übertriebene Beschimpfungen die Lobsprüche vertilgen, die uns bereits lächerlich gemacht haben. Auf diese Ode folgten seine »Betrachtungen über die Majestät Gottes«, welche aus einer oratorischen Übung entstanden waren, mit der er sich in der vertrauten Rednergesellschaft gezeigt hatte. Er fügte in der Umschmelzung, die natürliche Erklärung des Wunders mit dem Sonnenzeiger Ahas hinzu, welche mehr Aufsehen machte, als sie verdiente. Sie wissen, daß der Herr Inspektor Burg sich alle Mühe gegeben hat, sie zu widerlegen. Ich, meines Teils, habe sie allezeit bloß wegen der Dreistigkeit des Herrn Mylius bewundert. Der Einfall war nicht seine, sondern der Rezensent der »Parentschen Untersuchungen« [531] in den Actis Eruditorum hatte ihn bereits gehabt. Allein was dieser als einen flüchtigen Gedanken, der keine Billigung verdiene, vorgetragen hatte, das trug unser Schriftsteller, grade weg, als eine Wahrheit vor. Und so ist es auch schon recht! Ernsthafte gesetzte Männer müssen zweifeln; und wir, wir jungen Gelehrten, müssen entscheiden. Wer würde es auch sonst wagen, gebilligten Meinungen die Stirne zu bieten, wenn wir es nicht wären, die wir noch alle unser Feuer beisammen haben? – – Sie finden diese Betrachtungen, mein Herr, in eben dem angeführten Bande der Belustigungen; sie enthalten überhaupt viel gemeine Gedanken, und die Schreibart ist die Schreibart eines Deklamators, welcher die Beobachtung der Schulregeln für Ordnung und das O und das Ach für das schönste Rezept zum Feurigen und Pathetischen hält. Fast von eben diesem Schlage sind seine Abhandlungen »Von der Dauer des menschlichen Lebens«; seine Untersuchung, ob die Tiere um der Menschen willen geschaffen worden; und sein Beweis, daß man die Tiere physiologischer Versuche wegen gar wohl lebendig eröffnen dürfe – – Aus diesen letzterm Aufsatze kann man unter andern sehen, daß Herr Mylius die Buchstabenrechnung damals müsse gelernt haben. Er wirft mit a und x um sich, wie einer, der noch nicht lange damit bekannt ist. Das aber hat er mit sehr großen Analysten daselbst gemein, daß es ihm vollkommen gelungen ist, eine Wahrheit, die, in schlechten Worten ausgedrückt, sehr faßlich wäre, durch die allgemeinen Zeichen für die Hälfte seiner Leser zum Rätsel zu machen. Zwar – – als wenn man nur die Leser klug zu machen schriebe! Gnug, wenn man zeigt, daß man selbst klug ist. – – Außer diesen prosaischen Stücken werden Sie auch verschiedene Gedichte in den Belustigungen von ihm finden; besonders einige sapphische Oden, die dieses zärtliche Sylbenmaß sehr wohl beobachten, und viel artige Stellen haben. Das vornehmste aber ist wohl das »Gedicht auf die Bewohner der Kometen«. Ich muß Ihnen sagen, bei was für Gelegenheit es gemacht worden. Der Hr. Prof. Kästner hatte kurz vorher sein philosophisches Gedicht über die Kometen in den Belustigungen drucken lassen. Sie haben es doch gelesen? Es ist [532] in der Tat ein Gedicht; und in der Tat philosophisch. Sein Verfasser hat sich längst den nächsten Platz nach Hallern erworben, und Reimen und Denken nie getrennt. Ich führe folgende Stelle aus dem Gedächtnisse an:


Was aber würde wohl dort im Komet geboren?
Ein widriges Gemisch von Lappen und von Mohren,
Ein Volk, das unverletzt vom Äußersten der Welt,
Wo Nacht und Kälte wohnt, in lichte Flammen fällt.
Wer ist der dieses glaubt?

Ohne Zweifel brachte diese Frage den Hrn. Mylius auf. Er wollte es sein, der es glaubte. Noch mehr, er wollte es sein, der auch andre, es zu glauben, nötigte. Er setzte sich also, und schrieb ein ziemlich lang Gedichte, worinnen er von der Möglichkeit der Bewohner der Kometen, die der Hr. Prof. Kästner nicht geleugnet hatte, und von ihrer Wahrscheinlichkeit, die aber unter seinen Händen noch ziemlich unwahrscheinlich blieb, handelte.

Der Vorsatz an sich selbst war keines Tadels wert; wie ein Dichter, den Herr Mylius nicht wohl leiden konnte, bei einer ähnlichen Gelegenheit spricht. Nur Schade, daß er seine Einbildungskraft nicht besser dabei anstrengte; nur Schade, daß er den kurzen und nervenreichen Ausdruck nicht in seiner Gewalt hatte; nur Schade, daß er sich von dem Reime fortreißen ließ, und in sein ganz Gedicht noch lange nicht so viel gute Gedanken brachte, als wir gute Beobachtungen von Kometen haben. Ein Freund hat so gar nicht mehr, als eine einzige schöne Zeile darinne gefunden; diese nämlich:


Was nützt der größte Stern, der ewig müßig geht?


Er glaubte eine feine Anspielung auf die großen einflußlosen Sterne unter den Menschen darinne zu sehen, von der sich noch zweifeln läßt, ob sie unser Poet dabei gedacht hat. Was für einen artigen physikalischen Roman hätte er uns machen können, wenn er den innern Reichtum seiner Materie recht gekannt und ihn gehörig zu brauchen gewußt hätte! Aber war es von ihm damals zu verlangen? War es von dem geschwornen [533] Schüler eines Meisters zu verlangen, der Reimer die Menge, aber auch nichts als Reimer gezogen hat? Genug, daß Hr. Mylius in den Aufsätzen, die von seiner Feder in den Belustigungen stehen, alles geleistet hat, was ein Gottschedianer leisten kann. Die poetischen sind fließend, und ohne Mittelwörter; und die prosaischen sind gedehnt und rein – – Sie sehen wohl, mein Herr, daß ich mir heute kein Blatt vors Maul nehme. Ich wäre auf guten Wegen; wenn ich nur nicht abbrechen müßte. Leben Sie wohl!

Dritter Brief. Vom 22. April

Dritter Brief
Vom 22. April

Freilich hat sich Herr Mylius auch in wöchentlichen Sittenschriften versucht. – – Sie wissen, mein Herr, wer die ersten Verfasser in dieser Art waren. Männer, denen es weder an Witz, noch an Tiefsinn, noch an Gelehrsamkeit, noch an Kenntnis der Welt fehlte. Engländer, die in der größten Ruhe und mit der besten Bequemlichkeit, auf alles aufmerksam sein konnten, was einen Einfluß auf den Geist und auf die Sitten ihrer Nation hatte. – – Wer aber sind ihre Nachahmer unter uns? Größtenteils junge Witzlinge, die ungefähr der deutschen Sprache gewachsen sind, hier und da etwas gelesen haben, und, was das betrübteste ist, ihre Blätter zu einer Art von Renten machen müssen. – – – Hr. Mylius war noch nicht lange in Leipzig, als er mit dem Jahr 1745 seinen »Freigeist« anfing, und ihn durch zwei und funfzig Wochen glücklich fortsetzte. Der Titel versprach viel, und ich glaube nicht, daß man zu unsern Zeiten leicht einen anlockendern finden könnte. Ich weiß es aus dem Munde des Verfassers, daß er sich nie hingesetzt, ein Blatt von demselben zu machen, ohne vorher einige Stücke aus dem »Zuschauer« gelesen zu haben. Diese Art sich vorzubereiten und seinen Geist zu einer edeln Nacheiferung aufzumuntern, war ohne Zweifel sehr lobenswert. Freilich kann sie nur bei denen von einiger Wirkung sein, die schon vor sich Kräfte genug hätten, nichts gemeines zu schreiben. Denn denen, welchen diese Kräfte fehlen, wird [534] sie zu weiter nichts nützen, als die äußerliche Einrichtung zu ertappen. Sie werden uns bald ein Briefchen, bald ein Gespräch, bald eine Erzählung, bald ein Gedichtchen vorlegen, und in dieser abwechselnden Armut sich ihren Mustern gleich dünken, deren wahre Schönheiten sie nicht einmal einsehen. – – Hr. Mylius sahe sie allerdings ein, und man kann nicht leugnen, daß sich nicht ein großer Teil von seinem Freigeiste sehr wohl lesen lasse. Verschiedene kleine Züge, die er seiner Person darinne gibt, sind etwas mehr als bloße Erdichtungen. Was er zum Exempel in dem dreizehnten Blatte von des Boethius Troste der Weltweisheit sagt, ist gänzlich nach den Buchstaben zu verstehen. Er hatte von diesem geliebten Buche eine Ausgabe in sehr kleinem Formate, die er eine lange Zeit, anstatt der geriebnen Wurzeln und Kräuter, welche andre aus Artigkeit in die Nase stopfen, in einer Schnupftabaksdose bei sich trug. Die Übersetzung, die er an angeführtem Orte daraus mitteilt, macht ihn zum Erfinder einer im Deutschen noch nie gebrauchten Versart, der adonischen nämlich; und es ist seine Schuld ohne Zweifel nicht, wenn er keine Nachahmer darinne gehabt hat. Was übrigens den Inhalt des »Freigeistes« anbelangt, so wird auch der eigensinnigste Splitterrichter nicht das geringste darinne finden, was der christlichen Tugend und Religion zum Schaden gereichen könnte. Gleichwohl aber ward es – – – und dieses muß ich Ihnen zu melden nicht vergessen – – seinem guten Namen einigermaßen nachteilig, ihn geschrieben zu haben. Er behielt von der Zeit an den Titel seines Buchs statt eines Beinamens, und seine Bekannten waren noch lange hernach gewohnt, die Namen Mylius und Freigeist eben so ordentlich zu verbinden, als man jetzt die Namen Edelmann und Religionsspötter verbindet. Sie können sich leicht einbilden, daß diese Verbindung bei denen, welche die wahre Ursache davon nicht wußten, oft ein sehr empfindliches Mißverständnis werde verursacht haben. Es ist aber so ungegründet, daß ich es auch nicht mit einem Worte weiter widerlegen will. Ich will Ihnen vielmehr noch etwas von seiner zweiten moralischen Wochenschrift sagen, die er bald nach seiner Ankunft in Berlin heraus gab. Sie hieß der »Wahrsager«. Er kam nicht weiter damit, [535] als bis auf das zwanzigste Stück. Die fernere Fortsetzung ward ihm höheres Orts verboten, und es wäre seiner Ehre zuträglicher gewesen, wenn man ihm gleich den Anfang untersagt hätte. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ungleich er sich darinne sieht! Die Schreibart ist nachlässig, die Moral gemein, die Scherze sind pöbelhaft und die Satyre ist beleidigend. Er schonte niemanden und hatte nichts schlechters zur Absicht, als seine Blätter zur skandalösen Chronike der Stadt zu machen. Man schrie daher überall wider ihn, bis ihm das Handwerk gelegt ward. Als ein neuer Ankömmling in Berlin hatte er sich ohne Zweifel einen allzu großen Begriff von der hiesigen Freiheit der Presse gemacht. Er hatte gesehen, daß wichtige Wahrheiten hier Scherz verstehen müssen, und glaubte also, daß ihn die Einwohner auch ertragen würden, wenn er auch schon ein wenig massiv wäre. Allein er irrte sich! Die erstern können durch die allergrößte Mißhandlung nichts verlieren; die andern aber können auch durch die allerkleinste alles verlieren, nämlich ihre Ehre. Was also die Obrigkeit dort aus Sicherheit verstattet, das muß sie hier aus Mitleiden verbieten. – – – Das erste Blatt des Wahrsagers kam Donnerstags heraus. Den Sonntag vorher wußte Hr. Mylius noch nicht, wie es heißen sollte. Er lief hundert Namen durch, und konnte keinen finden, der ihm recht gelegen gewesen wäre. Endlich half ihm der geschwinde Witz eines guten Freundes noch aus der Not. Sie können sich nicht entschließen, wie Sie Ihr Blatt nennen wollen? sagte der Herr von K** zu ihm; Nennen Sie es den Wahrsager. Die zu dumm waren, Sie als einen Freigeist zu hören, die werden gewiß nicht zu klug sein, Ihnen als einem Wahrsager zu folgen. Dieser Einfall ward gebilliget, ob er gleich ein wenig boshaft war, und in drei Stunden war das erste Stück fertig. Mit eben dieser Geschwindigkeit hat Hr. Mylius auch die übrigen ausgearbeitet, und wenn dieser Umstand schon nicht ihren geringen Wert entschuldiget, so verhindert er doch wenigstens zu glauben, daß unser Tachygraphus sie nicht besser habe machen können. – – Ich bin etc.

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Vierter Brief. Vom 6. Mai

Vierter Brief
Vom 6. Mai

Herr Mylius hat drei Lustspiele und ein musikalisches Zwischenspiel geschrieben. Das sind seine theatralischen Lorbeern! Das erste Lustspiel ward 1745 in Hamburg gedruckt und heißt »Die Ärzte«. Es ist in Prosa; es hat fünf Aufzüge; es beobachtet die drei Einheiten; es läßt die Bühne vor dem Ende eines Aufzugs niemals leer; es hat keine unwahrscheinliche Monologen. – – Warum darf ich nun nicht gleich darzu setzen: kurz, es ist ein vollkommnes Stück? Warum gibt es gewisse schwer zu vergnügende ekle Kunstrichter, welche eine anständige Dichtung, wahre Sitten, eine männliche Moral, eine feine Satyre, eine lebhafte Unterredung, und ich weiß nicht, was noch sonst mehr, verlangen? Und warum, mein Herr, sind Sie selbst einer von diesen Leuten? Ich hätte Ihnen ein so vortreffliches Quidproquo machen wollen, daß Sie meinen Freund den deutschen Moliere nennen sollten. Ein deutscher Moliere! und dieser mein Freund! O wenn es doch wahr wäre! Wenn es doch wahr wäre! – – Hören Sie nur, Hr. Mylius mußte seine Ärzte auf Verlangen machen, was Wunder, daß sie ihm gerieten, wie – – wie alles, was man auf Verlangen macht. Kurz vorher waren »Die Geistlichen auf dem Lande« zum Vorschein gekommen. Sie kennen dieses Stück; es hatte einen jungen Menschen zum Verfasser, der hier in Berlin noch auf Schulen war, der aber nach der Zeit bessere Ansprüche auf den Ruhm eines guten komischen Dichters der Welt vorlegte, und selbst aus Liebe zur Bühne ein Schauspieler ward, nämlich den verstorbenen Hrn. Krieger. In seinen Geistlichen hatte er die Satyre auf eine unbändige Art übertrieben, und ich weiß überhaupt nicht, was ich von der Satyre halten soll, die sich an ganze Stände wagt. Doch Galle, Ungerechtigkeit und Ausschweifung haben nie ein Buch um die Leser gebracht, wohl aber manchem Buche zu Lesern verholfen. Die Welt konnte sich an den Geistlichen nicht satt lesen; sie wurden mehr als einmal gedruckt; ja sie wurden, was die Leser immer um die Hälfte vermehrt, konfisziert. So eine vortreffliche Aufnahme stach einem [537] Buchhändler in die Augen. Er versprach sich keinen kleinen Gewinnst, wenn man auch andre Stände eine solche Musterung könnte passieren lassen, und trug die Abfertigung der Ärzte dem Hr. Mylius auf, der es auch annahm, ob er gleich selbst unter die Söhne des Äskulaps gehörte. Er brachte sonderbares Zeug in sein Lustspiel: eine Jungfer, der man es ansehen kann, daß sie keine Jungfer mehr ist; ein Paar Freier, die sich über eine künftige Frau zur Hälfte vergleichen, und einen Haufen Züge, die vollkommen wohl in eine schlechte englische Komödie passen würden. – – Doch wie steht es um sein zweites Lustspiel? Es heißt der »Unerträgliche« und ist gleichfalls in Prosa und fünf Aufzügen. Es sollte eine persönliche Satyre sein; muß ich Ihnen im Vertrauen sagen. Allein es gelang ihm mit dem Individuo eben so schlecht, als dort mit der Gattung. Denn mit wenigen alles zu sagen, er schilderte seinen Unerträglichen, ich weiß nicht ob so glücklich, oder so unglücklich, daß sein ganzes Stück darüber unerträglich ward. Die Ärzte und den Unerträglichen machte Hr. Mylius bald nacheinander; sein drittes Stück aber, von welchem ich gleich reden will, folgte erst einige Jahre darauf. Es heißt die »Schäferinsel«; es ist in Versen und hat drei Aufzüge. Wenn ich doch wüßte, wie ich Ihnen einen deutlichen Begriff davon machen sollte. – – Kennen Sie den Geschmack der Frau Neuberin? Man müßte sehr unbillig sein, wenn man dieser berühmten Schauspielerin eine vollkommne Kenntnis ihrer Kunst absprechen wollte. Sie hat männliche Einsichten; nur in einem Artikel verrät sie ihr Geschlecht. Sie tändelt ungemein gerne auf dem Theater. Alle Schauspiele von ihrer Erfindung sind voller Putz, voller Verkleidung, voller Festivitäten; wunderbar und schimmernd. – – Vielleicht zwar kannte sie ihre Herren Leipziger, und das war vielleicht eine List von ihr, was ich für eine Schwachheit an ihr halte. Doch dem sei, wie ihm wolle; genug, daß nach diesem Schlage ungefähr die Schäferinsel sein sollte, welche Hr. Mylius auch wirklich auf ihr Anraten ausarbeitete. Er hätte sie am kürzesten ein pseudopastoralisch-musikalisches Lust- und Wunderspiel nennen können. Nachdem er einmal den Entwurf davon gemacht hatte, kostete ihm die ganze Ausarbeitung [538] nicht mehr als vier Nächte; und so viele bringt ein andrer wohl mit Einrichtung einer einzigen Szene schlaflos zu. So lange er damit beschäftiget war, habe ich ihn, seiner Geschwindigkeit wegen, mehr als einmal beneidet; so bald er aber fertig war, und er mir seine Geburt vorgelesen hatte, war ich wieder der großmütigste Freund, in dessen Seele sich auch nicht die geringste Spur des Neides antreffen ließ. – – Noch ein Wort von seinemZwischenspiele. Es heißt der »Kuß«; es ward komponiert, und auf der Neuberischen Bühne in Leipzig aufgeführt. Es fanden sich Leute, welche es bewunderten, weil eine gewisse Schauspielerin die Schäferin darinne machte. Der Inhalt war aus der Schäferwelt. – – Verzeihen Sie, mein Herr, daß mir die Schäferwelt den Frühling in die Gedanken bringt; verzeihen Sie, daß das heutige angenehme Wetter mich verleitet, ihn immer ein wenig zu genießen, und daß ich also, Zeit zu gewinnen, schließe. Ich will lieber den ganzen Spaziergang an niemanden, als an Sie denken, als noch ein Wort mehr schreiben; ausgenommen: Leben Sie wohl!

Fünfter Brief. Vom 4. Junius

Fünfter Brief
Vom 4. Junius

An Kenntnis der vortrefflichsten Muster fehlte es dem Hrn. Mylius gar nicht. Und wie hätte es ihm auch so leicht daran fehlen können, da er das Hülfsmittel der Sprachen vollkommen wohl in seiner Gewalt hatte? Die vornehmsten lebendigen und toten waren ihm geläufig. Von der lateinischen werden Sie mir es ohne Beweis glauben. In Ansehung der griechischen beruf ich mich auf seine Übersetzungen, die er aus dem Aristophanes und Lucian gemacht hat. Diese letztern werden Sie in der »Sammlung auserlesener Schriften« dieses Sophisten, welche im Jahr 1745 bei Breitkopfen gedruckt ist, finden. Der Hr. Prof. Gottsched machte eine unverlangte Vorrede dazu, mit der er dem Publico einen schlechten Dienst erwies. Die Besorger wurden darüber ungehalten, und anstatt, daß sie uns den ganzen Lucian deutsch [539] liefern wollten, ließen sie es bei dieser Probe bewenden. Ich würde einen langen und trocknen Brief schreiben müssen, wenn ich Ihnen auch alle seine Übersetzungen aus dem Französischen, Italienischen und Englischen anführen wollte. Unter den erstern verdienen ohne Zweifel die »Kosmologie des Hrn. von Maupertuis«, und des »Hrn. Clairaut Anfangsgründe der Algebra« die vorzüglichste Stelle. Beide Werke zu übersetzen, ward etwas mehr als die bloße Kenntnis der Sprache erfordert; einer Sprache in der er übrigens seine Briefe am liebsten abzufassen pflegte. Und ich muß es Ihnen nur beiläufig sagen, daß sein Briefwechsel sehr groß war; größer als ihn vielleicht mancher in dem einträglichsten Amte sitzender Gelehrte, aus Furcht vor den Unkosten, übernehmen möchte. Er war nicht bloß in Deutschland eingeschlossen; er erstreckte sich noch viel weiter, und es war allerdings eine Ehre für ihn, daß er die verbindlichsten Antworten von einem Reaumur, Linnäus, Watson, Lyonet etc. aufweisen konnte. – – Aus dem Italienischen hat Hr. Mylius unter andern in den »Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters«, die Clitia des Machiavells übersetzt; und aus dem Englischen, Popens Versuch über den Menschen. Durch diese letztere Übersetzung, welche in Prosa ist und in dem zweiten Bande der »Hällischen Bemühungen« steht, wollte er die Arbeit des Hrn. Brockes ausstechen. Das Weitschweifende und Wäßrichte seines paraphrastischen Vorgängers hat er zwar leichtlich vermeiden können, allein daß es sonst ohne Fehler auf seiner Seite hätte abgehen sollen, das war so leicht nicht. Ohne Zweifel wußte er damals so viel Englisch noch nicht, und konnte es auch nicht wissen, als er während seines Aufenthalts zu London, in seinem letzten Jahre, durch die Übersetzung von Hogarths »Zergliederung der Schönheit«, zu wissen gezeigt hat. Ja er ist so gar noch selbst, mitten unter den Engländern, ein Schriftsteller in ihrer Sprache geworden. Und zwar ein kritischer Schriftsteller. Er ließ nämlich über ein neues Trauerspiel des Hrn. Glover einen Brief drucken, in welchem er sich Christpraise Myll nannte. Ohne Zweifel wollte er die englischen Leser durch seinen deutschen Namen nicht abschrecken. Noch habe ich diesen Brief [540] nicht gesehen, und ich kenne ihn nur zum Teil aus dem Monthly Review, wo er ganz kaltsinnig und kurz angezeigt wird. Er hat dem Hrn. Glover die Verabsäumung einiger dramatischen Regeln vorgerückt; und Sie wissen wohl, mein Herr, was die Regeln in England gelten. Der Brite hält sie für eine Sklaverei und sieht diejenigen, welche sich ihnen unterwerfen, mit eben der Verachtung und mit eben dem Mitleid an, mit welchem er alle Völker, die sich eine Ehre daraus machen, Königen zu gehorchen, betrachtet, wenn auch diese Könige schon Friedriche sind. Doch ich zweifle, ob Hr. Mylius zu einer wichtigern Kritik aufgelegt war; sein Geist war in Gottscheds Schule zu mechanisch geworden, und der unglückliche Tadler der ewigen Gedichte eines Hallers konnte unmöglich mit seinem Geschmacke bei einem Volke bewundert werden, welches uns dieses Dichters wegen zu beneiden Grund hätte. Wie? werden Sie sagen, der unglückliche Tadler Hallers? Ja, mein Herr, dieses war Hr. Mylius; denn er ist es, aus dessen Feder die Beurteilung desHallerischen Gedichts, über den Ursprung des Übels, in den ersten Stücken der hällischen Bemühungen, geflossen ist. Ich sage mit Fleiß, aus seiner Feder und nicht aus seinem Kopfe. Der Hr. Prof. Gottsched dachte damals für ihn, und mein Freund hat es nach der Zeit mehr als einmal bereuet, ein so schimpfliches Werkzeug des Neides gewesen zu sein. Doch ich weiß schon, auf wen die größte Schande fällt; auf den ohne Zweifel, auf welchen alle seine Schüler ihre Vergehungen bürden, und ihn, wie den Versöhnungsbock, in die Wüste schicken sollten. – – Aber, bewundern Sie doch mit mir den Hrn. von Haller! Entweder er hat es gewußt, daß ihn Hr. Mylius ehedem so schimpflich kritisiert habe; oder er hat es nicht gewußt. In dem ersten Falle bewundre ich seine Großmut, die auf keine Rache dieser persönlichen Beleidigung gedacht, sondern sich den Beleidiger vielmehr unendlich zu verbinden gesucht hat. In dem andern Falle bewundre ich – – seine Großmut nicht weniger, die sich nicht einmal die Mühe genommen hat, die Namen seiner spöttischen Tadler zu wissen – – Leben Sie wohl. Ich bin etc.

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Sechster Brief. Vom 20. Junius

Sechster Brief
Vom 20. Junius

O, ich glaube es Ihnen sehr wohl, mein Herr, daß verschiedene in Ihrer Gegend, welche an der Myliusischen Reise Teil gehabt, über den unglücklichen Ausgang derselben verdrüßlich sind, und ihr Geld bereuen. Was haben wir nun davon? heißt es bei einigen auch hier. Ehre! habe ich denen, die ich näher kenne, geantwortet. Ehre! – – »Nichts weiter? versetzte man. Wir glaubten, wie vortrefflich wir unsre Naturaliensammlungen würden vermehren können.« – – Ei! und also sahen Sie den Hrn. Mylius nicht so wohl für einen Gelehrten, welcher Entdeckungen machen sollte, als für einen Commissionair an, der für Sie nach Amerika reisete, um die Lücken Ihres Cabinets, so wohlfeil als möglich, zu erfüllen? – – »Nicht viel anders!« – – Nicht viel anders? So nehme ich mir die Freiheit aufrichtig zu gestehen, daß ich Ihnen den vorgegebenen Schaden von Grund des Herzens gönne. Aber wissen Sie wohl, bin ich in meinem Komplimente fortgefahren, für was Hr. Mylius eigentlich Sie, und alle Beförderer seiner Reise angesehen hat? Für Verschwender; für Leute die ihr überflüssiges Vermögen zu sonst nichts bessern anzuwenden wüßten; die nur Geld verschenkten, um es zu verschenken, und – – »Was? hat man mich unterbrochen; uns für Verschwender anzusehen?« – – Wahrhaftig, meine Herren, dafür hat Sie Hr. Mylius angesehen, noch ehe er die Ehre hatte, Sie zu kennen. Ich habe ihnen hierauf, um sie rechtschaffen zu kränken, eine Stelle aus dem satyrischen Sendschreiben 2 meines Freundes vorgelesen, in welchem er verschiedne Anschläge erteilet, wie man die Torheiten und Laster der Menschen zum Aufnehmen der Naturlehre nützen könne. Er hat dieses Sendschreiben in die »Ermunterungen« eingerückt, und die Stelle, auf welche ich ziele, ist viel zu sonderbar, als daß mich die Mühe tauern sollte, sie Ihnen, mein Herr, hier abzuschreiben. »Die Verschwender, sagt er, lasse man ihr Geld auf die Besoldung einer Anzahl Reisender wenden, welche [542] die Welt die Länge und Quere durchreisen und durchschiffen, und, wenn es das Glück will, allerlei physikalische und zur Naturgeschichte gehörige Entdeckungen machen. Man lasse auf ihre Unkosten Luftschiffe bauen, und den Erfolg auf ein Geratewohl ankommen. Die Ausführung solcher Unternehmungen trage man irrenden Rittern, Don Quixoden und Wagehälsen auf, und erwarte mit Vergnügen und Gelassenheit, ob die Naturlehre dadurch mit neuen Erfindungen und Lehrsätzen wird bereichert werden. Die Sache mag so übel ausschlagen, als sie will, so werden doch weder die physikalischen Wissenschaften, noch ihre uneigennützige Handlanger einigen Schaden davon haben.« – – Was sagen Sie zu dieser Stelle, mein Herr? Vielleicht, daß sie etwas prophetisches hat. Doch ich bin gewiß überzeugt, daß Hr. Mylius ein sehr lobenswürdiger und vorsichtiger Wagehals würde gewesen sein, wenn ihm der Tod vergönnt hätte, seine Geschicklichkeit zu zeigen. Er würde sich nicht begnügt haben, so er hingekommen wäre, bloß mit den Augen eines Naturforschers zu sehen, und um nichts, als um einen Stein oder um ein Kraut sich Gefahren auszusetzen. Er würde ein allgemeiner Beobachter gewesen sein, und die Kenntnis des Schönsten in der Natur, des Menschen, für keine Kleinigkeit angesehen haben, ob sie gleich in dem gemeinen Plane seiner Reise nicht in Betrachtung gezogen war. – – Doch, erlauben Sie mir, mein Herr, daß ich Ihnen auch endlich einmal von etwas andern schreibe. Die Erinnerung der Geschicklichkeiten meines Freundes ist mir zu peinlich, und ich empfinde seinen Verlust zu lebhaft, wenn ich derselben allzusehr nachhänge. – – – Lassen Sie uns vielmehr etc. – – –


Hier gerieten wir in unserm Briefwechsel auf eine andre Materie, welche für den Leser wenig reizendes haben würde und hierher nicht gehöret. Alles, was ich noch für ihn hinzutun muß, ist etwas weniges, was diese Sammlung genauer angeht. Sie bestehet aus lauter Stücken, welche teils in verschiednen Monatsschriften zerstreut, teils auch einzeln gedruckt waren. Alles dessen, was in den vorstehenden Briefen gesagt worden, ungeachtet, glaube ich, daß sehr viele Leser[543] die meisten nicht ohne besonderes Vergnügen lesen werden. Die Poesien insbesondere habe ich überall zusammen gesucht, und hätte zwar mit leichter Mühe noch weit mehrere, bessere aber wohl schwerlich auftreiben können. Mit was für Augen man sie betrachten müsse, habe ich deutlich gnug zu verstehen gegeben, und ich füge nur noch hinzu, daß die Gedichte des Hrn. Mylius ganz anders aussehen würden, wenn sie alle mit dem Gefühle und dem Fleiße gemacht wären, mit welchem er seinen »Abschied aus Europa« gemacht hat. Es schien, als ob er erst um diese Zeit recht anfangen wollte, sein Herz und seinen Witz zu brauchen. – – Mir ist jetzt weiter nichts zu tun übrig, als den Leser den Inhalt der Sammlung auf einmal übersehen zu lassen, und mich seiner Gunst zu empfehlen.

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TextGrid Repository (2012). Lessing, Gotthold Ephraim. Ästhetische Schriften. Vorreden. Vermischte Schriften des Hrn. Christlob Mylius. Vermischte Schriften des Hrn. Christlob Mylius. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E7FA-E