[108] Auf dem Deiche

1.

Es ebbt. Gemach dem Schlamm und Schlick umher
Entragen alte Wracks und Besenbaken,
Und traurig hüllt ein graues Nebellaken
Die Hallig ein, die Watten und das Meer.
Der Himmel schweigt, die Welt ist freudenleer.
Nachrichten, Teufel, die mich oft erschraken,
Sind Engel gegen solchen Widerhaken,
Den heut im Herzen wühlt ein rauher Speer.
Wie sonderbar! Ich wollte schon verzagen
Und mich ergeben, ohne Manneswürde,
Da blitzt ein Bild hervor aus fernen Tagen:
Auf meiner Stute über Heck und Hürde
Weit der Schwadron voran seh' ich mich jagen
In Schlacht und Sieg, entlastet aller Bürde.

[109] 2.

Bist du es wirklich, sitz' ich neben dir,
Und stoßen aneinander unsre Gläser,
Spielt irgendwo versteckt ein Flötenbläser
Sein sanftes Schäferstückchen, dir und mir?
Und sitzen in der alten Halle wir,
Am Pfeiler dort der Kranz der Aehrenleser,
Noch unverwelkt die Blumen und die Gräser,
War gestern unser letztes Erntebier?
Wie Gruß aus Grüften ruft der Regenpfeifer
Häßlich herüber schreit das Möwenheer,
Der seeenttauchten Bank Besitzergreifer.
Langweilig, öde, gleißt das Wattenmeer,
Gezwungen schläft das Schiff, der Wellenschweifer,
Und einsam ist die Erde, wüst und leer.

[110] 3.

Wie klar erschienst du heute mir im Traum,
Wir saßen in der Kneipe fest und tranken,
Bis wir gerührt uns in die Arme sanken,
Auf unsern Lippen lag der erste Flaum.
Dein falber Wallach schleifte Zeug und Zaum,
Und biß und schlug und warf den Hals, den schlanken.
Im Sattel, sah ich dich, erschossen, schwanken,
Und hinstürzen am wilden Apfelbaum.
Die Watten stinken wie das Leichenfeld,
Wo viel Erschlagne faulen nach der Schlacht,
Tagüber sonnbeschienen ohne Zelt.
Geheimnißvoll, wie tot in Bann und Acht,
Sinkt, grau und goldumhaucht, die Halligwelt,
Und aus der Abendröte steigt die Nacht.

[111] 4.

(Begegnung.)


Halt, Mädchen, balt! und sieh dich um geschwind,
Viel Schiffe schaukeln westwärts durch die Wellen,
Viel hundert bugumspritzte Sturmgesellen,
Hengist und Horst befahlen Weg und Wind.
Du lachst mich aus und zeigst dich völlig blind,
So mögen aneinander sie zerschellen.
Hier aber blitzen Fliegen und Libellen,
Verzieh ein Stündchen, frisches Friesenkind.
Auch uns hat heut der Juni eingewiegt,
Und Schmetterlinge selbst, die Gauklerbande,
Sind durch die Frühlingsstürme nicht besiegt.
Auch hier ein Sommertag, an diesem Strande,
Wo alles schwirrt und flirrt und flitzt und fliegt,
Aus Freude flimmert selbst der Stein im Sande.

[112] 5.

(Dezember.)


Von Norwegs Felsen klingt es zu mir her,
Ein Lied so rührend und im Klang so leise,
Wie Sommerwellgespül dieselbe Weise;
Ein armer Geistgetrübter singt so schwer.
Ein junger blonder König steht am Speer,
Auf rotem Vorsprungriff, um ihn im Kreise
Kauern, das Haupt zur Erde, hundert Greise;
Er singt das Lied und schaut hinaus ins Meer.
Lautlose Stille rings. Von Zeit zu Zeit
Tutet das heisere Horn der Küstenwachen,
Der Rabe macht entsetzt die Flügel breit.
Weit, weit antwortet wo der Fischernachen,
Der sich im Nebel schwer vom Eis befreit,
Schollen, die knirschen und ihn wüst umkrachen.

[113] 6.

(Einsamer Baum.)


Funkelt dort die Säulenfronte,
Ueberdacht von einer Pinie?
Einsam, fern am Horizonte,
Fern am Deich, der blassen Linie,
Steht ein Bäumchen, krank und ruppig,
Ohne Blätter, ohne Nest,
Schwarz vom Seesalz, kraus und struppig,
Arg zerzaust vom ewigen West.
Einmal ist er grün geworden,
Als ein heißes Land im Süden
Sandte seinen Gruß nach Norden,
Kuß und Trost dem Lebensmüden.
Einmal blühten seine Zweige,
Einmal zog ein Cymbelzug,
Als in roter Sonnenneige
Dort ein Herz am andern schlug.
Leise kam die Flut gezogen,
Trümmer hob sie von den Watten,
Dunkle Halligwerften trogen,
Todesfeuchte Kasematten.
Durch die Luft, wie müde Greise,
Schleppt ein weiß Gewölke sich,
Abgemattet von der Reise,
Marsch aus fremdem Himmelstrich.
[114]
Bleicher Stern im Wolkenspalte,
Wild phantastische Gebilde,
Menschen, nordisch nüchtern kalte,
Odins Schwert und Asenschilde.
Hohe Flut, gelispellose,
Spielt heraus zu Deich und Baum.
Meine blasse Küstenrose
Lehnt an mir, ein süßer Traum.
Nun von meinem Fenster seh' ich
Oft den Baum mit toten Zweigen.
Unter seinen Ästen steh' ich
Oft im tiefen Winterschweigen.
Oft, ich halt' des Hutes Krempe,
Freut mich dort der Wetterstreit,
Singt der Sturm, der rasche Kämpe,
Grenzenloser Einsamkeit.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Liliencron, Detlev von. Auf dem Deiche. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-EEAE-D