Zwei Verlorne

1. Ich

Ob ich denn keine lieb gehabt,
Fragst du, verlornes Kind –
Ihr Auge war blau, rotgoldig ihr Haar,
Wie deine Zöpfe sind.
Ihre Hand war weiß wie deine Hand,
Rein war sie an Seele und Leib –
Doch, Mädel, du kennst ja mein schönstes Gedicht:
Sie ist eines anderen Weib.
Und noch eine andere teuer mir war,
Sie hing wie ein Hund an mir,
Ich wurde es satt und trat mit dem Fuß
Sie von mir wie ein Tier.
Nun finde mich bloß nicht interessant,
Hier hast du dein Geld, liebes Kind,
Gute Nacht, es friert mein kaltes Herz
Und draußen pfeift der Wind.

Münster, 20. November 1889

[121] 2. Sie

Du hast dein Lieben mir erzählt
In unsrer letzten Nacht –
Nun höre, wie mir das Herz berauscht
Und wer es krank gemacht:
»Der erste war ein Handwerksmann
An Wort und Händen rauh,
Er bat mit plumpen Worten mich
Zu werden seine Frau.
Ich wollt' ihn nicht – ein andrer kam
Mit Händen weiß und schön.
Mit süßem Wort – mein junges Herz
Konnt' ihm nicht widerstehn.
Sechs heiße Monate und dann –
Dann ward er meiner müd' ...
Mein Vater warf mich aus dem Haus –
Es ist das alte Lied.
– Rauh war sein Wort und rauh seine Hand,
Treu hat er es gemeint;
Als er mein trauriges Los erfuhr,
Hat er um mich geweint. –
Nun laß die Falten von der Stirn
Und komm in meinen Arm,
Damit dein kaltes Herz nicht friert –
Mein Bett ist weich und warm.«

Münster, 4. Dezember 1889


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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Löns, Hermann. Zwei Verlorne. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-23CD-7