Die kleine Blanche

An dem kleinen Hofe von Navarra
War das Leben eine lose Fabel,
Eine drohnde oder heitre Maske,
Eine überraschende Novelle,
Ein phantastisch wahrheitloses Schauspiel –
Der am Hofe war auf kurzen Urlaub,
Hauptmann Duplessis saß vor der Bühne,
Drauf ein Mädchen an verratner Liebe
Starb. Im letzten Akte lag sie marmorn
Auf dem Grabmal als ihr eigen Bildnis,
Schluchzend rang die Hände der Verräter,
Sieh! da hob sie sachte sich und lebte.
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Andern Tages wandelte der Hauptmann
In des Schlosses irrsam dunkeln Gärten,
An die zarte kleine Blanche denkend,
Die er schnell geküßt und schnell verraten –
Etwas sieht er schimmern durch Zypressen:
Auf dem Grabmal liegt die kleine Blanche
Marmorn. An dem Sockel ist zu lesen:
»Blanche schlummert nach verratner Liebe.«
»Heb dich, kleine Blanche!« ruft der Hauptmann.
»Wickle dich aus deinen weißen Tüchern!
Spiel nicht mit dem Tode, kleine Blanche!«
Doch der Marmor fühlte nichts. Es fühlte
Nichts, die drunter schläft. Sie starb im Ernste.

Notes
Entstanden wohl 1874, Erstdruck 1883.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Meyer, Conrad Ferdinand. Die kleine Blanche. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-33D1-D