Die Jungfrau

Wo sah ich, Mädchen, deine Züge,
Die drohnden Augen lieblich wild,
Noch rein von Eitelkeit und Lüge?
Auf Buonarottis großem Bild:
Der Schöpfer senkt sich sachten Fluges
Zum Menschen, welcher schlummernd liegt,
Im Schoße seines Mantelbuges
Ruht himmlisches Gesind geschmiegt:
Voran ein Wesen, nicht zu nennen,
Von Gottes Mantel keusch umwallt,
Des Weibes Züge, zu erkennen
In einer schlanken Traumgestalt.
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Sie lauscht, das Haupt hervorgewendet,
Mit Augen schaut sie, tief erschreckt,
Wie Adam Er den Funken spendet
Und seine Rechte mahnend reckt.
Sie sieht den Schlummrer sich erheben,
Der das bewußte Sein empfängt,
Auch sie sehnt dunkel sich, zu leben,
An Gottes Schulter still gedrängt –
So harrst du vor des Lebens Schranke,
Noch ungefesselt vom Geschick,
Ein unentweihter Gottgedanke,
Und öffnest staunend deinen Blick.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Meyer, Conrad Ferdinand. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1892). 1. Vorsaal. Die Jungfrau. Die Jungfrau. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-344A-6