Lied einer Nonne

Im Frühling.


1773.


Trocknet, milde Frühlingslüfte,
Meine vielen Thränen auf!
Send', o Abend, deine Düfte
Zu der Zelle mir herauf!
Aber Philomele stimmet
Wieder mich zum Klageton,
Und in frischen Zähren schwimmet
Mein erloschnes Auge schon!
[228]
Dank dir, liebe Philomele,
Daß du in mein Leiden weinst,
Daß mit einer frommen Seele
Du zu Klagen dich vereinst!
Menschen, die mich schlau betrogen,
Kennen kein Erbarmen mehr!
Augen, die mir Liebe logen,
Sind von Mitleidsthränen leer!
Aber treue Liebe füllet,
Guter Mond am Himmel, dich!
Meinem Auge gleich, verhüllet
Deines in den Schleier sich!
Um die bleiche Wange wallen
Weinende Gewölke nur;
Und in Perlentropfen fallen
Thränen auf die Blumenflur.
Rosen schließen, ungesehen,
Sich im Klostergarten auf;
Fromme Frühlingswinde wehen
Ihren Wohlgeruch herauf!
Unbeklagt, wie ihr, verfärbet
Sich, ihr Rosen, mein Gesicht!
Liebe Rosen, warum sterbet
Ihr auf meinem Grabe nicht?

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Miller, Johann Martin. Lied einer Nonne [1]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3780-7