Die Geliebte

1774.


Noch irr' ich einsam, ohne Gefährtin noch
Durchs trübe Leben; weine noch ungeteilt
Der Freude Thränen und des Kummers,
In der vertraulichen Abenddämmrung.
[247]
Zwar oft in Stunden heller Begeisterung
Stieg eine Bildung nieder, und lächelte;
Voll Sehnsucht seufzt' ich: Komm, Erwählte!
Aber in Schatten zerfloß die Täuschung.
Umsonst, o Daphne, führte die Liebe dich
Entgegen mir, umgaukelt von Hoffnungen;
Ein Wink des Schöpfers! und sie stürzten
Tief in der ewigen Trennung Abgrund!
Daß du es heiltest, flehte mein wundes Herz
Dir oft, Elise, weinte dir schweigend nach;
Mitleidig sahst du mich, und bebtest
Ach! in den Arm des geliebtern Jünglings.
Unsichtbar schwebt um jegliche Seel', als Freund,
Ein Engel Gottes, bildet der Tugend sie,
Folgt ihr bis an die Nacht des Grabes,
Winkt ihr, und schwingt sich mit ihr zu Gott auf.
Doch wessen Herzen höhere Seligkeit
Schon hier des Richters lohnende Schale wog,
Dem eilt aus Edens Flur ein Engel,
Sichtbar, in Mädchengestalt, entgegen.
[248]
Und jeder Wonne schließt sich sein Busen auf,
In Frühlingsauen wandelt die Schöpfung sich,
Leicht wird ihm jede Pflicht, und heller
Winket dem Waller die Siegespalme.
Laß laute Stürme toben! Ihr schweigen sie.
Laß bange Thränen rinnen! Sie küßt sie auf.
Und, öffnet sich das Grab, so folgt ihm
Bald der geliebte, getreue Geist nach. –
O Gott! Wenn reines Herzens ich bin vor dir,
Wenn wert ich dieser himmlischen Freundin bin;
So sende sie aus Edens Fluren,
Daß ich mit ihr dir entgegen wandle!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Miller, Johann Martin. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. Die Geliebte [1]. Die Geliebte [1]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-37C8-7