Frühlingslied

(Im Mai 1788.)


Gottlob! der Winter schließt nicht mehr
Uns ein ins dumpfe Zimmer.
Rein strahlt die Luft, und flockenleer,
Im milden Sonnenschimmer.
Die Au' hüllt in blumigen Teppich sich ein,
Und Lieder durchwirbeln den knospenden Hain.
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Gefühl des Daseins, Liebeslust
Jauchzt auf von allen Zungen.
Von Wonne fühlt auch meine Brust
Allmächtig sich durchdrungen.
Wohin jetzt mein trunkenes Auge nur blickt,
Fühlt alles vom strotzendem Mai sich beglückt.
Doch ach! So manchen Kranken hält
Daheim das Schmerzenlager!
Und mancher Arme schleicht durchs Feld,
Von Gram entstellt und hager.
O Blümchen, träuft Balsam auf Wunden voll Schmerz!
Strahl Freuden, du Sonne, dem Armen ins Herz!
Und mancher, ach, der letztes Jahr
Mit mir des Mais sich freute,
Und meines Lebens Wonne war,
Ist jetzt des Grabes Beute.
Nun blüht ihm kein Blümchen, so lieblich es blüht;
Auch schallt ihm vergeblich der Vögelein Lied.
Ruht sanft ihr Toten! Hört ihr schon
Kein Lied jetzt mehr erklingen,
Einst wird zu eurer Gruft der Ton
Des Totenweckers bringen.
Dann leben von Sorgen und Thränen wir frei,
Und droben umblüht uns ein ewiger Mai.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Miller, Johann Martin. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. Frühlingslied. Frühlingslied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3873-E