Clarissa an Cäcilien

1773.


Ach! Cäcilia, verschwunden
Sind in ewig trübe Nacht
Unsers Lebens erste Stunden,
Die so freundlich uns gelacht;
Als noch über unserm Haupte
Freiheit ihre Palmen schwang,
Bis dich Aberglaub' ihr raubte,
Und in seine Fesseln zwang.
Jedes Glück des Lebens fühlten
Wir im unbescholtnen Sinn;
Wie der Unschuld Lämmer, spielten
Wir durchs goldne Leben hin.
[210]
Sahen keine Schlangen lauschen,
Wo wir Blumen blühen sahn;
Hörten vor des Baches Rauschen
Keiner Wetterwolke Nahn.
Armes Lamm! der List des Hirten
Konntest leider nicht entfliehn;
Seine falschen Bande führten
Dich zum Würgaltare hin –
O des Vaters, der im Grimme
Allen Freuden dich entriß!
O der Mutter, die die Stimme
Der Natur verstummen hieß! –
Als du am Altare knietest,
Schon als Opferlamm geschmückt;
Als du, wie die Rose, blühtest,
Die nun bald der Sturm zerknickt;
Als bei lauten Orgelchören
Dich der Pöbel selig sprach:
Ach! da flossen meine Zähren,
Und mein Herz voll Liebe brach.
Noch erschallt in meinen Ohren
Deiner Stimme schwacher Ruf,
Als du jedem Glück entschworen,
Dem auch dich der Schöpfer schuf.
Deine nassen Augen irrten,
Suchten nun zum letzten mich;
Und die Klosterthore klirrten,
Und verschlangen ewig dich.
Ach! da ging ich hin zu klagen,
Daß dich alle Welt verließ,
Daß des Lebens schönsten Tagen
Dich ein wilder Wahn entriß;
[211]
Selig pries ich meine Stunden,
Von der Freiheit Strahl erwärmt,
Selig, auch von Gram durchwunden,
Auch von jeder Angst umschwärmt. –
Aber tausend Leiden stürzten
Über meine Seel' herab!
Menschentrug und Frevel kürzten
Alle meine Freuden ab. –
Weine nicht in deiner Zelle,
O Geliebte, weine nicht!
Naht doch ihrer Ruhestelle
Sich kein frommer Bösewicht.
Außer ihren sichern Mauren
Siegen Arglist und Gewalt;
Auf der Tugend Frieden lauren
Tausend Feind' im Hinterhalt.
Schmeicheln im Gewand der Liebe
Sich in unsre Seelen ein,
Und der heiligste der Triebe
Wandelt sich in jede Pein.
Wiß! Es trog um alle Freuden
Ein verkappter Bube mich!
Sittsam kam er und bescheiden,
Schlich in meine Seele sich.
Blumen lachten mir entgegen,
Die sein Zauber hieß entstehn;
Liebe kam, mich zu bewegen,
Mit durchs Leben hinzugehn.
Aber, o! in Wüsteneien
Wandeln alle Fluren sich;
Tausend Ungeheuer dräuen,
Und mein Führer fliehet mich.
[212]
Schenkt an feile Buhlerinnen
Seinen falschen Flattersinn;
Und in trübem Jammer rinnen
Alle meine Stunden hin.
Freundin! ach, der Qual erlegen
Wäre meine Seele schon;
Käm' uns Jesus nicht entgegen,
Und mit ihm Religion.
Wenn ihr Strom uns nicht entquölle,
Wo der Lebensbach verrinnt;
O, so wär' ein Leben Hölle,
Wo so viele Teufel sind!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Miller, Johann Martin. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. Clarissa an Cäcilien. Clarissa an Cäcilien. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3876-8