[84] Herbst

1.

Hörst du die Bäume im Windstoß zischen?
Siehst du, wie sie sich drehen und winden
unter des Regens tausendsträhniger Geißel?
Gekrümmten Rückens, erstarrten Blutes,
flüstern sie unaufhörlich heisere Flüche
in den kalten, grausamen Herbst hinaus.
Blühten sie nicht in dankender Schönheit
Göttern und Menschen auf?
Bargen der Vöglein süßes Geschwätz nicht treu?
Schildeten nicht vor Schloßen das zarte Beet?
Und der Sonne furchtbare Feuer –
wer empfing sie, sich lautlos opfernd? ...
Sieh, wie die Armen im Sturm erschauern –:
Wie langzottige frierende Hunde,
denen das nasse gesträubte Fell
überwirbelt nach vorne weht,
trotzen gesträubt die trostberaubten,
und ihr herzzerbrechendes Seufzen
rauscht umsonst
ans graue Gewölb der Wolken.

[85] 2.

Der graue Herbst
lädt mich zu sich hinaus,
übern grauen See,
übern grauen Wald,
in die graue, graue Himmelsferne ...
Bin ich der einzige Mensch der Erde? ...
Tiefe Verlassenheit fällt mich an.

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TextGrid Repository (2012). Morgenstern, Christian. Herbst. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3CF3-E