An denselben

als er sich leidenschaftlich mit Verfertigung von Sonnenuhren beschäftigte


Mai 1840


Hör Er nur einmal, Herr Vetter,
Was mir diese Nacht geträumet!
Sonntag war es, nach Mittage,
Und ich sah vom Fenster Seines
Alten gelben Gartenhäuschens,
Wie die Bürgersleute ruhig
Vor der Stadt spazierengingen.
Und ich wandte mich und sah Ihn,
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Der im Anfang nicht zugegen,
Ernsthaft vor dem Spiegel stehen,
In der Stellung eines Mannes,
Der sich zu balbieren trachtet.
Doch indem ich näher trete
Muß ich voll Erstaunen sehen,
Wie Er sich mit schwarzer Farbe
Auf Sein rundes Vollmondantlitz
Einen saubern Halbkreis malte;
Von der linken Schläfe abwärts,
Zwischen Mund und Kinn hindurch, und
So hinauf die rechte Backe.
Jetzo mit geübtem Pinsel
Zeichnet' Er entlang dem Zirkel
Schöngeformte römsche Ziffern,
Kunstgerecht, von eins bis zwölfe.
Und ich dachte: ach, mein lieber
Vetter ist ein Narr geworden! –
Denn Er sah mich an mit Augen,
Die mich nicht zu kennen schienen.
Überdem stellt' Er sich förmlich
An das Fenster in die Sonne,
Und der Schatten Seiner Nase
Sollte nun die Stunde weisen.
Ach, die Leute auf der Straße
Wollten fast sich Kröpfe lachen!
Was nun dieser Traum bedeute?
Ich will Ihn just nicht erschrecken:
Aber laß Er Sein verdammtes
Sonnenuhrenmachen bleiben!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Mörike, Eduard. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1867). An denselben. An denselben. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-41BA-1