[146] Vermächtnis

Ihr Kameraden der Not,
hört mein Gebot!
Hört mein Vermächtnis!
Es kommt die Zeit, da das Feuer loht,
da die Welt sich befreit,
da das Leben in lockenden Sprachen spricht.
Vergeßt eure Not, eure Leiden nicht!
Ich lehr euch: Gedächtnis!
Ihr Kameraden der Haft,
schont eure Kraft!
Bändigt die Sorgen!
Was Wut und Scham eurer Leidenschaft,
euerm Willensdrang nahm,
was Leids sich im Herzen euch häufen mag:
es wird alles gebraucht für den kommenden Tag.
Spart's auf für das Morgen!
Ihr Kameraden der Nacht,
steht auf der Wacht!
Lernt von den Bütteln!
Was Haß euch lehrt und mißbrauchte Macht,
sei gepflegt und vermehrt.
Ein Altar aus verwartetem Ekel und Groll,
von der Liebe entbehrten Küssen voll –
wer will daran rütteln?!
Ihr Kameraden im Tod,
hört mein Gebot!
Mein letztes Vermächtnis!
Bald wird vielleicht uns das Henkerbrot
in den Kerker gereicht.
Dann segnet das Blut, das dem Leibe entrinnt!
Es fließt zur Jugend, die Rache sinnt –
und lehrt sie: Gedächtnis!
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Notes
Erstdruck in: Sammlung 1898-1928, Berlin (J. M. Späth-Verlag), 1928. Eine vom Autor selbst zusammengestellte Lyrik und Prosa-Anthologie.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Mühsam, Erich. Vermächtnis. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-4479-0