Das Trinklied

Stimmt eure Seelen zu festlichen Klängen,
füllt eure Herzen mit jauchzendem Wein! –
Denn die Jahre der Jugend drängen,
und das Alter bricht polternd herein. –
Noch strahlen uns Sonnen, noch blinken uns Gläser –
noch lachen uns Lippen und Brüste heiß –
noch blühen die Blumen, noch grünen die Gräser –
aber eilt euch: was rot ist wird weiß!
Rasch ziehen vorüber die glücklichen Stunden. –
Hält uns nicht die Jugend – wir halten sie nicht!
Wehrt euch der Würde! – Der ist überwunden,
den fromme Sitten plagen und Pflicht!
Nieder mit dem, den Sorgen bedrücken –
denn der weiß nicht, was Leben heißt:
Lebend genießen, lebend beglücken –
aufs Leben trinken, bis es zerreißt!
Trinken! Trinken! Auf Leben und Sterben!
Leben! Leben! Auf Blut und Kuß!
Leert den Pokal, dann keilt ihn in Scherben!
Lebt euer Leben – und dann ein Schuß!
Trinken ist Leben, und Leben ist Trinken!
Nieder der Schwächling, der trunken fällt!
[11]
Wein her! – Wir wollen im Leben versinken!
Das Leben her! – Es lebe die Welt!

Notes
Erstdruck in: Die Wüste, Gedichte von Erich Mühsam. Berlin (Eißelt) 1904.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Mühsam, Erich. Das Trinklied. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-4483-9