370. Die Frau mit dem Wolfsriemen.

Da war einmal eine alte Frau in Husby bei Schleswig, die konnte hexen. Ihre Knechte wußten gar nicht, wie es kam, daß sie alle Sonntage frisch Fleisch auf den Tisch kriegten, weil doch niemals etwas gekauft ward. Ein beherzter Dienstjunge versteckte sich endlich einmal auf dem Heuboden, als die andern alle in die Kirche gegangen waren, und da sah er, wie die Frau einen Wolfsriemen hervorlangte und umlegte. Da ward sie ein Wolf und lief aufs Feld und kam bald mit einem Schaf zurück. Wenn sie so leicht zum Fleische kommt, dachte der Junge, so kann sie es uns auch wohl reichlicher geben. Als daher die Frau das Fleisch in den Topf steckte und dabei nach ihrer Gewohnheit seufzte:


»Ach, du lewe Gott, weer ik bi di!«

da stellte der Junge sich als wäre er der Herrgott und antwortete:

»Nun un Ewigkeit, kummst du nich to mi!«

»Worum denn nich, du lewe Gott?«

»Du giffst dien Volk nich noog in Pott.«

»Ei, so will ik bętern mi.«

»Ja gewis, dat raad ik di!«


und die Frau steckte von nun an ein viel größeres Stück in den Topf.

Der Junge konnte aber nicht schweigen und verriet die Sache im Dorfe. Als die Frau daher an einem Sonntagmorgen wieder ein Schaf holte, paßten ihr die Leute auf; aber keine Kugel schadete ihr, bis man zuletzt eine Flinte mit Erbsilber lud. Seit der Zeit hatte die Frau ihr Lebelang eine offene Wunde, die kein Doktor kurieren konnte.

Durch Herrn Kandidat Arndt.


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TextGrid Repository (2012). Müllenhoff, Karl. 370. Die Frau mit dem Wolfsriemen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-4BDD-9