Eingang in die Erzählung: Adam und seine Kinder unter einem Baume

Stehend unterm schattigen Nußbaume nun Adam, der gottgeschaffene Vater der Menschen, an seiner Hütte; vor ihm sitzt Eva, die teure Mutter, mit ihren schönen Töchtern, Melboe und Tirza, auf dem Moose. Brauner Schweiß rinnt von des Erzvaters Stirne auf den schweren Baum nieder, mit dem er die harte Erde erst losstach. Den schweren Druck der Sünde fühlt er nun oft! Schweigend hängen seine Blicke über den Kindern, und trüber wird's ihm in der Seele; aber nur ein Blick himmelwärts, und der Ruhe sanftes Lächeln erhellt die traurige Stirne wieder. Süßere Rede fließt von seinen freundlichen Lippen bald also: »Teure, gottgeschaffene Mutter, lieben Kinder, welch ein freundlicher Abend! Schöner als diesen habe ich lange nicht, Eva, haben wir keinen außer Edens Fluren noch erlebt! Sehet, ihr Lieben, darum eilt' ich auch früher nach Hause, um ihn so ganz mit und unter euch zu genießen. Wie sich doch alles jetzt erquickt! Alle frohen Geschöpfe singen aus Gesträuchen und von Bäumen der lieben Sonne gute Nacht zu und [25] danken ihrem gütigen Erhalter. Hörst du vor allen der Lerche Abendlied? So hoch sie im Fluge alle andern Buschvögel übersteigt, überschmettert auch ihre helle Zunge alle andern Gesänge der Luft. Sie ist des Morgens und des Abends erste Gefährtin, die früh den Menschen zur Arbeit wecket, auch früh ihn wieder zur Ruhe erquicket; sie bleibt des Ackermanns stete Lust auf dem Felde und erfrischt ihn von oben herab, wenn's schwül um ihn, alles laß und niedergedrückt, in der heißen Stunde des Mittags. Meine Teure, sieh, jetzt fallen mir die ersten selige Tage wieder ein, als ich, nun von Gottes allmächtigem Odem hervorgerufen, ein Neuling in dieser Schöpfung, erwachte, als zum erstenmal der Tagesstern über mir anbrach, zum erstenmal der Abend mir entgegenprangte voller Pracht, und in schauderhafter Stille sich zum erstenmal über mir niederließ die finstre, schwarze Nacht. Ja, süß war die Stunde meines ersten Erwachens ins Leben! Wonnevoll wird die letzte Stunde, die Stunde meines Hinsinkens zum Tode auch sein! Mir ahnet's so fröhlicher Zukunft – ach Gott, mein Schöpfer!«

Und Tirza, Adam's Jüngste, ein wahrer Abdruck ihres Vaters in weiblicher Milde, ganz die hohe, feuertrunkene Seele, die oft in wonnevoller Phantasie in eine andere Welt hinüberschwärmt, ganz in Eden mitten unter Engelchören wandelt, wenn ihre Mutter, die holdselige Eva, daraus ihr vorerzählt. Sie ist das Seelenmädchen, das oft in einsamer Nacht von der Seite ihrer schlummernden Schwester aufsteht, im Mondschein unter dunkeln Buchen, am Gestade des Stroms sich Linderung zu schaffen, Empfindungsdrang von ihrem wunden Herzen loszuweinen, was ihre stammelnde Zunge nicht vermag. Da denkt sie sich oft seligere Zeiten zurück: ihre liebvollen Eltern, wie die noch in Unschuld wandelnd, noch engelrein im Paradiese unermeßliche Seligkeit genossen; und alle diese anmutigen Bilder lassen schweren, drückenden Kummer auf ihrem Herzen zurück und öffnen ihre Augen in immer fließenden Tränen. Allen Jammer ladet sie dann allein auf ihre Seele. Das Heldenmädchen gelobt oft im Taumel heiliger Andacht, die Sünden alle wegzubeten, allein wegzutilgen durch ihr Leiden den Fluch von ihren zärtlichen Eltern, und bringt so manche nächtliche Stunde im hohen Seelenkampfe zu. Jetzt neigt sie ihr blondlockig Haupt zur zärtlichen Mutter herüber, flüstert leise ihr also zu: »Teure, holdselige Mutter, bitte, daß Adam, der gottgebildete Vater, uns jetzt erzähle das erste Erwachen, die einsamen Nächte in Edens anmutigen Gefilden. Ach, lange dürstet mein Herz schon darnach. [26] Teure, süße Mutter, laß deine Tirza nicht umsonst hoffen!«

So sprach sie, hielt flehend der Mutter Hand fest an ihren Busen mit der Rechten; ihre Linke streichelt' sanft Evens holdselige Wangen. Die schöne, gottgeschaffene Mutter nahm also das Wort zu Adam, ihrem Geliebten:

»Mich däucht, ich höre jetzt Abel, unsern Sohn, nach Hause kehren; er spielt auf der Rohrflöte, seine Lämmer vor sich hertreibend; bald wird er auch bei uns sein. Mein Geliebter, noch ist's früh, nicht Essenszeit, obgleich alles bereits in jener Sommerlaube unserer wartet. Wolltest du nicht indessen mich und unsere Kinder hier mit deinen freundlichen Gesprächen erquicken, die Gott immer an unsern Herzen segnet, unser Gefühl nach deinem höhern Gefühle spannen? Ergötzlich ist jetzo der Abend, und wir so geöffneter Seelen. Trauter, erzähle uns jetzo von deinen Empfindungen, als du zuerst in Gottes Garten auferwachtest, nun über dir der neue Tag anbrach, die herzerquickende Sonne nun über dir lief, der Abend sich ausgespannt in seiner Pracht, und in schauderhafter Stille zum erstenmal sich über dir niederließ die schwere, finstere Nacht. Geliebter, erinnerst du dich's noch? Auf der holdseligen Insel im Herzen des Paradieses erzähltest du mir einmal davon. O selige Stunden! Laß mich's heute noch einmal von deinen Lippen vernehmen, schöner, gottgebildeter Adam! Auch unsere Kinder baten dich öfters darum; mach' ihnen jetzo die Freude! Auffassen werden sie alle deine Worte und fest in ihre Herzen verschließen, einst treulich ihren Nachkommen wieder erzählen, Wort für Wort, wie sie das von Adam's Munde vernommen; das wird ihnen ein seliger Trost bleiben und allen denen, die es hören.«

Also Eva, die schöne Mutter. Der gottgebildete Mann aber nahm sie freundlich an der Hand und sprach: »Gerne will ich euch jetzo erzählen, meine Teure; deine Bitte ist mir selber so angenehm. Doch laß uns warten, bis Abel, mein Sohn, auch hier ist. Schon kommt er an dem Garten her, er trägt seinen Stab auf der Schulter, daran ein schön geflochtener, mit Gras bedeckter Korb hängt. In der Hand aber hält er seine schön geschnitzte Wasserflasche; der gute getreue Hund springt vor ihm hin. Gewiß kommt er von der Weide und hat bereits seine Lämmer eingetrieben.« Also Adam.

Abel, der muntere liebreiche Schäfer, ging jetzt die Hecke hervor. In die Mitte kommt er nun herbei und stellt seinen Korb auf die Erde; dann küßt er seiner geliebten Mutter Stirne und des erhabenen Vaters Hand, beide Schwestern aber küßt er zärtlich auf [27] den Mund. Jetzt geht er wieder zum Korbe und spricht: »Etwas Angenehmes hab' ich für euch in diesem Korbe verborgen, Schwesterchen. Welche es rät, soll es sogleich auch von meinem Händen empfangen.«

Also Abel. Lächend hüpft' er um den Korb herum. Tirza sann hin und her. Jüngst begehrte sie von Abel eine Opferschale, die er ihr schnitzen sollte; sie hatte sie selbst ausgedacht bei nächtlicher Weile: schön rund sollte sie sein und tief ausgehöhlt, Früchte darein zu legen; auf jeder Seite gegenüber sollte ein Cherub stehen mit doppelten Flügel nach Adams Abbildung. Sonne und Mond sollten darauf stehen, der Morgen-und der Abendstern; unten und oben aber zögen sich Kränze von mancherlei Blumen herum, die Abel mit Saft von wilden Beeren bestreichen und schön bemalen wollte. Jetzt glaubte sie ganz gewiß, er habe diese Opferschale heimlich vollendet und wollte sie ihr unversehens vor ihren geliebten Eltern schenken, um ihr Herz in Freude zu überraschen. Freundlich steht sie auf, hinzugehen; aber Melboe, ihre geliebte Schwester, war bereits am Korbe. Die schiebt neugierig oben das Gras weg und spricht anmutsvoll zu ihrem geliebten Bruder also: »Nicht doch, laß uns viel lieber gleich sehen, was du uns Gutes heimgebracht, liebster Bruder, als so lange raten. Ei sieh' doch, teure Mutter! liebster Vater! Schwesterchen sieh' mal, welch ein schön Tierchen, o wie unschuldig! Einen jungen Hirsch, Schwesterchen, ein klein Reh hat Abel, der liebe, im Korb mit heimgebracht. Sag' mir doch, Bruder, wo hast du's gefangen?«

Jetzt treten alle hinzu, sich an dem unschuldigen Geschöpfe zu erfreuen, das so vertraulich vor ihnen lag. Eva sprach zu Adam also: »Welche auch dies Rehchen von ihren Bruder empfängt, immer wird es die andere schmerzen, denn ich sehe, beider Herzen hängen daran. Mich dünkt, Vater, wir wollen es unserer Jüngsten für eigen lassen; aber Melboe, unsere liebevolle, darf sein warten und pflegen und also auch ihre Freude mit daran genießen.« Dies sagte die Mutter und war eben im Begriffe, es also unter ihre Töchter zu verteilen. Aber nicht weit davon stand des Rehes Mutter. Immer war sie Abel nachgelaufen, jetzt kam sie unter den Linden hervor mit aufgereckt forschenden Ohren und schaute sehnlich nach ihrem Kinde umher. Immer näher ging sie und trat furchtlos hinter Adam, dem ersten Menschen, zur teilenden Mutter herbei, legte leise das Haupt auf ihre Schulter.

Der erhabene Vater aber spricht also: »Du teilest unrecht, [28] schöne Eva; meine Liebe, sieh hinter dich, noch eins steht und erwartet sein Teil schmerzlich, und ich hoffe zu deinem mütterlichen Herzen, du wirst ihm das nicht versagen können. Eva dreht sich, erblickt die Rehmutter, betroffen steht sie auf. Adam aber spricht zu ihr weiter: »Kennst du dies Reh nicht mehr, Eva? Ist doch eine alte Bekanntschaft; erinnerst du dich nicht mehr im Paradiese, in Eva's schöner Grotte, wen ich dir zuerst da zugeführt? Sieh, sie lenkt deine Hände, die teuern Hände, die ihr so oft damals geliebkoset. Komm, gib ihrer Liebe Raum! Laß uns dort ins Grüne ihr Junges hintragen und so wieder ihrer mütterlichen Pflege überlassen. Süß sind Muttersorgen, das weißt du, meine Teure!«

Eva winkt nun Melboe; die nahm sachte das Reh aus dem Korbe hervor und hielt es nieder. Freudig sprang's aus ihren Händen zur ernährenden Mutter hinüber; freundlich empfing die es unter ihre Beine und tränkt' es. Eva legt ihre Hand auf der Rehmutter Stirne und spricht: »Sei mir gesegnet, die du in Unschuld Eva gekannt! Viel selige Stunden haben wir damals miteinander genossen; reich war damals Eva an Freuden, an ewigen, seligen Schätzen; jetzt reich an liebem Kummer, an mütterlichen Sorgen dafür! O komm noch oft zu mir!«

Sie sprach so und trat auf die Seite, ihrem gedrückten Herzen Raum zu lassen; die Rehmutter aber zog durch Ginster und Sträuche mit ihrem lieben Jungen wieder davon.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Müller, Friedrich (Maler Müller). Gedichte. Gedichte. Adams erstes Erwachen und erste selige Nächte. Eingang in die Erzählung. Eingang in die Erzählung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-50BF-2