Sturmlieder vom Meer

[159][161]

In der Not

Durch knorrige Fichten pfiff der Sturm,
der Himmel war wie lauter Blut.
Aus gierigen weißen Wogen griff
mit Flammenarmen die Abendglut.
Und der Sturmball stieg am Mast empor:
Ein Schoner tanzte im Orkan.
Und die Flagge flog. Mit scheuem Blick
in die stürzende Gischt die Schiffer sahn.
Und der Sturmball stand, und der Sturmball fiel, –
die Lotsen zogen die Ruder ein.
O du tanzendes Schiff, o du schwankender Kiel,
nun mag der Himmel dir gnädig sein!
O du ringendes Herz in der Not, in der Not . . .
und der Hafen so nahe, der Friedensport!
Und wieder treibt dein Dämon dich
ins Uferlose fort –
Und die Glut erlosch. Mit Raubtierschritt
schlich über die Düne die Nacht daher.
Ich sah sie lehnen am Hafendamm
und die Hände strecken weit über das Meer.

[161] Flamme

Was sträubst du dich der süßen Glut,
die züngelnd schon dein Haupt versengt,
die liebeheißen Atems dich
mit Flammenarmen eng umdrängt?!
Die Glut bin ich – und du bist mein!
wirf ab, wirf ab das Alltagskleid:
gib deine ganze Seele hin
in ihrer nackten Herrlichkeit!
Umschlingen will ich glühend dich
und pressen dich ans heiße Herz,
die Kette schmelzen, die dich band,
in meinem Kuß wie tropfend Erz!
Und flüstern will ich dir ins Ohr
ein Wörtlein, zaub'risch wunderfein,
daß du nichts andres denken sollst,
als mich allein, als mich allein . . .

Maiensegen

Nun ruht in weißen Schleiern
die See, umspielt vom West,
und Himmel und Erde feiern
das große Liebesfest.
Da strömt in rinnendem Regen
hernieder Kuß auf Kuß,
der rings zu Frucht und Segen,
zur Blüte werden muß.
[162]
So ruht in weißen Schleiern
mein Herz in deiner Brust,
und unsere Seelen feiern
die ewige Hochzeitslust.
Da strömt wie rinnender Regen
dein Kuß auf meinen Leib,
daß er zum Maiensegen
werde deinem Weib . . .
Ein Duften reifer Tage
um unsere Stirnen weht,
da wieder die singende Sage
durch flimmernde Fluren geht:
– daß kein Leid mehr bliebe,
wenn über der grünen Welt
die junge Frühlingsliebe
die flatternde Fahne hält!

Spaziergang

Ueber der tauigen Wiese liegt
ein feiner, dämmernder Nebelstreif;
um deine träumende Stirne schmiegt
sich ein schmaler sonniger Reif.
Und küßt die Sonne den Nebel bleich,
dann wächst aus der Wiese ein goldnes Haus,
dann breitet ein blühendes Königreich
sich bis an die blauenden Berge aus.
[163]
Eine flammende Fahne weht vom Turm,
aus den Hallen klingt es wie Jubelschrein,
– ein Sonnenrausch, ein Freudensturm
bricht über das harrende Land herein.
Hoch über die Häupter der Berge fliegt,
im Blau verzitternd, ein blasser Streif . . .
um deine leuchtende Stirne liegt
glitzernd der goldene Reif.

Empfängnis

Nimm mich fest in deine Arme,
kette mich an deine Brust,
daß mein zitternd Herz erwarme.
Zu dem Eiland, das inmitten
liegt des breiten Stroms der Lust,
gleiten wir mit Christusschritten.
Fern am Ufer unser Boot.
In den früchteschweren Bäumen
glüht das erste Morgenrot.
Eine süße Stimme ruft,
und es wandeln weiße Träume
durch der Heimat Ambraduft.
Dort im grellen Mittagsschein,
wo die tiefsten Wünsche reifen,
werden du und ich nicht sein . . .
[164]
Aber wieder ich und du: –
Zartgewebt aus Wolkenstreifen
winkt ein liebes Bild uns zu.
Seidenweiches Lockenhaar
seh ich goldne Schleier breiten . . .
und mich grüßt aus Ewigkeiten
unsres Kindes Augenpaar.

Ewige Erkenntnis

Da kamst du, totes Mütterlein,
und sahst mich an mit Liebesblick
und legtest zärtlich deinen Arm
um meine jugendstarke Brust, –
und von den lieben Lippen klang
der Jubelschrei:
O Gott, wie die Glückseligkeit
dem Kinde in den Augen glüht!
Und alles Leid, das zwischen uns
die Berge von Gilboa hob,
zerrann wie Tau im Morgenschein.
Nun siehst du, totes Mütterlein,
wie heilig deines Kindes Glück:
so weltenweit, so himmelhoch,
daß es aus Edens Gärten dich
hinab ins Tal der Schmerzen zog, –
daß dir, die Gottes Angesicht
und aller Himmel Glorien sah,
[165]
in deines Kindes Augen erst
der ewigen Erkenntnis Blick
Vollendung ward der Seligkeit . . .
Nun schlafe, totes Mütterlein!

Morgenandacht

Ein scheues Ahnen, das sein Haupt verhüllt,
ein tiefes Sehnen, das sich nie erfüllt,
ein blasser Mondstrahl der verträumten Nacht,
so irrt dein Bild durch diese Morgenpracht.
Aus feuchten Nebeln steigt der klare Tag,
aus zartem Grün ein erster Finkenschlag, –
und fern schon grollt, der großen Stille satt,
der Straßenlärm der Millionenstadt.
Sie ruft nach mir, sie ruft mein Herz, mein Hirn
zu harter Fron . . . da rührt an meine Stirn
ein Hauch, so lind wie eine liebe Hand:
und deinen Namen schreib ich in den Sand.

Fata Morgana

Wo Luft und Wasser sich verbanden
am fernsten blauen Himmelsrand,
ist wie durch Götterwink erstanden
ein neuer niegeschauter Strand.
[166]
Wo aus dem weichen Bett der Wogen
die Sommersonne jüngst erstand,
da wächst es auf zum Himmelsbogen:
ein Märchenreich, ein Wunderland . . .
Ich schau in duftumflossne Räume;
ein Kindersehnen ist erfüllt,
nun sich die Heimat meiner Träume
im hellen Lichte mir enthüllt – –
Des Ostwinds Rauschen in den Wipfeln
vernehm ich fast des Buchenhags;
ich seh auf schneegekrönten Gipfeln
das Leuchten des Mittsommertags!
Und tief im Tal, wo Nebel spinnen,
wo scheu die Märchenblume sprießt,
steht irgendwo mit goldnen Zinnen
das Königsschloß, das dich umschließt . . .

Helle Nächte

Siehst du, wie tief schon die Sonne steht
und wie so rot ihr Licht?!
Ob sie in funkelnden Wassern zergeht,
uns beiden stirbt sie nicht.
Uns leuchtet die Nacht, die niedersinkt
und ladet zum letzten Genuß – –
und unsre lebendige Seele ertrinkt
jauchzend im Schöpferkuß!
[167]
Du und ich, wir beide
träumen in trunkner Nacht.
Von verblaßter Seide
sind wir überdacht.
Ein Flimmern wie vom Tage
fließt um den schwarzen Tann –
eine blasse süße Sage
sieht uns lachend an.
Sie singt: »wenn zwei sich finden,
die sich von je gehört,
ein Leuchten soll es künden,
das keine Nacht zerstört.
Ein Singen soll es sagen,
das nicht im Sturme zerrinnt« –
und in den Syringenhagen
säuselt Mittsommerwind.

Tannenduft

Die Douglastanne streute ihren Duft
voll herber Würze in die Spätjahrsluft.
Die Düne barg uns vor des Nordsturms Wut –
tief war die Nacht, so tief wie Meeresflut,
wie Liebe tief.
Da rang aus feuchtem Moos
zu unsern Füßen sich ein Keimchen los
und senkte seine Fasern tief zum Grund;
und fabelhurtig wuchs es, Stund um Stund,
und trieb im Schnee – –
und nun der Sommer kam,
erblüht ein Baum hier, hoch und wundersam;
in seiner Zweige immergrünen Schlingen
[168]
fängt sich der Wind, daß sie wie Saiten klingen;
aus seiner Krone aber bricht der Brand
der Flammenlilie aus dem Märchenland,
und Elfenkinder schweben hin und wieder
und gießen Duft aus vollen Schalen nieder,
so stark und süß, wie einst in Spätherbstnacht
der Tannenduft, der uns berauscht gemacht . . .

Mittagstraum

Sengend über den Feldern
brütet die Juliglut,
der Weizen reift im Brande,
und alles Leben ruht.
Kein Grashalm wogt im Winde,
kein Vogel singt im Baum;
durch meine Seele flutet
ein goldiger Mittagstraum.
Tief in zitternde Aehren
bin ich der Welt entflohn,
großblumig mir zu Häupten
blüht der rote Mohn . . .
Er kränzt mir Haar und Stirne
mit flammendem Geschmeid, – –
all meine Wünsche reifen
der großen Erntezeit.

[169] Reifes Glück

Meine Blütenjahre sind
ungenutzt dahingeflossen;
denn das Glück hielt seine Pforten
neidisch vor mir zugeschlossen.
Lachend schaut es durch den Spalt,
nun des Sommers Rosen starben –
und von seinem Erntefelde
beut es mir die reifen Garben.

Reife

An verstaubten Straßenrändern,
am verblühten Schlehdornhag
durch den reifen Sommertag
wunschlos, wahllos, ziellos schlendern . . .
Sonnentrunkne Falter irren
taumelnd über Korn und Mohn, –
aus den Feldern kommt ein Ton
leis und scharf wie Sensenschwirren.

Alte Weise

Horch auf: die alte Weise von Dämmern und Verwehn,
der Herbstwind singt im Laube, – und du mußt von mir gehn!
Dein Haupt an meiner Schulter umrankt der rote Wein;
um blasse Spätjahrsrosen spinnt müder Sonnenschein.
Die Welt ist klingender Klagen und sterbender Stimmen voll . . .
wir aber reden vom großen Frühling, der kommen soll.

[170] Vom Sterben

1. Höhentod

Zwischen Morgen und Abend
dehnt sich ein schweres Joch;
und wenn die Schatten steigen,
flammen die Gipfel noch.
Die Hohen, die Stolzen, die Letzten,
des leuchtenden Tages Erben – –
auf dieser Gipfel höchstem,
Ewiger, laß mich sterben!

2. Der letzte Gang

Reich mir den Kelch! Und deine Hand!
Und komm! Das Dunkel bricht herein.
Die Blätter schauern kühl und krank;
noch wehn sie nicht in unsern Wein.
Kein Auge sieht bei Nacht uns nach
und weint um uns bei Morgenschein –
Reich mir den Kelch! Und deine Hand!
Und komm! Wir werden selig sein.

[171] 3. Spuk

Der Sturm erstarb. Die Woge singt
ihr zitternd Lied dem Abendrot.
Ueber die dunkle Düne klingt
ein Schluchzen wie aus letzter Not . . .
Der kühle Hauch des Wassers streift
mich scheu wie ein verstoßner Schmerz,
– und spukhaft aus dem Dämmer greift
mir eine blasse Hand ans Herz.

4. Im Reiche des Todes

Und nimmst du gleich die Welt zum Raub,
durch deine Reiche schreit ich;
über das fallende Lindenlaub
und meiner Ahnen wehenden Staub
die segnenden Hände breit ich!
Du bist der finstere Sieger nicht;
du dienst dem lachenden Leben!
Aus deinen Tiefen keimt und bricht
und muß zum flammenden Sonnenlicht
die junge Saat sich heben.
[172]

Die Ernte

Weiße flimmernde Sonnenflut
rings auf den wogenden Weiten ruht;
rüstige Mäher bei scharfem Schnitt – –
schwirrende Sensen singen mit:
Die Halme fallen.
Und hart am staubigen Straßenrain
schafft tief gebückt ein Mütterlein;
schon manche brennende Stunde lang
sirrt und surrt der Sichelklang – –
Die Halme fallen.
Da schaut aus schimmerndem Aehrenfeld
der Gutsherr auf zum Wolkenzelt:
– »Vorwärts, ihr Leute, die Stunde rinnt!
In den Klüften murrt der Gewitterwind –«
Die Halme fallen.
Und in den perlenden Abendtau
blickt so fröhlich die alte Frau;
sie wischt von der Stirne den hellen Schweiß
und zählt im Geiste der Garben Preis.
Die Halme fallen.
– »Vorwärts, ihr Knechte! die Stunde rinnt!
Mein Mahl bereitet das Ingesind;
mein Weib umrauscht ein seidener Flor – –
und der Jude wartet am Gartentor.«
Die Halme fallen!
[173]
Und müde legt nach des Tages Brand
das Weib die Sichel aus der Hand:
»Du goldner Segen auf schmalem Feld,
du gibst mir Brot und du schaffst mir Geld!« –
Die Halme fallen.
– »Vorwärts, ihr Hunde, verdient den Lohn!«
Er denkt an seinen fernen Sohn.
Der schnellste Reiter auf blachem Feld
und der Gott der Weiber – das kostet Geld! –
Die Halme fallen.
»Und all das Gold« – die Alte sinnt –
»in die Ferne schickt ich's dem einzigen Kind.
Sie trieben ihn fort von Haus und Huf,
nun harrt er drüben der Heimat Ruf:
Die Halme fallen.
Und kehrt er heim, wenn der Himmel loht,
wenn der Weizen reif und das Mohnfeld rot,
dann faßt er die Sense zu heißem Schnitt –
und ich laufe und sammle und jauchze mit:
»Die Halme fallen!«

Herbstakkorde

Laublose Aeste
strecken die Bäume
wie flehend erhobene
Hände gen Himmel,
und wo ich schreite:
[174]
zu meinen Füßen
ein dürres Rascheln,
als glitte zur Seite
mir leicht der Tod . . .
Im Hauch des Nordwinds
flattert hoch oben
im Wipfel der Eiche
das letzte Blatt.
Wehe hernieder,
einsames Blatt!
Nieder zum Staub
müssen die bunten
schimmernden Kinder des Lenzes alle;
nieder zum Staub
müssen die seligen
Blütenträume des Menschenherzens,
müssen die stolzen
Lichtgedanken der Menschenstirne – –
und er selber, der Mensch,
der hochgewaltige, seelenbegabte
Erdgebieter,
nieder muß er,
nieder zum Staub!
Du kennst sie, die ewigen
wandellosen Gewalten – –
was sträubst du dich?!
[175]
Schärfer weht der Nordost.
Durch kahles Gezweig
kichert und pfeift
sein eisiges Gelächter . . .
Einsames Blatt,
du sinkst!

Frieden

Ich möchte still durch einen Tannenwald
mit dir im roten Abendfrieden schreiten,
wenn ganz von fern das Aveläuten hallt
und lichtgesättigt sich die Zweige breiten.
Dann legtest du die Hand auf meine Brust
und fühltest, wie die heißen roten Wellen
beruhigt gleiten und in sanfter Lust
nur unterm Drucke deiner Finger schwellen.

Nirwana

Laß fließen alle Wunden!
Erst wenn dein Blut zu ebben kommt,
wirst du gesunden.
O Wonne, so zu geben,
was dir aus tiefster Seele quillt:
dein starkes, reiches Leben!
O Wonne, so zerfließen
und aller Schmerzen Glut und Qual
ins ewige Nichts ergießen . . .

[176] Blaue Träume

Nadelspitzen des Novemberregens
peitscht der Nordwind prasselnd an die Scheiben,
aber warm und mollig ist's hier drinnen.
Zigarettenduft durchwellt das Zimmer,
in den Gläsern flammt der Sorrentiner.
Und du hebst das Glas, und lächelnd trinken,
langsam schlürfend, tropfenweise trinken
wir das Herzblut einer heißern Sonne.
Setz dich zu mir, komm!
Auf Deine Schulter
laß die sehnsuchtfeuchte Stirn mich stützen,
lauschen laß mich deinen wachen Träumen,
deinen Märchen aus dem Reich der Sonne,
deinen Liedern von der goldnen Katie . . .
Lies mir, Liebster, von der goldnen Katie!
Linde heilend will ich mit den Fingern
deiner Stirne blutige Male rühren,
dürstend küß ich alle deine Wunden,
küß sie zu mit meinen weichen Lippen.
Lies mir, Liebster, von der goldnen Katie.
Lies mir deine allerblausten Träume
aus den Zaubergrotten von Caprera,
aus dem schönheittrunkenen Land der Sonne.
Sag mir: liebst du denn die goldne Katie?
Du verstummst, – und durch die große Stille
raunt die Ostsee dumpfe Klagelieder.
[177]
Du verstummst, – und von der großen Stille
scheu erschreckt, hebt in den tiefsten Tiefen
deiner Seele die verstoßne Sehnsucht
ihre feuchten grünen Nixenaugen . . .
Langsam schlürfend, tropfenweise trinken
wir das Herzblut einer fernen Sonne . . .
sag mir, kennst du denn die große Liebe?

Mich lockt deine Stimme

Mich ruft deine Stimme aus Nacht und Not,
aus der Tiefe, darin die Flamme loht, –
sie gellt hinauf in den schimmernden Saal;
bleich werden die Gäste beim Hochzeitsmahl.
Ein Schatten fiel in des Festes Glanz, –
aus dem Haare lös' ich den Myrtenkranz;
ab setz ich das Glas mit dem glühroten Wein:
Mich ruft deine Stimme aus feuriger Pein.
Sie ruft mich hinweg aus dem sonnigen Licht;
am Finger der güldene Reif zerbricht,
auf der Stirne brennt mir das Kainsmal, –
mich lockt deine Stimme in ewige Qual.
Rosen und Myrten, die mir zum Gruß
am Boden duften, zertritt mein Fuß.
Den seidenen Schleier reiß ich entzwei . . .
ich komme, Unseliger – ich bin frei!
[178]
Und mit der Hand, die den Goldreif trug,
scheuch ich den Geier in seinem Flug – –
in die Flamme der Hölle riefst du mich,
und meine Träne rinnt über dich . . .

Im Schatten des Todes

All mein Gewaffen werf ich von mir, und ohne Speer und Brünne, nackt und wehrlos, steh' ich da.

Weil der Kampf so eitel ist.

Ein Atemzug durchbebt die Nacht. Von Osten kommt ein Laut, wie das Rufen eines großen dunklen Stromes.

Eine Riesenschwinge reckt sich durch des Himmels Weiten und löscht die tanzenden Lichter alle aus.

Im Schatten des Todes küssest du mich, und meine Lippen trinken das rinnende Leben von deinem Mund.

Sie trinken und trinken, bis die Adern schwellen und die Brust sich dehnt und die Augen mir zu leuchten beginnen wie Frühmorgenschein . . .

Sie trinken, bis dein Herzschlag matt wird und dein Arm erlahmt und dein letzter Seufzer wie ein Hauch vergeht in dem lauten, jubelnden, erlösten Lachen, das aus meiner Kehle bricht!

Mitten durch die Schatten des Todes, durch die weichende Finsternis schreite ich den singenden Strömen entgegen, immer dem Sonnenaufgang zu.

[179] Kreuzweg der Liebe

Ganz leise gehst du nächtens durch mein Zimmer,
ich höre deine Schritte nicht. Ich fühle
nur deines Atems welke Rosenschwüle
und seh von deiner Stirn den fahlen Schimmer
sich phosphorleuchtend in die Nacht ergießen,
und seh von deiner Stirn wie Blutrubinen
die dunkeln Tropfen auf die Diele fließen . . .
Wo kamst du her? – ich hatte doch die Tür
zur Nacht geschlossen, und kein Fenster klang,
und durch die Scheiben schaut, die vorhanglosen,
der scheue Mond, – wo kamst Du nur herein
mit deinem wehen, wunden, schleppenden Schritt,
mit deinem Kranz von abgeblühten Rosen?
O komm denn, komm!
ich will dich nicht verstoßen!
O komm du! meine Sehnsucht schrie nach dir
und suchte dich auf unentdeckten Sternen,
im Märchenwald, in blauen Inselfernen,
ging fehl und irr . . .
und heut kommst Du zu mir
und weilst bei mir und bist mir selig nah!
Und wie ich flehend meine Arme breite,
weichst du zurück und siehst mich seltsam an,
und deine Augen schaun in eine Weite,
die meine Seele nicht ermessen kann, –
und schaust mich an und wandelst stumm vorüber
und gehst – auch du! – den Weg nach Golgatha.

[180] In arktischer Nacht

Mir träumte, wir gingen beide am Meeresstrand entlang. Tiefer Winter war's, und statt des Wassers dehnte sich zu unserer Linken eine endlose, graue Eisfläche aus; zur Rechten erhoben weiße Riesen ihre gespenstischen Häupter und streckten ihre kalten Arme aus, als wollten sie uns erdrücken in eisiger Umarmung. Und zwischen diesen beiden Schrecknissen führte ein schmaler Schneesteg unmittelbar am Strand entlang, – und auf diesem Stege gingen wir.

Zu unseren Häupten aber funkelten die Sterne der arktischen Nacht.

Mich fror, und der Fuß glitt aus auf der schlüpfrigen Fläche. Du hörtest meinen leisen Wehlaut und zogest eine stählerne Kette aus deinem Gewande, die du um unsere Körper legtest, um uns vor dem Fallen zu bewahren. Und ich schmiegte mich fest an deine Seite; aber immer noch schüttelte der Frost meine Glieder.

»Wohin gehen wir?« fragte ich leise.

Da legtest du die Hand auf meine Augen, und als du sie zurückzogst, sah ich in weiter Ferne ein flimmerndes, unbestimmtes Licht wie von einem großen Sterne.

»Das ist unser Ziel!« sagtest du.

»Aber meine Glieder erstarren, und ich werde es nicht erreichen in dieser Finsternis, die uns nicht einmal den Weg schauen läßt, den unser Fuß geht.«

Und da ich also klagte, schlugest du den Mantel auseinander und bargest mein Haupt an deiner Brust. Da war es, als sei deine Brust von Glas, und ich sah tief hinein in dein Herz. Und sah dein Herz flammen und glühen, und die Wärme teilte sich meinem Herzen mit, daß meine Glieder geschmeidig wurden und mein Blick zu leuchten begann.

[181] »Törichtes Kind,« fragtest du und küßtest lächelnd meine Stirn, »glaubst du nun, daß wir unser Ziel erreichen werden?«

»Ich glaube . . .«


Die Luft war schneidend kalt und unbewegt, aber die Flamme in deinem Herzen warf einen rosigen Schein auf den Schnee vor uns, auf die Eiswände an unserer Seite. Wir waren lange gewandert, und das Licht hatte mich geblendet, so daß ich den fernen Stern nicht mehr schaute und mich willenlos führen ließ. Dein Arm lag um meinen Leib, und mein Ohr vernahm das Rieseln des warmen Blutes in deinen Adern. Ich fühlte nur dich und deine selige Nähe, und keine Kette drückte mich mehr, keine Angst ließ meinen Fuß erlahmen.

Und wir wanderten und wanderten. Dann kam eine Stelle, wo der Weg sich verengte und die Eiswände zusammenrückten. Ich erhob die Hand, um dein Haupt zu schützen; du aber wehrtest mich ab und wandtest dein Haupt stolz nach oben.

»Meine Stirn muß frei sein,« sprachst du, »damit ich das Ziel nicht aus den Augen verliere.«

Und als ich entmutigt die Hand sinken ließ, berührte sie die Kette, die unsere Körper umschlang, daß sie leise klirrte, ganz leise . . . ..

Da sah ich die Flamme in deiner Brust unruhig aufflackern, so daß der grelle Schein an den Eiswänden emporhuschte und seltsame Schattenbilder aus der Finsternis herauskrochen. Und von Nordost schlug uns ein Luftzug entgegen, so voll eisiger Schärfe, daß mir bange ward um das Licht in deiner Brust.

»Es will Morgen werden,« sagtest du.


Und schärfer ward der Wind und kälter; ein Brausen klang aus der gefrorenen See empor, und der Wind wuchs zum Sturm. Und [182] der Sturm zerrte an deinem Mantel und trieb sein unruhiges Spiel mit der Flamme in deinem Herzen.

»Sie erlischt!« schrie ich auf.

»Was tut's?« erwidertest du, »schau hin: im Morgen taucht ein helleres Licht empor –«

Ich aber preßte in wahnsinniger Angst beide Hände auf deine Brust und versuchte, die süße, warme Flamme zu schützen, welche unsern schmalen Weg erleuchtet hatte. Doch meine Kraft war zu schwach gegen die Gewalt des Windes und gegen deinen trotzigen Willen. Du richtetest dich hoch empor und gabst deinen Mantel dem Winde preis, und ich sah dich stolz erhoben stehen, das siegbewußte Antlitz voll dem dunklen Firmamente zugewandt – einen Augenblick, o, einen kurzen Augenblick nur . . .

Da kam es heran: ein Rauschen und Raunen in den Lüften, ein Singen und Klingen um uns her, ein Klirren und Krachen. – Und die Flamme erlosch, und die Eiswände neigten sich über uns, und in der Todesangst warf ich mich zurück, so daß die Kette zerriß, die uns beide verbunden hatte. Dann drang ein schriller Weheruf durch die Nacht, und deine Hand entglitt der meinen; aus dem wankenden Boden empor kroch die Kälte an mir in die Höhe und drang in meine Adern und preßte mir das Herz zusammen, daß die letzten Tränen in meinen Augen zu Eis wurden, zu blinkendem Eis.

Ueber uns aber flammte es auf und leuchtete und strahlte und warf blitzende Lichter über die schimmernden Schneefelder und die gestürzten Berge. Todkalt und herrlich stand sie da am mitternächtigen Himmel, die Sonne der arktischen Nacht, das farbenschimmernde Nordlicht . . . und in dem einen, letzten, furchtbaren Augenblick, den mir zu denken noch vergönnt war, sah ich, wie die Eisberge dich begraben hatten und nun auch über mich sich neigten im verderbenbringenden Fall, sah ich mit grauenhafter [183] Klarheit, daß alles, was uns geleitet und beglückt, mein frommer Glaube und deine stolze Zuversicht bis auf die heilige Flamme in deiner Brust ein Irrtum gewesen war, ein einziger, süßer, schrecklicher Irrtum nur . . .

Ohne Liebe

Dein Fuß zertrat den Veilchenstrauß,
den eine Kindeshand gewunden,
ins Leben stürmtest du hinaus;
hoch stieg dein Stern, – im eignen Haus
nur hast du nie das Glück gefunden.
Und nun dein Stolz in Scherben bricht,
– was liegt daran, ob selbst verschuldet, –
nun tröstet dich kein traut Gesicht:
du nahmst ins Haus die Liebe nicht,
die alles hofft und trägt und duldet.
O, wär der Weg nicht meilenweit,
nicht alle Brücken abgebrochen,
ich ständ noch heute dir zur Seit.
mit einem Gruß der Jugendzeit
an deine trotzge Brust zu pochen.
doch unausfüllbar gähnt die Kluft,
mag noch so bang das Herz erbeben,
– verweht ist lang der Veilchenduft,
und keines Gottes Stimme ruft
die toten Blüten mehr ins Leben.

[184] Am Meer

Du bist mir Freund geworden,
des trag ich Freud genug;
es rauscht in Sturmakkorden,
o Meer, dein Atemzug.
Er haucht in meine Seele
ein Ahnen licht und groß –
da sinken Schuld und Fehle
wie Fesseln von mir los.
Du bist mir Freund geworden,
des trag ich Freud genug;
mich zog zu deinen Borden
ein wundersamer Zug.
Ich ließ der Palmenwälder
schwülduftende Tropennacht,
ich ließ der Weizenfelder
goldglänzende Aehrenpracht.
Vergessen hab ich lange
der Bäume früchteschwer;
ich grüße vom Dünenhange
dich, vielgeliebtes Meer!
Mich lockt aus blauen Feuchten
ein flimmernd Wellenspiel:
eine Krone seh ich leuchten,
die in die Tiefe fiel.

[185] Höllenfahrt

Da ragt der wilde Waxenstein
hoch in der Lüfte zitterndes Blau; –
zur Hölle soll dort der Eingang sein,
so sagte mir eine alte Frau.
Ich bin ihr begegnet im tiefen Tann,
dahin mich vertrieben die Mittagsglut.
Sie trug den kecken Tirolerhut
und sah mich mit lauernden Blicken an.
»Der Eingang zur Hölle reizt mich schier.
Ich war im Himmel in dieser Nacht;
seine selige Wärme behagte mir, –
nun bin ich lüstern nach feuriger Pracht,
nach der ewigen Glut für Seele und Leib, –
wo geht der Weg in die Hölle, Weib?«
Und sie wies mit der dürren vertrockneten Hand
auf des Waxen steiltrotzige Felsenwand,
der in steinerner Ruhe, ein Warner, stand.
Um seine Höhen kein Lebenshauch,
auf seinen Schroffen nicht Gras noch Strauch,
die Wache hielten hier Tod und Graun.
Und ich ging den Weg, denn ich wollte schaun.
Ich ging ihn sicher und stieg empor
und stand vor der Hölle granitnem Tor.
Dreimal schlug ich mit starker Hand
an die lockende, klingende, brennende Wand.
[186]
Dreimal tönte der Widerhall
aus der schwindelnden Tiefe wie Glockenschall.
Dreimal klang er von Horst und Riff
aus der schwindelnden Höhe wie Geierpfiff.
Als er das erstemal verhallt,
sah ich in dem Stein einen schmalen Spalt.
Und als er verklungen das drittemal,
lag mir vor den Augen das Höllental.
Kein loderndes Licht, keine flammende Schau,
stahlhart die Wände und glimmerblau.
Von den Höhen fiel es wie Silber weiß,
und im Fallen erstarrte die Flut zu Eis.
Aus dem schäumenden Schlund, wo der Wildbach tost,
reckte die knöcherne Hand der Frost.
Und was er streifte, ward blinkend Eis;
in der Wurzel erstarb das Edelweiß.
In den toten Tiefen lag Schnee und Schnee,
und mir fror das Blut, und mein Herz tat weh.
Ein Schauder durchkroch meinen warmen Leib:
»Das ist die Hölle! Wahr sprachst du, Weib!
Das ist das Ziel unsrer Pilgerbahn, –
und die ewige Glut ist ein flammender Wahn.«
[187]
Mich packte der Schwindel. Mit sinkendem Blick
mit tastenden Schritten nur fand ich zurück
in den rauschenden Wald, an die strömende Flut,
in die sonnige, selige Sommerglut.

Aus Wüstenbrand

Du, den ich ahnte in den heiligen Stunden,
da meine Sehnsucht nach den Höhen flog, –
den ich gesucht und den ich nicht gefunden,
du, dessen Hauch wie Sturmwind mich bewegt,
der aus des Hindufürsten Purpurgärten
den Blütenstaub in Schiras Kelche trägt, –
du, dessen Lied mir im Geraun der Wogen
mit Schmeichellauten in die Seele sang,
du, der mir rief und der mir stets gelogen . . . ..
den ich in Mitternächten toller Lust
auf meinen Brüsten zu verbrennen wähnte,
o du, o du, von dem ich nie gewußt:
– Schau her! Am Steingeröll und Dorngeheg
flattern die Fetzen meines Pilgerkleides.
blutige Spuren zeichnen meinen Weg.
Auf meinem Scheitel liegt der Staub der Wüste,
mein Auge späht, von Glut und Tränen blind,
vergeblich aus nach der verheißnen Küste.
[188]
Von finstern Schroffen, die kein Fuß erklomm,
aus brennendem Sand, den König Tod sich wählte
zum Sommersitz, klingt mir dein Lockruf: »Komm!«
Und diesen Weg, von Jammerlaut und Fluchen
erfüllt, vom Blut Verlorener gedüngt,
ich muß ihn wandern, denn ich muß dich suchen! –
O du, der mich wie blinkend Glas durchschaut,
der auf den trotzigen Trümmern meines Wollens
der eignen Stärke Hochburg lachend baut:
wenn dich ein Frauenschoß in Leid geboren,
wenn eine Mutter liebend dich geküßt,
so laß dich finden, sei mir nicht verloren!
So laß dich finden: deiner harrt die Kraft,
die Kraft der Höhen, die da Freiheit spendet,
die Kraft der Tiefen, die da Leben schafft!
Wenn schon dein Schatten mir ein flutend Leben,
dein blasses Abbild mir ein Höhenglück
und aller Schmerzen Herrlichkeit gegeben –
so komm du selbst! Komm eh die Kraft versagt
und über Bestien, die mein Herzblut trinken,
der fahle Wüstenhimmel tagt . . . . . . .

[189] Freiluft

Ich knie an deinem Lager
zertretner Proletar;
dein Antlitz, fahl und hager,
stell ich den Sternen dar.
Freiluft in deine Stuben – – –
geh lachend in den Tod:
ich hebe deinen Buben
ins leuchtende Morgenrot!

Das Weib des Streikredners

»O bleib – nein geh! Es darf nicht sein!«
– sie drängt ihn selbst in Kampf und Krieg, –
»Die Werkgenossen harren dein,
auf deinen Lippen liegt der Sieg!«
Er seufzt und streift mit scheuem Blick
die Lagerstatt an kahler Wand,
darin sein Kind am Fieber litt –
ein letzter Kuß, ein ferner Schritt . . .
der Frühlingssturm braust über Land.
Und sternlos ist die Märzennacht.
Die blasse Mutter sitzt und sinnt,
mit tränenleerem Blick bewacht
sie das geliebte letzte Kind.
Ein Röcheln aus des Knaben Brust,
ein Atemholen bang und schwer –
und heut im Haus kein Bissen Brot,
im Glase keinen Tropfen mehr!
[190]
Sie weiß: sie ringen um ein Ziel,
so sternenlicht, so freudenreich –
und vierzig Tage währt das Spiel,
und heute fällt der letzte Streich:
die Herrn des Goldes beugen sich
der stärkeren Macht im heiligen Krieg –
und eine Nacht noch, diese Nacht!
Und wenn das Morgenrot erwacht,
dann kehrt er heim und bringt den Sieg!
O käm er bald und brächte mit
ein stärkend Labsal für das Kind!
Es schleicht die Zeit mit Schneckenschritt,
die sonst wie flutend Wasser rinnt.
Und doch, die dunkle Stunde kommt;
aufstöhnt das Kind in Todespein,
die Händchen zucken qualbeschwingt –
aus der gelähmten Kehle dringt
ein heiser Stammeln: »Mutter – Wein –«
Sie fährt empor aus kurzer Rast,
sie greift zum letzten Stümpfchen Lichts,
sie sucht und sucht in irrer Hast
im Schub und Schrank und findet nichts –
und wie sie schaudernd rückwärts sieht:
der Mund so groß, das Auge leer . . .
sie steht und starrt – »Allewige Macht!«
und hart und trostlos schweigt die Nacht,
und an die Düne rauscht das Meer.
[191]
»Du gnadenreiche Meeresflut!«
– Sie senkt das Haupt in herber Pein,
von ihren Lippen perlt das Blut.
Die Diele dröhnt, er stürmt herein
mit blitzendem Auge, raschem Wort, –
da stockt sein Fuß, sein Atem fliegt . . .
sie aber hebt die Arme, und
mit blassem, lächelndem Duldermund
spricht sie das Friedenswort: »Gesiegt!«

Der Knabe von Budapest

»Arbeit gebt uns und gebt uns Brot!
wir leiden Kälte, wir leiden Not:
wir haben ein Recht aufs Leben –
das Recht nur sollt ihr uns geben!«
Ein Heer von abertausend Mann,
mit dröhnenden Schritten rückt es an,
zur Seite ihm Gier und Schrecken –
der Sturm rast um die Ecken.
Der Schneesturm pfeift. Aus dem warmen Haus
lugen Tschako und Helm heraus;
im kalten Schneelicht blitzen
goldene Knöpfe und Litzen.
– »Zurück! wir gaben euch Holz und Brot,
wir hatten Erbarmen mit eurer Not;
doch ein Recht auf Arbeit und Leben,
wer hat euch das gegeben? –«
[192]
Und lähmende Stille. Ein Wetterschlag
fuhr aus dem Himmel am kältesten Tag.
Dann – dröhnend wie Donnergrollen:
»Wir haben es, wenn wir wollen!«
Und hämmernd das Blut in den Schläfen braust,
an dem Türgriff rüttelt die Schwielenfaust,
auf dem Estrich krachen die Sohlen:
»Wir werden das Recht uns holen!«
– »Zurück! – Gewalt denn wider Gewalt!« –
Und der Säbel klirrt und die Büchse knallt.
»Zurück!« – und die Stürmenden weichen
über Wunde zurück und Leichen.
Aufbrüllt die Menge vor Scham und Wut –
und mitten in tosender Kämpferflut
mit blonden, flatternden Haaren
ein Knabe von dreizehn Jahren!
Der hebt die wehrende Hand – ein Schrei! –
ein Stauen und Stampfen . . . nun ist's vorbei:
im Straßengewühl zertreten!
Und fluchende Lippen beten . . .
»Und wenn das Recht von Gottes Hand
genagelt wär' an des Himmels Wand,
so wüchsen uns Geierschwingen –
wir werden das Recht erringen!
[193]
Zurück – für heute!! – was heulst du, Weib?
Auf diesem zuckenden Kinderleib
soll unser Recht auf das Leben,
ein blutendes Mal, sich heben! –«
Des Führers Wort grollt hart und heiß;
und still wird es und leer im Kreis.
Er kniet im fegenden Winde
bei seinem toten Kinde.
In wehenden Wirbeln treibt der Schnee
und kühlt die Wunden und löscht das Weh,
und hüllt in schützende Decken
die blutige Saat der Schrecken.

Vision

Zur lichtumflossenen Weihnachtszeit
wie doppelt schwer ist Menschenleid!
Wie doppelt tief ist des Elends Nacht,
wenn Lichtschein aus Palästen lacht!
Und ein Waisenkind im Winterschnee:
das Auge wird feucht, das Herz tut weh . . .
– Ich ging in die sinkende Nacht hinaus;
die Glocken klangen vom Gotteshaus.
In des Himmels blitzendem Diadem
strahlte der Stern von Bethlehem.
Und als ich schritt aus des Städtleins Tor,
stiegen die Nebel der Nacht empor.
[194]
Sie spannen mich ein – daß Gott erbarm'! –
von Schemen schien es ein bleicher Schwarm:
fahle Wangen und welke Gesichter,
liebehungernde Augenlichter,
tastende, gierende Bettlerhände –
und neue Scharen – und noch kein Ende . . .
Ein endloses Heer von Leidgenossen,
vom Feste der Liebe ausgeschlossen!
Und sieh: aus der Darbenden Reihen tritt
einer hervor wie mit schwebendem Schritt.
Ein König erscheint er im Bettlergewand.
Mit ruhvollen Augen, mit segnender Hand
– einen lichten Schein um das blonde Haar –
führt er die blasse, hohläugige Schar
durch die lärmenden Straßen, das Festtagsgebraus,
vor ein säulengetragenes, fürstliches Haus.
Durch die schimmernden Scheiben ins Dunkle bricht
eine Fülle von Glanz, eine Fülle von Licht, –
und Kinderjubel und Weihnachtslieder
klingen aus leuchtender Höhe nieder.
Vor den Türen die schenkenden Diener stehn:
»Heut soll kein Bettler vorübergehn . . .«
[195]
Er aber bückt sich mit stiller Gebärde
und sammelt die Brocken von der Erde:
»Ihr Herren der Erde, ihr Reichen an Habe,
am Feste der Liebe ist das eure Gabe:
ein christlich Almosen, ein gnädig Erbarmen –
und ich suchte das Recht für die Aermsten der Armen
und die Liebe, die voll aus dem Vollen gibt,
die nicht wägt und nicht rechnet, – die Liebe, die liebt!«
Und wendet sich stumm und weicht von hinnen,
wie fallende Nebel die Schatten zerrinnen . . .
Die Luft wird klar. Hoch im Zenit
ein schönheitschimmerndes Sternbild blüht
und gießt auf das ärmste, verfallendste Haus
die Fülle himmlischer Strahlen aus.

Wende

Um Mitternacht vom Dome klingt
ein Sterbeläuten dumpf und bang:
verrauschter Zeiten Grabgesang,
der weithin durch die Lande dringt
bis in des Königs Prunkpalast,
bis in des Knechtes Kämmerlein –
ein scharfes Klirren mischt sich drein
wie von zersprungner Kettenlast,
[196]
und kündet aller Kreatur,
daß abermals ein Ring zerbricht.
Es raunt und rauscht in Wald und Flur
von Mitternacht bis Morgenlicht.
Wie frisch der Wind aus Osten weht!
Lebendig wird, was starr und stumm.
Ein geisterhaftes Leben geht
an dieses Jahres Schwelle um.
Das sterbende Jahrhundert schaut
mit müden Augen in die Welt,
sein Atem geht so schwer und laut –
der blauen Ferne Schleier fällt.
Und sieghaft steigt aus totem Leid
– zu unsrer Hoffnung Wunderland
den goldenen Schlüssel in der Hand –
die blutgeborne neue Zeit.
Das Morgenrot ist ihr Panier,
ihr Herold ist das junge Jahr;
sie trägt den Rosenkranz im Haar –
und alle Glocken läuten ihr!

Völkermai

Völkerfeier, du Maientag!
Ziehet hinaus in den grünenden Hag,
jauchzet hinein in die leuchtende Welt –
rote Blumen blühen im Feld.
[197]
Rote Schleifen auf eurem Hut,
tief im Herzen die rote Glut;
rot der Nacken vom Sklavenjoch . . .
meine Brüder, und doch – und doch!
Doch ein Arm, der die Kette bricht,
doch ein Morgen voll Duft und Licht,
doch ein Tag voller Maienglanz . . .
auf, ihr Brüder, zu Spiel und Tanz!
All die Lasten, die euch gedrückt,
in die Schatten der Nacht entrückt, –
all die Sorge, die euch umspann,
Brüder, kümmert sie heut den Mann?
Schwestern, kümmert sie heut das Weib,
das mit dem Manne ein Herz und Leib?
Euren Säugling an voller Brust
lacht ihr selber wie Maienlust,
haltet die Zukunft weich und warm
ihr im schützenden Mutterarm! –
Eh' die atmende Kraft verglüht,
schaffet, daß ihr der Weltmai blüht!
Daß die Knechtschaft für euer Kind
wie eine Woge der See zerrinnt,
daß sie euch dünke ein Wintertraum
einst unterm blühenden Maienbaum!
[198]
Männer und Weiber, am Feiertag
zieht denn hinaus in den schimmernden Hag,
singet und jauchzt in die flammende Welt –
blutrote Blumen blühen im Feld.

Befreiung

O du, den alle Sterne loben,
ich hab dich in des Nordsturms Toben
und in des Südwinds Hauch gesucht,
im unermessenen Wellenschoße,
im Purpurkelch der Junirose
und in des Herbstes reifer Frucht.
Ich suchte dich in Kirchenmauern
und trat mit ahnungsvollen Schauern
in deines Namens Heiligtum;
und als der Predigt Wort verklungen,
da sangen mir in tausend Zungen
ringsum die Steine deinen Ruhm.
Ich sah aus knospenden Gewalten
zur Fülle sich den Geist gestalten,
mit deines Geistes Kraft gepaart, –
ich sah am Leidenspfühl des Armen
die Liebe schweigend sich erbarmen
als Zeugin deiner Gegenwart.
Ich ahnte dich in blauen Weiten;
im wandellosen Gang der Zeiten
verfolg ich deiner Tritte Spur; –
und schritt ich bis ans Weltenende,
das Werk erschaut ich deiner Hände,
die Schöpfung deiner Allmacht nur!
[199]
Wer in des Lebens Buch gelesen,
ihn trifft ein Hauch von deinem Wesen,
aus jedem Worte, jedem Blatt
lehrt tiefe Weisheit alle Geister –
doch meine Seele rief den Meister,
der dieses Buch geschrieben hat . . .
Und schrie umsonst. Ihr zitternd Rufen
verhallte an den Altarstufen
der Gottheit, die mein Haupt gebar.
Da rang in Schmerz und Todesschauern
aus festgefügten Kerkermauern
der Selbstsucht sich mein Wesen klar.
Ich sah bis auf den Grund der Erde;
mein Ohr vernahm das ewige Werde
der Allbeseelerin Natur.
Und aufrecht schreit ich durch die Lande,
durch Glut und Sturm, den Fuß im Sande
und meine Stirne im Azur.
[200]

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Müller-Jahnke, Clara. Sturmlieder vom Meer. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-53BE-0