Otmar
[d.i. Johann Carl Christoph Nachtigal]
Volcks-Sagen

Johann Carl Christoph: Volcks-Sagen

[2]
Johann Carl Christoph: Volcks-Sagen
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Einleitung.

Die Volks-Sagen, welche hier dem Publikum vorgelegt werden, sind nicht Dichtungen einer neuern Phantasie, die einige Bruchstücke aus der Sittengeschichte des Mittelalters zur Einkleidung eines Romans benutzt, zu dem nur zuweilen eine kleine ächte Volkssage die Grundzüge darbot. Es sind wirkliche Volkssagen, mit Mühe gesammelt, da sie immer seltner und seltner unter dem Volk gehört werden, und so getreu, als er möglich war, nacherzählt. Es sind: örtliche Volkssagen aus dem alten Hartingau, größtentheils aus dem zwölften bis sechszehnten Jahrhundert; die vielleicht für Deutschland eine ähnliche Sammlung von romantisch-historischen [3] Erzählungen vorbereiten könnten, als Le Grand, aus den Ueberlieferungen des 12ten und 13ten Jahrhunderts, für Frankreich geliefert hat, nicht bloß zur Unterhaltung in den Stunden der Muße, sondern auch für den Menschenbeobachter und den philosophischen Geschichtforscher.

Die richtige Ansicht und Beurtheilung dieser Volkssagen zu erleichtern, mögen hier noch folgende Bruchstücke als Einleitung stehen.


Aechte Volks-Sagen, besonders örtliche, und zweckmäßig geordnet, sind dem Forscher wichtig, weil wir aus ihnen die dunkle Zeitgeschichte, und die frühern Kulturperioden des Volks, in einzelen Charakterzügen, so wie die herrschenden Zeitideen, kennen lernen; in Absicht welcher Zeiträume man kaum gleichzeitige prosaische Geschichtschreiber, im eigentlichen Verstande des Worts, erwarten kann, oder [4] doch wenigstens nicht die Geschichte des Volks und seiner Lage und Geistesentwickelung, sondern nur der Kriege und des Hofgepränges der Fürsten.

Freilich geben uns die Volkssagen nicht immer die unverhüllte Geschichte selbst. Sie sind, einem großen Theil nach, Dichtungen, aber, durch Empfindungen und Gefühle veranlaßt, die auf Ereignisse und Begebenheiten, so wie auf Zeitideen, hindeuten, welche sich, nach der Entkleidung von der dichterischen Hülle, dem Forscher, hier deutlicher, dort dunkler, darstellen. Inzwischen folgen wir, bei Gegenständen menschlicher Wißbegierde, die wir nur errathen können, auch wohl den dämmernden Spuren einzeler Lichtstrahlen, um das Chaos vor unsern Augen allmählig sich ordnen zu sehen. Und sehr ungern würde der philosophische Geschichtforscher Homers dichterisch verschönerte Darstellung mancher alten griechischen Volkssagen entbehren. Auch Livius gesteht, bei der Erzählung vieler der interessanteren Scenen der [5] ältern römischen Geschichte, daß Volkssage die Quelle war, woraus er schöpfte.

Sollten nun die Erzählungen aus der Vorzeit, die man noch zuweilen in den vertrauten Kreisen des Volks, auch in Nord-Deutschland hört, und welche sich größtentheils auf die Zeiten beziehen, und bald nach ihnen gebildet wurden, die man sonst prosaisch-richtiger die Zeiten des wilden Faustrechts nannte, jetzt aber öfter durch den lieblicher-tönenden Namen der Ritterzeit verschönert, über diese Periode, und über die Lage, Stimmung und Bildung des Volks in derselben, nicht richtigere Begriffe verbreiten, als fünf bis sechs Jahrhunderte später gedichtete Ritter-Romane?

Auch bieten sich, durch die Zusammenstellung mehrerer ächten Volkssagen und Volkserzählungen, zumal wenn sie nach Zeit und Ort gehörig geordnet sind, mannichfache Aufschlüsse über die Charakterstimmung des erzählenden Volks dar. – Der Kosmopolit und der Patriot und der Politiker, alle sehen hier Winke, [6] welche auf wichtige Resultate leiten. Hier entdeckt der Forscher eine Volksstimmung, die der Humanität entspricht, dort sieht er Verschrobenheit; hier zeigt sich feines sittliches Gefühl, dort Hang zur Ausschweifung oder wilder Grausamkeit; hier Frohsinn und schäkernde Laune, dort Bitterkeit in Ernst und Spott; hier Geradheit und Ausdruck der Kraft, dort schleichende List oder hartnäckige Tücke; hier freier unbewölkter Blick, dort der Nebel des Aberglaubens; hier der Einfluß einer guten menschenfreundlichen Regierung, dort Sklavensinn, durch Bedrückung erpreßt.

Oft liest auch der Menschenbeobachter von geschärfteren Sinnen, in diesen Sagen, Bruchstücke der Geschichte der nahen oder fernen Zukunft, mit mehrerer Gewißheit, als er die Geschichte der frühern Vergangenheit in sogenannten historischen Werken ahnet. Oft kann er daraus politische Evolutionen und Revolutionen vorhersagen, so wie er aus dem frohen Aufkeimen der wohlausgestreuten Saat eine [7] reiche Erndte, oder aus entferntem Gewölk ein heranziehendes Gewitter vorhersagt.

Ferner können ächte Volkssagen dienen, die Entstehung der Mythen, in der Kinderperiode der Bildung der Völker, zu erklären; sie mögen nun orientalischen oder occidentalischen, scytischen oder griechischen, oder kamtschadalischen Ursprungs seyn. Sie lehren uns: daß die gewöhnliche Veranlassung zur Bildung dieser Mythen theils Wortforschung war, theils in Naturscenen lag, die der forschende Geist bei seiner Entwickelung aufzuklären strebte. – Auch wird daraus, daß bei allen Völkerstämmen, die über die erste Rohheit hinaus sind, sich dieselben Veranlassungen zu solchen Dichtungen finden, erklärbar: warum die Mythen aller Nationen, der durch Klima und Lebensweise bestimmten Individualität ohnerachtet, doch so große Uebereinstimmung in Gang und Bildung zeigen.

[8] Viele Volkssagen und Volkserzählungen haben sich über mehrere Länder verbreitet, und sich Jahrhunderte, selbst Jahrtausende hindurch erhalten. Andre sind auf einen kleinen Umkreis, oder auf kurze Zeiträume beschränkt. – Nicht ganz unfruchtbare Untersuchungen würden es in dieser Hinsicht seyn: wie weit z.B. die Sagen von Nixen, von Wehrwölfen, von den Halbgeistern, die das Volk Zwerge nennt, von dem wilden Jäger Hackelnberg, von furchtbaren, grausamen Raubrittern u.s.w. sich verbreitet haben? in welchen Zeiträumen man in den verschiedenen Gegenden diese einzelen Sagen zuerst findet? und wann eher diese Sagen in den verschiedenen Länderabtheilungen aufgehört haben, Volkserzählungen zu seyn?

Auf wichtige Resultate leitet uns die Vergleichung der Volkssagen bei verschiedenen Nationen, und die Geschichte ihrer Wanderungen. Hier nur einige Winke.

Die ächten alten Volkssagen der nördlichen Hälfte von Europa, z.B. der Schotten, der [9] Iren, der Dänen, der meisten deutschen Völkerschaften, haben fast immer ein furchtbar-schauerliches Kolorit; fast alle deuten auf Staunen- und Grausenerregen; die handelnden Personen sind häufig übermenschliche Wesen, Geister der Verstorbenen, Teufel, Riesen, Zauberer, Zwerge, und die Scene liegt in der dämmernden Vorwelt. Nur in den Sagen aus der neuern Periode wird das Kolorit etwas heller. – Die Volkserzählungen der meisten südlich-europäischen Völker, z.B. der Franzosen und der Italiäner, wenn eine behagliche äußre Lage sie in traulichen Kreisen vereinigt, sind mehr aus der wirklichen, uns umgebenden Welt hergenommen; die Originale der auftretenden Personen sind häufig unter den Lebenden zu finden; der Stoff ist größtentheils Schalkheit oder sinnliches Vergnügen; und in Absicht der Wirkung ist mehr auf Belustigung, als Schreckenerregen, gerechnet, wenn nicht etwa Krieg oder Eifersucht blutige Scenen bereiten. – So daß (wenn wir uns hier, bei [10] so mannichfaltigen Verschmelzungen der Nationen sowohl als der Sagen, ein allgemeines Urtheil erlauben wollen) die meisten Volkssagen des nördlichen Europa sich zu den Volkserzählungen in der südlichen Hälfte unsers Erdtheils ohngefähr so verhalten, als die alte Tragödie der Griechen zu ihrer Komödie.

Die Wanderungen dieser Volkssagen sind theils für den eigentlichen Geschichtsforscher wichtig, um die Verbindung mancher oft entfernten Völker unter einander, sey es durch Sprache und Darstellungsart, oder durch Geistesstimmung, näher darzulegen, theils für den großen Ueberblick der nationellen Entwickelung des Menschengeschlechts.

Die Verfolgung der einzelnen Spuren ihrer Wanderungen, ihres Entstehens und ihres Verschwindens in verschiedenen Ländern, lehrt: daß die verschiedenen Arten von Sagen und Volkserzählungen mit dem Klima, dem mehr oder minder bewölkten Himmel, den Ebnen und Gebirgen eines Landes, dem unfruchtbaren oder [11] leicht zu bearbeitenden Boden, der größern oder mindern Kultur des Landes 1, der Bauart der Wohnungen, und der Tempel und der Vesten, in eben so genauer Verbindung stehen, als mit den Stuffen der Geistesbildung, mit der Religion eines Volks und mit der Regierungsverfassung.

[12] In Gegenden, die dunkle, kaum von einzelen Lichtstrahlen durchdrungene Wälder überdecken, wo aus unabsehbaren Morästen aufsteigende mephitische Dünste den Himmel trüben, und Augen und Seele umnebeln, wo schaudererregende Hölen und Tod-drohende Abgründe zwischen starrenden Klippen oder finstern Raub-Burgen, [13] die Hauptgegenstände sind, welche die Aufmerksamkeit der Landesbewohner spannen; muß nicht der Anstrich der dort gebildeten Volkssagen schwarz und grausend seyn? Mußte er es nicht in den Ländern seyn, wo man in dämmernden Hölen unverstandne Orakel erflehte, oder da, wo man Tempel von Menschenknochen aufthürmte, wo Priester Tausende ihrer Mitbrüder zu Schlachtopfern fordern konnten, durch den Ausruf: Die Götter dürsten! – Was für Volkssagen kann man da erwarten, wo seit Jahrhunderten die gewöhnliche Unterhaltung nur Mord und Gewaltthat betrift, oder Klagen über tief empfundene Unterdrückung! welche in Zeiten erwarten, wo der Enkel sich noch lebhaft an die Erzählungen der Voreltern erinnert, wie Bären und Wölfe Kinder und Weiber aus den Häusern fortschleppten, oder in Wäldern zerrissen, oder, wie Schaaren von Räubern aus Hölen und Burgen herabstürzten, die Erndten verwüsteten, die Weiber mißhandelten, und die Reisenden beraubten und mordeten!

[14] Und im Gegentheil, ein lachender Himmel, wohlgebaute Städte, der Anblick fruchtbedeckter Fluren, von glücklichen Menschen gepflegt, wie ein Garten Gottes, Frohsinn und das Gefühl der Ruhe und leicht befriedigter Bedürfnisse; müssen sie nicht Volkserzählungen veranlassen, deren Hauptcharakter Fröhlichkeit und schäkernde Laune ist? – Besonders haben die Ansichten, die sich dem Kinde und dem Jünglinge darbieten, den entscheidensten Einfluß auf das Kolorit der Volkssagen und Volkserzählungen.

Aber, diese Ansichten bleiben nicht, in demselben Lande, immer unverändert dieselben. Wachsende und sinkende Kultur, so wie Verschiedenheit der Regierungsverfassung und der politischen Verhältnisse, bilden die Gestalt des Landes um; und so wandeln und modeln sich auch die Volkserzählungen.

Nur aus der allmählichen, freilich nicht in einzelen Jahrzehenden bemerkbaren, aber doch unläugbar immer mehr sichtbar werdenden Milderung [15] des Klima, durch steigende physische Kultur, wird das Phänomen erklärbar: warum gewisse Arten von Volkssagen sich in manchen Gegenden immer mehr verliehren, und sich weiter nordwärts ziehen?

Aber, nicht Deutschland, Skandinavien, Schottland, Irrland und Island allein, erzeugten, in ihren Nebel-bedeckten, von Räubern und reißenden Thieren beherrschen Gebirgen, wunderseltsame Geistergestalten und Nixe, und irreleitende Kobolde und zürnende Zwerge, und mordende und Schreckenverbreitende Riesen und Räuber. Auch Griechenland und Italien waren vor Jahrtausenden das, was Deutschland und mehrere nordische Länder vor Jahrhunderten waren, Scenen des Grauens und des wilden Faustrechts. Und die auf diese Zeiten folgenden Perioden erzeugten Volkssagen vom Minotaur, von Faunen, von himmelstürmenden Giganten, von Centauren, von leidenschaftlichen Göttern, die Weiber mißhandeln, und Menschenopfer und Länderverwüstungen [16] fordern, vom Pelops, vom Oedipp, von der Medea, von der Circe, vom Typhöus, vom Riesenwürger und Räuberbändiger Herkules, von den Harpyen und Furien, vom Schreckenverbreiter Pan, vom Sinis, vom Kakut und andern Räubern und Unholden.

Aber schon zu Homers Zeiten verlohren sich, durch steigende Landes- und Geistes-Kultur, unter dem griechischen Volke, viele der ältern Sagen, und sanken zu verlachten Märchen herab 2. Und unter Perikles hörte man, in Attika, die grausenden Sagen wohl selten in dem Munde des Volks; sie erhielten sich durch die Vorlesungen der homerischen Gedichte und der Tragiker. – Um Rom waren die [17] Schauder-erregenden Sagen so lange endemisch, bis die Ruinen der rohern Vorwelt, und das Andenken an die in demselben verübten Unthaten, durch gut angebaute Fluren, durch eine regelmäßige Landesverfassung, und durch das Gefühl des Wohlstandes, verdrängt wurden. Unter August fand man sie nur noch in der Tragödie und bei Dichtern.

Späterhin zeigte Italien seinen Bewohnern die Trümmern von prächtigen Tempeln und Basiliken, von erhabenen Versammlungsplätzen, der Zerstörung trotzenden Kunststraßen und Wasserleitungen, zeigt ihm überall die Spuren der weiland sorgsamsten Benutzung der Felder, zeigt ihm Obelisken und Statuen und Gemählde und schön gebaute Städte und Villen, und zahllose Wirkungen des Kunstfleisses, laute Beweise des Wohlstandes und einer hohen Kultur, welche jene Schreckensscenen verdrängte; und die Erzählungen, die, unter einem heitern Himmel, auf leichte Befriedigung der beschränkten Bedürfnisse darbietendem [18] Boden, und unter jenen Umgebungen, erzeugt und allgemach zu Volkserzählungen wurden, deuten größtentheils auf Lebensgenuß.

Die nördlichen Länder Europa's zeigen uns noch jetzt, hier und da, die Ruinen von Raubschlössern, in wildem Gebirge versteckt, von Burgverlißen, von Warten, von denen der geängstete Landmann und der Städtebewohner die heranziehenden Räuber ausspähte. Und der Anblick dieser Trümmern, so wie das Gefühl der noch nicht ganz vernarbten Wunden, die jene Raubperiode dem Volke schlug, erhält noch jetzt manche der grausenden Sagen der Vorzeit.

Auch ergiebt sich aus dieser Darstellung die Möglichkeit, daß in denen Gegenden, wo noch jetzt Gesetzlosigkeit Raub und Gewaltthat herbeiführt, oder, wo die Schrecken des Sklavendienstes herrschen, wo der dürftige und unterdrückte Hüttenbewohner nur Gegenstände des Grauens um sich her sieht, nach Jahrhunderten (denn, unter dem Druck selbst gedeiht die [19] Dichtung nicht) sich ähnliche Volkssagen bilden können.

Aber, die Trümmern der Burge, und alle die traurigen Ueberreste des Faustrechts verschwinden auch in Nord-Europa allgemach, und sind an den meisten Orten fast nur noch Gegenstand der Untersuchung einzeler Alterthumsforscher, immer seltener Gegen stand des Staunens und der ängstenden Furcht des Volks, das zu höherer Kultur und größerm Wohlstand aufsteigt, und über die Gegenwart der Vergangenheit vergißt. Und schon hört man unter ihm immer weniger und seltner die durch jene Periode des Despotismus veranlaßten Sagen.

Die Bewohner der meisten Gegenden Deutschlands stehen jetzt auf den mittleren Stufen der nationellen Bildung, sehen rechts die in Staub zerfallenden Trümmern der rohern Vorwelt, sehen links Gegenstände der Freude und der Hofnung, und des Emporsteigens zu höherer Kultur, von der Griechenland und Latium schon längst herabgesunken sind. – [20] Daher die auffallende Verschiedenheit der Darstellung in unsren Volkssagen und Volkserzählungen und Volksmährchen.

Sichtbar aber machen jetzt auch unter dem deutschen Volk die Schauder erregenden Sagen immer mehr und mehr solchen Darstellungen Platz, die ein lachenderes Kolorit haben, und auf Lebensgenuß hinweisen. Mit den freiern Ansichten, den besser angebauten Fluren, der heiterern Luft, der reinern Farbe des Himmels, den hellern und geräumigern Wohnungen, den besser erleuchteten Kirchen, mit dem steigenden Luxus in Speisen und Kleidern, mit dem Gefühl des Wohlseyns, mit dem freiern und unbewölkteren Blick, mit der leichteren und unbefagnern Geistesentwickelung, auch in den niedrigern Volksklassen, haben sich schon die meisten Sagen von Gespenstern, Kobolden und Ungeheuern aller Art verlohren.

Schon jetzt hält es schwer, das Volk zum Erzählen mancher noch erhaltenen Sagen der Vorzeit zu bringen, weil die Erzähler sich fürchten, [21] verlacht zu werden, da sie es fühlen; daß die Sagen nicht mehr zu den jetzigen Zeiten passen, und oft in offenbarem Widerspruch mit den jetzt gangbaren Bergriffen stehen; und weil sie es nicht einmal ahnen, daß der Frager die Absicht haben kann, daraus Beiträge zur Geschichte entfernter Zeiten zu entziffern, und die Sitten, Denkungsart und Bildung der Vorwelt sich zu vergegenwärtigen. – Und in funfzig oder hundert Jahren wird der größte Theil der noch hier und da gehörten ältern Volkssagen, bis auf die, welche jährliche Volksfeste in die Erinnerung zurückrufen 3, verschwunden, oder doch, durch den Kunstfleiß der Ebnen und Städte, und durch die immer lebhaftere Theilnahme ihrer Bewohner an den politischen Begebenheiten unsrer Umwandlungs-reichen Zeiten, in die einsamern Gebirge zurückgedrängt seyn.

[22] Und eben diese zu berechnende Erwartung macht es dem Forscher zur Pflicht, zwar nicht alles, was die ungebildeteren Volksklassen sich erzählen, aber doch solche Volkssagen, aus deren Zusammenstellung der Denker entweder erhebliche Resultate zu ziehen hoffen kann, oder, die uns eine unterhaltende Ansicht gewähren, zu sammeln, ehe die Entfernung von ihren Beziehungsperioden sie vernichtet hat. – Hätten Homer und die Tragiker uns nicht einige der alten griechischen Volkssagen aufbewahrt, was hätten wir denn für eine Quelle, um die Periode der Geschichte des griechischen Volks, der Geschichte seines Charakters und seiner Bildung, zu studiren, welche noch keine Geschichtschreiber hatte, und keine haben konnte? Nur aus den Mythen von den Göttern und den Menschen in der Heldenzeit, entziffern wir eine Darstellung von der Leidenschaftlichkeit, den Ausschweifungen, der Gewaltthätigkeit, der Arbeitsscheu, dem Despotismus der ältesten griechischen Machthaber, von dem Druck und [23] der Herabwürdigung des Volks, von den Verhältnissen des männlichen und weiblichen Geschlechts, von den herrschenden Zeitideen und Sitten, von der wahren Art des Entstehens der Staaten, von den ersten Anfängen der Künste und der Kultur, und von dem langsamen Fortschreiten derselben.

Aber freilich gehört zu dieser philosophischen Benutzung der Volkssagen ein geübter Blick, der den Geist und das dichterische Gewand der Sagen unterscheidet, um nicht jenen entschlüpfen zu lassen, und auf dieses historische Untersuchungen zu gründen!


Außer den Erinnerungen aus der Geschichte der Vorzeit, deren vorspringende Züge, zumal wenn Trümmern der Vorwelt sie lebhaft vergegenwärtigten, sich durch Ueberlieferung vom Vater auf den Sohn und Enkel vererbten, gaben zu dergleichen örtlichen Volks-Sagen, wie [24] sie hier vorgelegt werden, noch besonders Veranlassung:


I. Wortforschungen, dergleichen auch auf den niedern Kulturstufen häufig bemerkt werden. Homer und Virgil haben uns mehrere Beispiele davon erhalten. Hier nur ein Paar aus dem letzteren:


a) Aeneis 6, 165. 232. ff.


»Aber der fromme Aeneas erhebt ein gewaltiges Denkmal
Ueber dem Mann, und sein eignes Gewehr, die Drommet' und das Ruder,
Hart an dem luftigen Berge, der nun Misenus von jenem
Heißt; und ewig hinfort den dauernden Namen behauptet.«
»Aeolus Sohn Misenus, dem nie ein anderer vorging,
Männer zu regen mit Erz, und Krieg mit Getön zu entflammen. –
Nun, da er einst durchhallte die Flut mit gehöhleter Muschel,
[25] Thörichter! und mit Getön die Unsterblichen rufte zum Wettstreit;
Hatt' ihn der eifernde Triton belaurt (wenn glaublich die Sag' ist)
Unter Geklipp, und den Mann in die schäumende Woge getauchet.«

b) Aeneis 7, 1. ff.

»Du auch hast, Cajeta, du Pflegerin einst des Aeneas,
Unsre Gestade im Tode mit ewigem Ruhme verherrlicht.
Jetzt noch bewahret den Sitz die Verherrlichung; und die Gebeine
Zeichnet, wenn Ehre das ist, in der großen Hesperia, Name.« 4

Auch der Hartingau bietet uns zu dieser Bemerkung: daß Wortforschung oft Sagen bildete, ausmahlte, oder umformte, viele Belege dar. Außer den hieher gehörenden, nachmals vollständiger dargelegten Sagen, mögen [26] hier folgende örtliche Volkssagen, größtentheils nur mit einigen Grundzügen angedeutet, stehen.

1) Die Sage vom Lügenstein. – Auf dem Domplatz in Halberstadt liegt ein runder Fels von ziemlich beträchtlichem Umfang, der einst wahr scheinlich ein heidnischer Opferaltar war, und in der Rücksicht ein wichtiges Denkmahl für den Alterthumsforscher ist. Vielleicht diente dieser auf die Höhe des Berges gebrachte und durch untergelegte Feldsteine erhöhte Fels auch, bei Volksversammlungen der alten Sachsen, die Männer, die von dem Volk deutlicher gesehen werden mußten, z.B. die zu erwählenden Anführer, ihm darzustellen. Darauf scheint der wahrscheinliche alte Name: »Legge-Stein,« d.h. Schau-Stein 5, hinzu [27] deuten. Die Umwandlung dieses Namens in: Lügenstein, erzeugte durch Wortforschung folgende Sage: »Der Vater der Lügen hatte, als der tiefe Grund zu der Domkirche gelegt wurde, große Felsenmassen hinzugetragen, weil er hofte, hier ein Haus entstehen zu sehen, das sein Reich mit neuen Unterthanen bevölkern könnte. Aber endlich bemerkte er, da das Gebäude sich immer mehr in seiner Form erhob, daß man eine christliche Kirche baute. Nun beschloß er, das Gebäude zu zerstören. Mit einem ungeheuren Felsstein schwebt' er herab, um Gerüste und Mauern zu zerschmettern. Nur durch das Versprechen, ein Weinhaus dicht neben der Kirche zu erbauen, ward er besänftigt, daß er den Fels auf den geebneten Platz vor der Kirche hinwarf. Noch sieht man an dem Steine die Höhle, die der glühende Daumen seiner Hand, beim Tragen, eindruckte.

2) Wehrstedt, ein Dorf nahe bei Halberstadt, hat, nach der Sage, seinen Namen [28] davon erhalten, daß, bei einem gefahrvollen Ueberfall fremder Barbaren, da die Landesbewohner der Uebermacht schon unterlagen, die Todten aus den Gräbern aufstanden, und sich gegen diese Unholde tapfer wehrten, und so ihre Kinder retteten.«

3) Dannstedt, ein Dorf unweit Wernigerode, soll, der Sage nach, eigentlich: Tanzstedt heißen: »In der frühen Vorzeit, so erzählt sie, tanzten einst einige betrunkene Männer und Weiber, am Weihnachtstage, während des Gottesdienstes, rings um die Kirche. Der Priester, den ihr ungebührliches Lärmen störte, that sie, nach vergebener Warnung, in den Bann. Und, auf sein Gebet, mußten sie ein ganzes Jahr lang, unausgesetzt forttanzen; so daß die Tanzenden, deren Kleider nicht veralteten, und die in der Zeit weder aßen, noch tranken, noch schliefen, rings um die Kirche, einen tiefen Graben, der noch zu sehen ist, der Erde eindruckten.«

[29] 4) Den Namen Roklum, den ein einige Meilen von Braunschweig entferntes Dorf führt, deutet die Sage durch: Rock um! (Rauch, kehre um!) Diese Worte rief, so erzählt die Volks-Legende, »ein Engel bei einem schrecklichen Brande, der die ganze Gegend bis dahin verwüstete.«

5) Die Sage vom Jürgenholze, unweit dem Städtchen Schwanebeck 6.


»Mein Feldhauptmann Wolda erlegte den Otto von Schwanbeck,
Im Gewühle der Schlacht. Segilla, die einzige Tochter,
Sieben rüstige Söhn', und eine bejahrete Witwe
Weinten dem Otto nach, und schwuren ewige Feindschaft
Wolda und meinem Geschlecht. Einst war mit den sieben Erzeugten
Weit entfernt die Mutter. Allein, auf einsamen Schlosse,
[30] Ruhte die schöne Segilla. Den Ritter Jürgen von Nienburg,
Feindlichen Nachbar des Weilers, und Enkel der Göttin Gedeßa,
Lüstete sehr nach ihr, daß er zur Nacht sie entführte.
Morgens früh – kaum war mit der Schönen der Räuber entflohn –
Kehrt' ich in Schwanbeck ein, und vernahm den Raub der Segilla.
Hurtig am Wasser entlang, wie die Spur im bethaueten Grase
Mir anrieth, verfolgt' ich sogleich die fliehenden Beiden,
Froh im Herzen beschließend: ›Erretten sollst du Segilla
Aus des Räubers Hand, und der Mutter und ihren Gebrüdern
Bringen, daß Wolda's Vergehn sich wandl' in herzliche Freundschaft,
Und dies mächtige Haus auch dir einstweilen nicht schade!‹«
[31] Endlich erhascht ich den Räuber, am hohen Borne 7 gelagert,
Wie er mit schmeichelnden Worten des Fräuleins Kummer verscheuchte.
Sanft begann ich zuerst zu der thränengebadeten Jungfrau:
»Liebe! saget mir dreist: Komm' ich Euch lieb als Erretter?
Oder willigt ihr frei in den Raub des Ritters von Nienburg,
Wie gar oft die Mädchen mit Worten die Liebe verleugnen,
Aber ein anderes denken in fein verschlossener Seele?«
Flehend erwiederte drauf die thränengebadete Jungfrau:
»Rettet mich, Held! und gebt mich wieder der glücklichen Heimath!«
[32] »Nun versucht' ich vorerst, mit Worten zu zwingen den Ritter,
Kennend Gedeßa's Macht. Wer achtet nicht solche Gefreundschaft?
Laut und lauter jedoch ward unser Streit um Segilla.
Da vernahm Gedeßa, nah' im Gehölze, des Zänkers
Weit ausrufende Stimm', und eilete her an den Limbach.
Zwischen uns Beid' hin stellte sie sich, und sprach für den Enkel,
Heimlich ergreifend zur Flucht das Fräulein. Aber da faßt' ich
Zornig Segilla's Hand, entriß sie der eilenden Göttin,
Und zerspaltete wüthend den Schädel des Lieblings. – Entfliehend
Lautes Schrei's, ergrif sie den Enkel, und trug ins Gehölz ihn.
Aber, was halfen erlesene Kost? was heilige Kräuter,
Sparsam gesät auf geweihetes Land? – Sie mußte den Hügel
[33] Ihm errichten! Und, sein Gedächtniß zu sichern, benannte
Sie durch: Jürgenholz, die großen Schatten des Grabes.«

II. Die zweite örtlich-bestimmende Veranlassung zu Volkssagen, ist die versuchte Erklärung von Naturbegebenheiten, örtlichen Auszeichnungen durch auffallende Steine, Hölen u.s.w. oder örtliche Ereignisse irgend einer Art. Beispiele zur Vergleichung bieten uns dar: Virgils Beschreibungen der Schmiedeessen des Vulkan und der Cyklopen in den Schlünden des Aetna, wodurch das Volk das mannichfache Geheul in der Tiefe des Berges sich erklärte, und von den Gefährten Diomeds, die in kläglich schreiende Vögel verwandelt, Italiens Küsten umschwärmten. Aehnliche Hindeutungen auf so entstandene Volkssagen bietet uns noch häufiger Homer. Hier ein Paar Beispiele.


a) Odyßee 8, 564 u.s.w. 8


[34] »Doch von meinem Vater Nausithoos hört' ich vor dem wohl;
Wann er erzählt', es zürne der Erderschüttrer Poseidon
Uns, dieweil wir jeden gefahrlos senden zur Heimat,
Einst auch würd' er ein trefliches Schiff der fäakischen Männer,
Das von Entsendung kehrt', im dunkelwogenden Meere
Schlagen, und hoch um die Stadt ein Felsengebirg' uns umherziehn.«

(Aus Odyßee 13, 155. ff. ergiebt sich, daß, nach Homers Idee, Scheria, die Insel der Phaiaker, rings mit einem Felsenriff umgeben war, das nur gefahrvolle Durchfahrten für Schiffe öfnete, und, daß nicht weit von der Küste, dem staunenden Beobachter ein Schiffähnlicher Fels sich darstellte.)


b) Odyßee 12, 85.


»In der Kluft wohnt Skylla, das fürchterlich bellende Scheusal,
Deren Stimme so hell wie des neugebornen Hundes
[35] Hertönt; aber sie selbst ein entsetzliches Graun, daß schwerlich
Einer sich freut sie zu sehn, wenn auch ein Gott ihr begegnete.«

(So deutete die Sage den furchtbar-pfeifenden Ton der sich brechenden Wogen an den Felsen von Squillace.)


c) Odysee 13, 103.


»Eine liebliche Grotte voll Dämmerung, nahe dem Oehlbaum,
Ist den Nymfen geweiht, die man Najaden benennet.
Steinerne Krüge darin und zweigehenkelte Urnen
Stehn umher, wo Bienen ihr Honiggewirk sich bereiten.
Steinerne Webestühl' auch dehnen sich drin, wo die Nymfen
Schöne Gewand' aufziehn, meerpurpurne, Wunder dem Anblick.
Auch unversiegende Quellen durchrinnen sie.«

(Waren diese Sagen nicht etwa durch auffallend geformte Stalaktiten, dergleichen die Tropfsteinhölen darbieten, veranlaßt?)


[36] d) Iliade 2, 305. ff. scheint auf einen auffallend-geformten Fels in Aulis zu deuten, der eine Verwandlungs-Sage veranlaßt hatte.

Anwendung werden diese Bemerkungen finden bei mehreren nachmals vorkommenden Sagen, z.B. vom Ilsenstein, vom Roßtrapp, von der Teufelsmauer, von der Teufelsmühle, vom Hühnenblut, vom Mägdesprung, vom Wolfsstein u.s.w. Noch mag hier eine kleine Sage vom Staufenberge stehen.

Bei Zorge, einem braunschweigischen Dorf auf dem Harz, liegt der Staufenberg, auf dem ehedem eine Burg stand. Jetzt besuchen ihn Neugierige größtentheils nur wegen einer Klippe, in der sich eine Vertiefung zeigt, die einem Menschenfuß gleicht. Zur Erklärung dieser Form erzählt das Volk: »Diese Fußstapfe druckte einst die Tochter eines der alten Burgherrn dem Fels ein, auf dem sie oft lange stand, da es ihr Lieblingsplätzchen war. Noch jetzt zeigt sich von Zeit zu Zeit das verzauberte Fräulein [37] auf dieser Klippe, in ihren goldgelben geringelten Haaren.«

Als Beispiel solcher Sagen, die, auch in der neuern Periode, durch Zeitideen, bei dem Volk auffallenden Ereignissen, veranlaßt wurden, entlehne ich, aus dem Beckerschen Taschenbuche von 1799, dem Inhalt nach, die Sage von dem Teufel in der Kirche, die eben der Landschaft angehört, welche die folgende Sammlung dargeboten hat, zumal da sich bei ihr die Geschichte des Entstehens der Sage, die man bei den meisten Sagen nur errathen kann, deutlich darstellt.

Im Anfang des achtzehnten Jahrhunderte verbreitete sich in mehreren braunschweigischen, magdeburgischen und halberstädtschen Dörfern und Städten, in der Gegend von Schöningen und am Elm, die Sage unter dem Volk: »Der Teufel habe in leibhafter Gestalt eine Diebesbande, die in die Kirche zu Neindorf, einem von Aßeburgischen Dorfe, eingebrochen hätte, verjagt. Die Diebe hätten ihm in der mondhellen[38] Nacht deutlich gesehen. Er habe große feurige Augen, ein ganz rauhes Gesicht, und ungeheure Hörner auf dem Kopfe gehabt. Er sey ihnen in einem lichtbraunen Kleid, und einer feuerrothen Halsbinde, erschienen, und habe statt der Hand eine Klaue gehabt. Die Füße hätten sie nicht sehen können, weil der Teufel hinter dem Geländer des Chors vor der Orgel gestanden, und über dasselbe in die Kirche, wo die Diebe sich befunden hatten, herabgesehen habe. Uebrigens habe der Teufel einen gewaltigen Lärmen gemacht, bald gedroht, zu ihnen herabzukommen, bald geläutet, als ob zehn Klingebeutel in der Kirche herum getragen würden. Sie hätten seine Herabkunft nicht abwarten wollen, hätten alles stehn und liegen lassen, was sie von Kirchengeräthen schon zusammen gepackt gehabt hätten, und wären davon gelaufen. Vor Schrecken über die Erscheinung des Teufels, hätten die Diebe geschworen, nie wieder in eine Kirche einzubrechen.«

[39] Diese Volkssage, welche, so wie sie sich weiter verbreitete, immer mehr ausgemahlt wurde, und wunderseltsame Vergrößerungen und Zusätze erhielt, gründete sich auf die wörtliche Aussage einer Diebesbande, welche, im Jahr 1711, in dem braunschweigischen Amt Jerrheim, in Inquisition gerathen war, und, unter mehreren Einbrüchen, auch die beabsichtigte Beraubung der Kirche zu Neindorf eingestanden hatte. Das Volk zweifelte um ja weniger an der Wahrheit der Sage, da die Diebe, einzeln befragt, und bei der Confrontation, immer dasselbe ausgesagt hatten. Auch war wirklich Wahrheit in der Aussage; nur hatte die Einmischung von Zetideen der ganzen Darstellung den romantischen Anstrich gegeben, der sie zur Volks-Legende eignete. Sie verlohr sich allmählig, da man die wahre Veranlassung ausgespürt hatte, so wie sich die Nachricht davon verbreitete und Glauben fand.

Die Veranlassung war folgende: »Der damalige Gutsbesitzer in N**, ein leidenschaftlicher [40] Liebhaber der Jagd, hatte auf seinem Hofe, zu seinem Vergnügen, einen achtendigen Hirsch. Da dieser zahm und verschnitten war, so ging er, am Tage und in der Nacht, überall frei umher, auch in dem Dorfe, besuchte die einzelen Häuser, und Kinder und Greise machten sich eine Freude daraus, ihn zu füttern. Nur hatte man ihm, um seine Annäherung zu melden, ein rothes Halsband mit einer Schelle ungebunden. An die menschliche Gesellschaft gewöhnt, besuchte er alle die Orte, wo er Menschen witterte, und auch die Kirche, aus welcher man ihn mehreremale, selbst während des Gottesdienstes, wegbringen mußte. Dieser Hirsch nun war, in der Nacht, als die Diebe sich unten in der Kirche befanden, durch die offenstehende Thurmthür, die aus Nachläßigkeit unverschlossen geblieben war, auf den Platz der Orgel, und auf das Chor gekommen, hatte, da er Menschen hörte und sah, sich dicht an das Geländer vorgedrängt, mit dem Kopf und den Klauen mannichfache Versuche gemacht, [41] sich ihnen zu nähern, und auf diese Art die Räuber verjagt.«


Die Quellen, die dem Sammler von Volkssagen sich darbieten, sind besonders:


I. Volks-Lieder. Diese Quelle ist für manche Gegenden und Zeiten reich. Sie bot Macpherson Stoff für seinen Oßian, dem Snorro Sturläson für die isländische Edda, und dem Saxo Grammatikus für seine Sammlung zum Behuf der ältern dänischen Geschichte dar. Für das nördliche Deutschland aber ist sie wenig ergiebig; sey es, daß der Norddeutsche weniger singt, als der Hochländer, Ire und Isländer, oder, daß die Zeit die ältern norddeutschen Volkslieder bis auf einige kleine Spuren vernichtet hat. Auch fehlen bei den meisten der wenigen alten Volkslieder, die sich noch erhalten haben, dem, der sie in historischer Rücksicht zu benutzen denkt, die Data, die zur völligen Darstellung gehören.

[42] Was der Sammler dieser Volkssagen von hieher gehörenden Volksliedern am Harz entdecken konnte, schränkt sich größtentheils auf einige Wiegen- und Kinder-Lieder ein; z.B.


1) »Hurrah! ho! Burra! der Wagen ist fort.
Die Pferde sind ertrunken,
Zwischen Stemmern und Bahrendorf,
In dem tiefen Sumpfe.
Hurrah! wie kreischet der Reutersknecht!
Hurrah! wie fluchet der Junker!«

Anmerk. Dieses ursprünglich plattdeutsche Liedchen hört man sehr häufig von Kinderwärterinnen, besonders in den magdeburgischen Dörfern zwischen der Elbe und Bode. – Stemmern und Bahrendorf sind zwei Dörfer unweit Egeln. – Der tiefe Sumpf ist aber längst, mit der Volkssage, worauf das Lied hindeutet, und die vielleicht der vom Grundlos (s. unten) ähnlich war, verschwunden 9.


[43]
2) »Krupp under! krupp under! (d.h. kriech bei)
Die Welt ist dir gramm!«

Anmerk. Dies war, in der Mitte dieses Jahrhunderts, ein nicht ungewöhnliches Wiegenlied in Niedersachsen. Jetzt hört man es selten. Wahrscheinlich sollte es eine Art von halb spaßhaftem, halb ernstem Schreckwort für eigensinnige Kinder beim Einschlafen seyn. Aber, woher die sonderbare Zusammenstellung? Deutet es etwa auf die Gewohnheit in der rohen Vorwelt, die Reisende unter Nordamerika's Wilden zuweilen bemerkten, alte Personen, die der Gesellschaft für lästig gehalten wurden, zu begraben? Aber, welche Nation zeigte Nord-Deutschland diese Beispiele der höchsten Barbarei?


[44]
3) »Buko von Halberstadt
Bring doch meinem Kinde was.
Was soll ich ihm denn bringen?
Rothe Schuh mit Ringen,
Schöne Schuh mit Gold beschlagen.
Die soll unser Kindchen tragen.«

Anmerk. Auch dieses unter dem Volk, im Halberstädtschen, Magdeburgischen, Mansfeldischen u.s.w. noch jetzt gewöhnliche Wiegenlied, ist ursprünglich plattdeutsch; doch wird es nach den provinziellen Dialekten der Sängerinnen verschieden modificirt, und z.B. Buko, in Muko, Mukau, auch wohl in Motschekivichen verwandelt. – Es deutet auf den halberstädtischen Bischof Burkhard, oder Buko, im eilften Jahrhundert, der durch seine freundliche Behandlung der Kinder dazu Veranlassung gegeben haben muß, und enthält einen kleinen Beitrag zur Geschichte des Luxus des Mittelalters. – Räthselhafter ist die historische Veranlassung zu dem


[45] 4) Maykäfer-Liedchen, das man in Niedersachsen u.s.w. im May und Julius von den den Maykäfern Schaarenweise nachlaufenden Kindern aus den untern Volksklassen, alle Abende tausendmal wiederholt hören kann:


»Maykäfer, flieg!
Der Vater ist im Krieg.
Die Mutter ist Pommerland.
Und Pommerland ist abgebrandt.«

II. Erhaltene Denkmahle der Vorzeit. – Dergleichen waren im alten Rom die Bas-oder Haupt-Reliefs, die Romulus und Remus saugend an einer Wölfin, oder, »die silberne Gans, welche des Kapitols goldne Hallen durchflog« 10, darstellten.

Aus dem Hartingau kann ich hier nur anführen den sogenannten Croppenstedten Vorrath. Dies ist ein großer silberner Pokal, der auf dem Rathhause zu Croppenstedt, [46] als das Wahrzeichen dieses Städtchens verwahrt wird, gut gearbeitet ist, und, in erhabnen Figuren, dreizehn Wiegen und eine Wanne, worin Kinder liegen, zeigt. Folgende lateinische Inschrift auf demselben enthält den kurzen Inhalt der Volkssage, die in der dortigen Gegend sehr umständlich, bis auf die Bemerkung, daß der Vater der vierzehn an einem Tage gebornen Kinder, ein Kuhhirte war, erzählt wird.


»Matribus a bis sex, unoque videlicet anno
Bis septem pueros genitor genaverat unus.
Provide tunc matres curarunt tredecim cunas.
Dum non sufficiunt, unum posuerunt in vanno.«
Haec sunt nostra penes nostrae
venerabilis urbis. 11

[47] III. Chroniken-Schreiber. Auch sie verlassen den Sammler gewöhnlich da, wo er das Meiste erwartete; theils, weil sie nur selten die Volkssagen aufnahmen, die uns wichtig sind, sondern größtentheils aus ihnen nur Gespenstergeschichten, Hexereien und Berggeistermärchen aushoben, welche sie interessirten, theils weil sie öfters statt der Darstellung des Volks, ihre eignen Vorstellungen von der zu erklärenden Sache vorlegten, und auf diese Art oft gerade die kleinen Umstände und Züge übergingen, die uns zur Geschichte der Sitten, der Denkweise und der Zeitideen des Volks im Mittelalter brauchbar seyn könnten, ihnen aber unerklärbar oder lächerlich schienen. Auch bei solchen Ueberarbeitungen, als uns Saxo Grammatikus hinterlassen hat, müssen wir fürchten, daß der Geist der Sagen, unter dem Zwang der römischen Silbenmaße, wenigstens einem großen Theil nach, verflogen ist.

Doch, vielleicht sind andre Sammler, denen sich in dieser Rücksicht unbenutzte, oder ungedruckte [48] Chroniken darbieten, glücklicher, aus dieser Quelle auch für Deutschland mehr zu schöpfen, als dem Erzähler dieser Volkssagen möglich war. Ihm blieb für die folgende Sammlung nur


IV. die mündliche Ueberlieferung des Volks. Daß es aber nicht ganz leicht ist, diese Quelle zu nutzen, wird sich aus dem Vorhergesagten ergeben, da das Volk, außer seinen vertrautern Kreisen, nur selten dergleichen Sagen zu erzählen wagt, und selbst in denselben immer seltner und seltner erzählt, indem durch Erziehung, Lage, und die lebhaftere Theilnahme an den jetzigen Verhältnissen, sein Ideenkreis und Ideenwechsel eine so große Veränderung erlitten hat.

Hier werden folgende Bemerkungen nicht unzweckmäßig seyn.

1) Die meisten Sagen, die sich in dem Munde des Volks im Hartingau erhalten haben, hört man auf den sanften Abhängen auf beiden Seiten des Harzgebirges, und werden [49] immer seltner gehört, in dem ganz flachen Lande. Wie sich denn die Volkssagen in den Ebnen und den Heideländern in der Mark, im Lüneburgischen und in Westphalen immer mehr verliehren, bis sie im Mekelnburgischen, Pommern, Rügen u.s.w. wieder häufiger werden, und in den gebirgigten Theilen des Nordens, z.B. den schottischen Hochlanden, zu neuen Forschungen Stoff darbieten.

2) Diese Volkssagen sind der mündlichen Ueberlieferung mit möglichster Treue nacherzählt. Dieser Ausdruck bedarf vielleicht einiger Erläuterung.

Der Verfasser strebte, den Geist und die Darstellungsart der Sagen zu erhalten und getreu dem Leser zu überliefern. Aber, die Sprache, der Ton und die Erzählungsweise des Volks konnte er nicht ganz in ihrer Originalität darstellen. Denn theils mußte er in einem allgemein verständlichern Dialekt nacherzählen, und so mußte mancher bezeichnender Ausdruck mit einem andern vertauscht werden, theils [50] mußte er bei der Darstellung auf den Kreis der Leserinnen und Leser, die er erwarten konnte, einige Rücksicht nehmen, da jene Darstellung, wie man sie in den vertrautern Cirkeln der untern Volksklassen hört, nicht selten in den gebildeteren Kreisen auffällt, und zuweilen das verfeinerte, sittliche Gefühl beleidigen dürfte. 12 Dies sey die eine Entschuldigung bei dem, der sich etwa erinnert, hier und da eine der Volkssagen in einer etwas andern Form gehört zu haben. Eine andre Entschuldigung gründet sich auf folgende Bemerkung.

Jeder Erzähler solcher Sagen aus dem Volke, noch mehr jede Erzählerin, der oder die mit Theilnahme erzählt, und mit Theilnahme gehört wird, bearbeitet den vorhandenen Stoff, bald mehr bald weniger, nach eigner Weise, und verändert ihn hier und da, nach dem Kreise [51] der Zuhörer, oder nach individueller Laune und Stimmung, worauf Wohlbefinden und Gesellschaft, selbst das Wetter und die Luft, tausendfachen Einfluß haben. So daß, wenn wir hier diplomatische Genauigkeit in der Darstellung der Sagen nach ihrer ganzen Originalität verlangten, oft zehn und mehrere Erzählungen derselben Sage neben einander aufgestellt werden müßten, aus denen der Forscher, mit der angestrengtesten Kunst, und bei allen Regeln der Kritik, doch oft das ganz ächte Urbild nicht vollständig herausfinden würde. Der Grund davon liegt theils darin, weil jeder Denker in gewisser Rücksicht auch Dichter ist, seine Rede sey gebunden oder ungebunden, theils in dem Gange der Zeiten. Nur in der Kinderperiode der Geisteskultur werden Sagen ganz wörtlich wiederholt; in den spätern Zeiträumen finden zahllose Abänderungen statt. – Belege des Gesagten bieten die verschiedenen Darstellungen griechischer Mythen in verschiedenen Dichtern, und, in Absicht der Volkssagen [52] am Harz, die doppelte unten vorkommende Sage vom Hühnen-Blut, dar.

Auch die gewöhnlich gehörte Erzählung wird den Nacherzähler nicht immer bestimmen. Sein Gefühl wird ihn oft lehren, die seltner gehörte Darstellung der gewöhnlichen vorzuziehen, wenn sich aus der Vergleichung ergiebt, daß diese durch eingeschobene Zeitideen und unpassende Zusätze entstellt ist. Zum Beweis diene hier die Vergleichung der unten erzählten Sage vom Mägdesprung mir der, die jetzt gewöhnlich das Volk erzählt, »welche das Hühnen-Mädchen in eine Prinzessin verwandelt, welche bei jenem Salto mortale ihre eigne Kutsche, in der sie vorher gesessen hatte, mit den Pferden in die Schürze nahm, und so von einem Berge nach dem andern herübersprang.«

Dazu kommt noch, theils daß der Sammler dieser Sagen nicht alle unmittelbar aus dem Munde des Volks hörte, sondern zum Theil sie durch mündliche und schriftliche Nacherzählungen seiner Freunde kennen lernte, theils daß [53] die Ueberlieferung von manchen Sagen nur Bruchstücke erhalten hat, die ergänzt werden mußten.

3) Auf Vollständigkeit macht diese Sammlung keinen Anspruch; und es könnte also mancher hier Sagen vermissen, die sich ihm zunächst darstellen. Wäre es dem Sammler nur um ein bogenreiches Werk zu thun gewesen, so hätte er, theils in den schriftlichen Nachrichten, die ihm zugeschickt wurden, theils in manchen gedruckten Büchern, Stoff zu mehreren Alphabeten gefunden. Aber er hatte es sich zum Gesetz gemacht, von den immer seltner gehörten Volkssagen, nur die, welche sich durch den Dichter-Geist, der sie belebt, oder durch charakteristische Züge auszeichnen, aufzunehmen. Daher schloß er theils die allbekannten und schon oft nacherzählten Sagen, z.B. vom Tanz der Hexen auf der Spitze des Brocken in der Walpurgis-Nacht, theils die Spinnstuben-Märchen von Gespenstern, Kobolten, Hexen, Heckethalern, glühenden Drachen, Berg-Geistern[54] u.s.w. aus, die so geistlos sind, daß sie das Nacherzählen nicht verdienen. – Doch entgingen ihm vielleicht, aller Forschungen ohnerachtet, noch einige der Sagen, die des Aufbehaltens nicht unwerth waren.


Ueber die Originalität mancher von diesen dem Volk nacherzählten Sagen, könnte vielleicht dem Leser, der sich ähnlicher Züge in den Sagen anderer Völker erinnert, einiger Zweifel entstehen. Sind diese Züge nicht, könnte er fragen, aus den Reminiscenzen griechischer und römischer Dichter, oder durch italiänische und französische Erzählungen, vor Jahrhunderten, in deutsche Schriften, und aus diesen in den Mund des Volks gekommen? – Man könnte z.B. bei der Sage von dem Räuber Daneel an eine Nachbildung von Virgils Schilderung des Räuber Cakus, bei der Sage vom wilden Jäger Hackelnberg an manche homerische Darstellungen vom Herakläs, denken, [55] und bei den Verwandlungsgeschichten die Quelle in Ovids Metamorphosen, so wie bei einigen andern Erzählungen, in romanischen, provenzalischen, italiänischen und französischen Dichtungen suchen.

Vollständiger Beweis der Originalität jeder hier nacherzählten Sage, und ihrer einzelen Züge, dürfte allerdings schwer seyn. Aber, wahrscheinlich ist diese Vermuthung ausländischen Ursprungs nicht. Die Sagen sind schon zu lange in dem Munde des Volks, und es schon zu der Zeit gewesen, wo das Volk selbst noch nicht las, als höchstens ein Gebetbuch, und eben so wenig in vertrauter Verbindung mit Gelehrten stand, die ihm dergleichen fremde Sagen hätten mittheilen können. Auch sind alle hier aufgestellte Sagen zu genau an bestimmte Orte und Ereignisse geknüpft, und haben zu viel Eigenthümliches, als daß sich hier fremde Einmischungen, einige kleine Nebenzüge etwa abgerechnet, vermuthen ließen.

[56] Die meisten Uebereinstimmungen jener nationellen Sagen erklären sich aus der Identität der Veranlassungen, und aus dem Einfluß der verschiedenen Kulturstuffen, die jedes nach dem Gang der Natur gebildete Volk durchgeht, auf den Kreis der Ideen und die Darstellungen derselben. Daher, daß wir gewisse Formen der Sagen bei ganz entfernten, durch Länder und Meere getrennten Völkern finden, bei den wir weder unmittelbare noch mittelbare Mittheilung denken können. So mußten sich z.B. Sagen, die auf Raub und despotische Unterdrückung hindeuteten, bei jedem Volk bilden, das die untern Entwickelungsstuffen durchgegangen war, und nun, aus einem glücklichern Zustand, in jene Zeit der Barbarei, von der noch immer Spuren sich ihm aufdrangen, zurückblickte. Schatzgräbergeschichten, die sich so leicht mit Geister-Sagen verschwistern, erzeugte der Wunsch sich ohne Anstrengung zu bereichern, bei orientalischen und occidentalischen Völkern, und der Glaube an gefundene [57] oder aufzufindende Schätze belebt noch jetzt die Hofnungen der Beduinen in Arabien und Egypten, wie des Türken in Griechenland, und wie des Spaniers und Deutschen auf einer gewissen Kulturstuffe. Die dem Forscher in ihrer Verwandschaft anfangs auffallenden Verwandlungs-Sagen finden sich ebenfalls bei vielen, durch Sitten, Sprache und Klima von einander ganz isolirten Völkern, bei Griechen und Römern nicht nur, sondern auch bei den Indiern, den Mongolen, den Tataren, den Kamtschadalen, den Lappen und Grönländern; so daß wir hier mehr an Einwirkung einer bestimmten Kulturstuffe auf den menschlichen Geist, als auf Mittheilung und Uebertragung von einer Nation auf die andre denken müssen, zumal wenn die Vergleichung der Sagen lehrt, daß nationelle Stimmung und nationelle Zeitideen, bei aller anscheinenden Uebereinstimmung, doch Eigenthümlichkeit bewirkten.


[58] Die folgenden Volkssagen machen keine Ansprüche, irgend wohlhergebrachte Rechte zu verkümmern; sie wollen weder griechische Mythologie aus ihrem bisherigen Wirkungskreise (obgleich der Denker oft, selbst in weiblichen Pensions- und Erziehungs-Anstalten, die Sagen von der Alkmene, der Jo, der Danae, vom Netz des Vulkans, das Mars und Venus umschlang, mit Kopfschütteln hört, oder dergleichen Abbildungen von Kindern angestaunt und belacht sieht), noch die isländische Edda, des sonderbaren Gemisches von heidnischen und biblischen Ideen ohnerachtet, und obgleich manche Forscher in ihr nur eine zusammen gerafte Dichtung müßiger Köpfe sehen 13, vom nordischen Himmel verdrängen.

Aber, bei aller Anspruchslosigkeit hoffen auch norddeutsche Sagen doch, hier und da, künftigen Dichtern Stoff zu Episoden darzubieten, [59] wie Thor und Herakläs, und dem Griffel und Pinsel Ideen zu liefern, die, wenn das Lokale dabei sorgsam benutzt wird, mit jenem, welche die Walhalla und der Orkus und Tartarus darbieten, vielleicht wetteifern könnten. Auch dürften sie selbst, weder in Absicht ihres sittlichen noch dichterischen Gehalts, die Vergleichung nicht scheuen, weder mit den Sagen, worauf die nordische Mythologie sich gründet, noch selbst mit manchen griechischen und römischen Mythen.

In Absicht der Sittlichkeit berufe ich mich hier nur, für jedes unverstimmte Gefühl, auf die ewigen Zänkereien des obersten der Götter mit seiner Vermählten, an die Verwandlungen des Zeus in einen Stier, Schwan, goldnen Regen u.s.w. um schwache Weiblein zu berücken, an die schrecklichen Scenen in den Mythen von der Medea, vom Tyest, Pelops, Atreus, Orest; und in Absicht der Dichtung, auf den hundertaugigen Argus, den dreileibigen Geryon, den hundertarmigen Briareus, [60] auf die Chimaira, vorn Löwe, hinten Drache, in der Mitte Ziege, und auf den Himmel-tragenden Atlas, wie er dem Herkules seine Last aufbürden will.

Um die Beurtheilung des ästhetischen Werths zu erleichtern, mögen hier noch ein paar Stellen zur beliebigen Vergleichung stehen.

1) Aus der Edda 14.

»Die Söhne Börs erschlugen den Riesen Ymer; und aus seinen Wunden floß ein grosser Strom von Blut, der so hoch anschwoll, daß das ganze Geschlecht der Eisriesen darin ertrank. Nur einer, Namens Bergelmer, rettete sich mit seinem Weibe und seinem ganzen Hause auf einem Nachen. Von demselben stammt nun das ganze Geschlecht der Eisriesen ab. Die Söhne Börs aber zogen den Riesen Ymer in die Mitte des Abgrundes, und machten aus seinem Leichnam die Welt, aus seinem Blute das Meer und die Flüsse, aus seinem [61] Fleische die Erde, aus seinen Knochen die Felsen, aus seinen Zähnen und Kinnstöcken, und aus den zerbrochnen Beinen die Steine und Klippen. Aus seinem Kopfe aber machten sie den Himmel, und setzten ihn oben über die Erde, mit seinen vier Enden, und postirten unter jedes Ende einen Zwergen; die hießen: Austre, Westre, Südre, Nordre. Darnach nahmen sie die aus Muspelheim (die Feuerwelt) herübergeflogene Lichter und Funken, und setzten sie oben und unten an den Himmel, damit sie die Erde und ihn erleuchten sollten. Sie wiesen auch allen diesen Feuerlichtern ihren Platz an; einige befestigten sie am Himmel, andern gaben sie einen freien Lauf unter dem Himmel.«

Die Bildung des ersten bösen Riesen Ymers erklärt folgende Sage: »Als sich die Flüsse Eliwagar so weit von ihrer Quelle entfernten, daß der darin erhaltene Gift verhärtete, entstand das Eis. Und da dies nicht mehr rann, so gefroren alle Giftdünste zu Reif, und es wuchs ein Reif über den andern, bis in die [62] Kluft Sinungapap. – Diese Abgrundskluft war so leicht, wie die windstille Luft des Himmels, und da der heiße Wind, der aus Muspelheim herüberkam, daß er schmolz und troff, wurden die Tropfen, durch die Kraft dessen, der die Hitze gesendet hatte, lebendig, und daraus entstand der Körper des Mannes, den man Ymer nennt. Man achtete diesen Ymer keinesweges für einen Gott; denn er war böse, wie sein ganzes Geschlecht. Es erzählt aber die Sage, ihm sey im Schlafe unter seinem linken Arme ein Männchen und ein Weibchen herausgewachsen, auch habe sein einer Fuß mit dem andern einen Sohn gezeugt. Daher sollen die Hrymthußen (Eisriesen) entstanden seyn, deren Urvater Ymer ist.«

2) Aus der homerischen Hymne auf Hermäs 15.


[63] »Ihn gebar der Morgen, am Mittag spielt er die Leier,
Und am Abend stahl er die Rinder Foebos Apollon.
Als er sich losgerißen hatte vom Leibe der Mutter,
Konnt' ihn nicht halten die vierte Stund der heiligen Wiege.
Plötzlich sprang er empor, und suchte die Rinder Apollon. –
Maja Sohn, der Zielerreicher, der Mörder des Argos,
Sonderte von der Heerde funfzig brüllende Kühe,
Trieb die irrenden hin und her in dem sandigen Felde,
Ihrer Tritte Stapfen verwirrend; dann wandt' er sie, schlauer
Ränke voll, daß die letzten die ersten wurden, die ersten
Füße die letzten. So trieb er die Heerd', und auch selbst ging er rücklings.
– Er zog zwo der gehörnten Küh' aus dem Stalle;
(Denn er hatte gewaltige Kraft) zur brennenden Höhle,
Beide warf er alsbald zu Boden, die Schnaubenden, wälzte
[64] Auf den Rücken sie, beugte sich drüber, und durchstach sie. –
Solches that er bei Nacht, beim Schimmer des leuchtenden Mondes.
Gegen Morgen kehrt' er zurück zu den heiligen Gipfeln
Von Külläne. Es kam auf dem langen Weg ihm entgegen
Keiner der seligen Götter, und keiner der sterblichen Menschen.
Keine Hunde bellten. Der Geber des Reichthums, Hermäs,
Duckte nieder, und schmiegte sich durch das Schloß in der Wohnung,
Einem Nebel ähnlich und einem herbstlichen Dunste.
Eilend verkroch er sich in die Wiege, der Ränkeerfinder,
Und umwand mit den Binden die Schultern; dann zog er die Füße
Spielend unter den Wiegendecken, hinauf zu den Händen,
Und in der Linken hielt er die lieblichtönende Leier.
So lag Hermäs, ähnlich dem neugebornen Kindlein. –
[65] Foebos, als er die Winkel des prächtigen Hauses erforschet
Hatte, mit spähendem Auge, sprach er zum listigen Hermäs:
Kind in der Wiege, zeige mir an, wo hast du die Kühe? –
Hermäs erwiedert' ihm schnell mit listigen Worten und sagte:
Daß ein neugebornes Kind vom Felde nach Hause
Habe Heerden getrieben, das sind nicht Reden des Klugen.
Gestern geboren! zart die Füß' und steinig der Boden!
Einen schweren Eid, so du willst, bei dem Haupte des Vaters
Schwör' ich, daß ich nicht, ich nicht sey Thäter des Diebstahls.
– Foebos Apollon hob den Knaben, und trug ihn.
Da bedachte sich bald der rüstige Argos-Besieger;
Hoch in den Händen Apollons gehoben, versendet er einen
Garstigen Boten, einen schlimmen Gesellen des Bauches.
[66] Augenblicklich nießt er darauf. Apollo vernahm ihn,
Und warf auf die Erd' aus seinen Händen den Knaben.
– Er band ihm die Hände mit bastenen, starken
Banden. Die sanken alsbald zu den Füßen hernieder,
Ob er sie gleich verflochten hatte mit künstlichen Schlingen.
Plötzlich waren gefesselt mit diesen Banden die Kühe,
Alle Kühe, durch Hermäs Gaukelkünste. Bewundernd
Sah' es Foebos Apollon. Der listige Argosbesieger
Blickte, beschämt, der Schalk, mit blinzenden Augen zur Erde« u.s.w.

Noch könnten, unter vielen andern, folgende Mythen im Homer zur Vergleichung dienen: Iliade 1, 587-94. B. 5, 384-402. B. 8, 10-27. Odyßee 8, 266-366. – Doch dürfen wir dabei nicht übersehen, daß, weder die eigenthümliche Darstellung des Dichters, noch die Nebenideen, welche ein so langes Studium [67] an die Mythen knüpfte, sondern nur die Grundzüge der Sagen selbst, Gegenstand der Vergleichungen seyn können.


Die Anordnung der folgenden Volkssagen konnte nach einer doppelten Ansicht geschehen. Entweder konnten sie nach den wahrscheinlichen Beziehungs-Perioden zusammen gestellt werden, oder, nach der Lage der Gegenden, denen sie angehören. Jene Anordnung würde ich, in historischer Rücksicht vorgezogen haben, wenn nicht die genaue chronologische Bestimmung mancher einzelen Sagen zu grossen Schwierigkeiten unterworfen wäre; ob sich gleich aus der Vergleichung ergiebt: daß einige von ihnen, z.B. die Hühnen- und Zwerg-Sagen, die von der Göttin Lora, von der Teufels-Mühle, der Teufels-Mauer u.s.w., in Absicht der Beziehungs-Periode, dem fünften bis zwölften Jahrhundert angehören, die meisten dem Zeitraum der Fehden, des Faustrechts und [68] der Räubereien, vom zwölften bis funfzehnten Jahrhundert, und nur wenige dem sechzehnten Jahrhundert. – Die jüngste der hier aufgenommenen Volks-Sagen: Ehrlich währt am längsten! unterscheidet sich, theils durch den mehr prosaischen Vortrag, der die spätern Bildungs-Perioden auszeichnet; und die Abnahme der glühenden Phantasie, welche in vielen ältern Volks-Sagen athmet, theils in Absicht des Inhalts, der auf umgeänderte Volks-Stimmung hindeutet. Hier ist kein Rückblick mehr auf gewaltsame Unterdrückung der untern Volks-Klassen, hier kein Burgverließ, keine schauder-erregende Raubhöle, hier kein Zauberer, kein verkörperter Halbgeist, hier weder Riese noch Zwerg. Die auftretenden Personen sind gewöhnliche Menschen, wie wir sie jetzt finden, einige Nüanzierungen abgerechnet. Die Annäherung der Stände ist schon überall bemerkbar. Das Volk kennt schon, aus längerer Erfahrung, eignen Lebensgenuß und häusliche Freuden; und das Kolorit ist merklich heller. – Aus dergleichen [69] Sagen schließt der Denker mit Recht auf das Verschwinden der traurigen Ueberreste des Raub-Despotismus, auf Anerkennung des Menschenwerths, auf wachsende Kultur, und auf eine regelmäßige Landesverfassung. Aber er erklärt sich auch daraus das allmählige Verschwinden der Volks-Sagen in dieser Periode der Ruhe und der gleichmäßigen Ordnung.

Hätten alle hier vorgelegten Sagen eben so bestimmende Fingerzeige dargeboten, als diese; so würde der Sammler die chronologische Anordnung gewählt haben. – Aber, da so oft sich nichts als Hypothesen darstellten, so wählte er lieber die gewissere geographische Anordnung, welche dem, dem solche Darstellungen ansprechen, gleichfalls einen interessanten Ueberblick darbietet.

Fußnoten

1 Den Einfluß des Klima und des Bodens eines Landes auf den Charakter seiner Bewohner und der Aeusserungen desselben, anschaulicher zu machen, mag hier eine Stelle aus »Georg Vancouders Entdeckungs-Reise in der Südsee, von 1790-95.« stehen. – Zu Woahu (einer der Sandwichs Inseln) muß der arme Insulaner, sowohl beim Pflanzen, als Gäten und Einsammeln, beinah beständig bis an den Gürtel in Sumpf und Koth stecken, und die brennenden Strahlen einer scheitelrechten Sonne ertragen. In Otaheite's Ebnen hingegen, bringt der Boden freiwillig, ohne Arbeit und Mühe der glücklichen Bewohner, den größten Ueberfluß eßbarer Früchte und Wurzeln hervor, indeß ganze Wälder von hohen, schattenreichen Brodfruchtbäumen, Palmen und Aepfelbäumen, diesen beglückten Insulanern die lieblichste Kühlung gewähren; ein Genuß, der den Bewohnern der Sandwichs-Inseln beinah gänzlich unbekannt ist. Eben dieser Unterschied, welcher den Boden bezeichnete, schien auch den Charakter der Einwohner auszudrücken. »Bei unserer Landung auf Otaheite strahlte uns Freundschaft und Freude aus jedem Gesicht entgegen. Jedermann strebte, unsern Wünschen und Bedürfnissen mit der freundlichsten Sorgfalt zuvor zu kommen; man nöthigte uns in jedes Haus, um Erfrischungen einzunehmen, und überall herrschte eine Gastfreiheit, die man jetzt vergebens unter den gebildetesten Völkern suchen würde. Zu Woahu hingegen wurden wir mit finstrer Kälte betrachtet. Unsre Bedürfnisse erregten nichts als Gleichgültigkeit, man bot uns keine Erfrischungen an, und niemand nöthigte uns in seine Hütte. Ihre fremde Höflichkeit schien bloß von dem Verlangen herzurühren, das gute Vernehmen mit Freunden zu unterhalten, von denen viel zu gewinnen war, und welchen man auf andre Art nicht beikommen konnte.« – Die Anwendung auf die Verschiedenheit der Darstellungsart und der Erzählungen dieser durch ihre verschiedene Lage so verschieden gestimmten Völkerschaften, ist leicht.

2 Als Beweis diene hier das, was Penelopeia zum Odüßeus sagt, der als Fremdling zu seinem Hause kommt: »Sage mir dein Geschlecht und deine Abkunft. Denn du stammst doch nicht von den Klippen und Eichen in der vielgefabelten Sage.« (S. Odüßee 19, 163. und Hesiods Theogenie) – Berufungen auf alte Sagen, s.z.B. Iliade 2, 783. Aeneide 7, 680.

3 Man vergleiche die unten vorkommenden Sagen von der Quästenburg und dem Thomaspfennig.

4 Nach Voß Uebersetzung, 1799.

5 Der Sprachforscher wird hier an folgende verwandte Idiotismen denken: die Leggen, d.h. Schauplätze für den Leinwandhandel in Westphalen u.s.w. lugen, d.h. sehen, belugen, d.h. betrachten, Luke, d.h. eine Oefnung im Dach, durch welche man hinaussehen kann und Licht hineinfällt, Lucht statt Licht u.s.w.

6 Aus dem noch ungedruckten Heldengedicht: Heinrich der Löwe, von Kunze. Heinrich redet.

7 Der hohe Born ist eine einsame Gegend bei Schwanbeck, westwärts zwischen dem Städtchen und dem Jürgenholze, wo der Limbach, wie ein kleiner Strom, unter einem Stein, aus dem Berge herausfließt.

8 Nach Voß Uebersetzung. (1793.)

9 Und doch hatte vielleicht die weltberühmte Sage vom Lacus Curtius, auf dem Forum Roms, welche Dichter und Geschichtschreiber nach Jahrtausenden noch immer nacherzählen, in ihrem Entstehen, keinen größern historischen und dichterischen Werth, als die Sage vom Sumpf bei Stemmern!

10 S. Aen. 8, 630 ff. 655 ff.

11 »Von zwölf Geliebten erzeugte in einem einzigen Jahre

Ein Vater, so will es die Sage, der Knaben zweimal sieben.

Vorsichtig besorgten voraus dreizehn Wiegen die Mütter.

Reichten sie? Nein! man grif, beim letzten Knäbchen, zur Mulde.«

S. Bratring Magazin für Land- und Geschichts-Kunde. 1stes H. 1798.

12 Alls Beispiel nenne ich hier die Sagen vom Croppenstedter Vorrath, und die: Ehrlich währt am längsten!

13 S. Adelungs Abhandlungen über die Edda, in den Erholungen.

14 S. Gräters Bragut. B. 1.

15 Nach der Uebersetzung von Christian Gr. von Stollberg.

[74] Lora, die Göttin der Liebe.

Lora, 1 die Göttin, gab der Bergveste Lora den Namen. Sie wurde, ehe Karl, der Sachsenbändiger, und sein Bekehrer Winfrid die unterjochten Harzbewohner tauften, von den Sachsen dieser Gegend mit großer Theilnahme verehrt. Ihr war ein großer, schauerlicher Wald geweiht, dessen Ueberreste noch jetzt den Denker fast unwillkührlich in die dämmernde Vorwelt hinüberzaubern. Jetzt erinnern daran, ein beschränktes Gehölz, der Aufenthalt von zahllosen Vögelschaaren, die Ruhensburg genannt, zwischen dem Reinharts-Berg, Bleicherode, und der Burg Lora, und einige getrennte Feldhölzer, zwischen denen nun gutgebaute Dörfer, von der Wipper benetzt, die reizende Gegend, welcher [75] der Brocken zum fernen Hintergrund dient, beleben.

In diesem Walde opferten einst die Jünglinge der Göttin Lora, im Spätjahr, die Erstlinge der Jagd. Und im Frühling brachten die Jungfrauen, unter frohen Gesängen, der Göttin Blumenkränze dar. Mit dem schönsten Kranze schmückte dann der Oberpriester Lora's feierlich das Haupt des Mädchens, das sich durch weibliche Tugenden, durch standhafte Liebe, und durch ausdauernde Treue gegen den Geliebten, ausgezeichnet hatte.

In der Mitte des Berges, auf dem man vorzüglich Lora verehrte, entsprang eine Quelle, zu der unglücklich Liebende, besonders Jungfrauen, denen der Tod ihren Geliebten entriß, wallfahrteten, um hier Ruhe und Vergessenheit zu trinken. Auf dem Gipfel dieses Berges baute eine edle Jungfrau der Sachsen, deren Verlobter in einer Schlacht gegen die Franken das Leben verlor, die Ruhensburg, wovon der Hain noch jetzt den Namen [76] führt. Ruhensburg nannte sie den Ort, weil ihr Lora in diesem Haine einen neuen, ihrer würdigen Geliebten sandte, dessen Liebe die Trauernde tröstete, und ihrem Herzen die langentbehrte Ruhe wiedergab.

Aber, furchtbar war dieser heilige Wald den Untreuliebenden. Hier büßte Hermtrud ihren Frevel mit dem Leben. Sie war mit Eilgern, einem edeln sächsischen Jüngling, verlobt. Kampf für das Vaterland entriß ihn ihren Armen; und ihm schwur sie, bei der Trennung, mit erheuchelten Thränen, ewige Treue. Aber, wenige Tage nachher sah Lora die Schwur- und Pflicht-Vergessende in Herrmans Armen. Die Strafbaren hatten sich in den »Buchen«, einem Gehölz unfern der Ruhensburg, versteckt. Hier schreckte Lora sie auf, durch einen Hirsch, der das Dickigt rauschend durchbrach. Und Hermtrud floh, und betrat, ohne Besinnung, Lora's heiligen Hain. Der Berg erbebte, und die Erde spie Flammen aus, welche die Unglückliche verzehrten. [77] Die Priester eilten hinzu, sammelten Hermtrudens Asche, und begruben sie in einem kleinen Thale am Fuß des Berges. Hier hört man noch jetzt in der Dämmerung das klägliche Winseln der Treulosen, das Untreuliebende warnt, den Hain zu betreten.

Winfrid, das Schrecken der Götter der Sachsen, zerstörte mit seinen Genossen auch die Ruhensburg; denn, verschwunden war jetzt Lora's Macht. Folgende Rache erschöpfte ihre letzten Kräfte. Ohnweit des Reinhartberges ereilte sie Winfrid, den Siegprangenden, und – Wagen und Pferde blieben plötzlich in tiefem Schlamm stecken. Und er wäre hier von der Erde verschlungen, hätte ihn nicht das Gebet zu der heiligen Jungfrau gerettet. Zum Andenken dieser Gefahr errichtete er drei Kreuze, die noch jetzt an dem Orte zu sehen sind, wo die Erde ihren Schlund gegen ihn aufthat, und weihte »in seinem Elende bei Lora's Walde« der Maria eine Capelle. Noch jetzt heißt davon der Ort: »Elend.«

Fußnoten

1 Oder, nach einer andern provinziellen Aussprache, Lara.

[79] [81]Jakob Nimmernüchtern.

Jakob, ein wohlhabender Bauer in einem thüringischen Dorfe, lebte auf einem Hofe, der schuldenfrei vom Vater auf den Sohn vererbt war. Er war stark und wohlgebaut, unbescholtenen Rufs, still, häuslich, arbeitsam, geliebt und geehrt von den Dorfsbewohnern; bis ihn Jungkherrn Veits Jagdhunde von Haus und Hof jagten, und den friedlichen Landmann zum Trunkenbold, Räuber und Mörder machten.

Einst hörte Jakob, als er eben zum letzenmal seinen Aerndtewagen anschirrte, Packan, seinen großen Hofhund, den er, wegen seiner [81] Treue und oft schon erprobten Hülfsleistungen gegen Diebe, liebte, kläglich auf der Straße schreien. Er stürzte mit einem Knüttel bewafnet aus dem Hofe, und schlug damit auf zwei gewaltige Hunde los, unter denen er seinen Packan liegen sahe; und dieser verfolgte nun seine fliehenden Feinde.

Aber, in diesem Augenblick sprengte Jungkherr Veit, mit einigen reisigen Knappen und einer ganzen Meute Hunde, heran, fluchte, als Jakobs Nachbarin, Marie, ihm den Vorfall aus dem Fenster zurief, alle Teufel aus der Hölle auf die Bauern herab, mißhandelte den wehrlosen Jakob aufs grausamste, und ließ ihn halbtodt nach seiner Burg schleppen, die etwa eine Stunde vom Dorfe, dessen hochgebietender Herr er war, im Walde versteckt lag.

Es war die Zeit des Faustrechts, wo der übermächtige Ritter, der, bei der Ohnmacht der Fürsten, keinen Obern über sich erkannte, nur von Rechten, nie von Pflichten sprach, dem unterdrückten Landmann aber keine Rechte zugestand; [82] wo der Bauer fast als Leibeigner und als Waare betrachtet wurde, die der Besitzer nach Willkühr verkaufen oder umsetzen könnte. – Und so fiel es Niemanden ein, Jakobs Rechtfertigung zu hören, oder seine Vertheidigung zu übernehmen. Er schmachtete fünf Monate, von Kälte und Hunger und Ungeziefer gepeinigt, in einem Gefängniß, das man das Hundeloch nannte, ob es gleich für Menschen bestimmt war, und ein Stück verschimmeltes Brod war sein höchstes Glück.

Doch mehr als dies alles kränkte ihn der Uebermuth der Knappen, die, auf Veits Reizung, ihn alle Tage verhöhnten, und am meisten der bittre, herznagende Spott der stolzen Kathrine; so nannte man das einzige Kind des Jungkherrn. Diese, der Liebling und das Ebenbild ihres Vaters, ritt alle Tage mit ihm auf die Jagd, und, wenn sie vor Jakobs Gefängniß vorbei kam, welches in der Thür eine Oefnung hatte, um etwas Luft, und das Brod, das man ihm zuwarf, auf zunehmen, hetzte sie [83] unter der lauten Hohnlache des Vaters, die Hunde gegen Jakob an, und fragte mit kreischender Stimme: Ob der Hund die Hunde nicht wegprügeln wollte? Ob er, oder sein Sohn, nicht etwa ein Fräulein, wie sie, zur Frau haben wollte, da ihm Marie nicht gut genug gewesen sey? u.s.w. Auch erlaubte sie sich dabei noch manches, das die Ehrbarkeit verschweigt, und das man von einem zwanzigjährigen Fräulein nur bei solcher Zucht erwarten konnte.

Jakob biß die Zähne zusammen, und schwieg. Endlich aber, da sie ihm einst drohte, ihn in das Burgverließ werfen zu lassen, damit er den Hunden das Brod nicht verkümmere, und er noch einige Kräfte fühlte, ob gleich seine nakten Arme, wenn er sie ansah, nur noch die Stoppeln von dem zeigten, was er sonst war, beschloß er durchzubrechen. In einer stürmischen Nacht, am Ende des Winters, fing er an die morschen Wände seines Kerkers zu erschüttern, und nach einigen Versuchen [84] stürzten sie über ihn zusammen. Er kroch auf Händen und Füßen durch die tiefen Graben, die den Burghof rings umschlossen, und die noch mit Eis bedeckt waren, und – fühlte sich nun wieder frei.

Aber, wohin sollte er gehen? Richter, an die der Unterdrückte sich hätte wenden können, gab es damals nicht; Beschützer, die ihn gegen neue Mißhandlungen schirmten, gab es für seines Gleichen nicht. Um der Rache seines Jungkherrn und der stolzen Kathrine zu entgehen, mußte er landflüchtig werden; denn er sah schon im Geiste mit Anbruch des Tages Knappen und Hunde aufbieten, um den Flüchtling zu verfolgen. Und heimzukehren durfte er erst nach vielen Jahren wagen, wenn der Zorn seines gestrengen Herrn ausgetobt hatte, oder der Tod ihn stillte.

Doch, ehe er sein väterliches Land auf immer verließ, wollte er noch; auf einige Stunden, sein Haus, sein treues Weib, und seine beiden erwachsenen Söhne sehen, von denen er [85] in der ganzen langen Zeit auch nicht ein Wort gehört hatte, wollte ihnen seine ausgestandenen Leiden klagen, sich mit ihnen freuen, daß er nun frei sey, wollte sich einmal wieder in einer menschlichen Wohnung erwärmen, sich rein kleiden, und dann mit einer kleinen Baarschaft weiter fliehen.

Bald erreichte er, von dem Monde, der durchs Gewölk blickte, geleitet, sein Dorf, und stand mit pochendem Herzen vor seinem Hofe. Aber, bei allem Klopfen und halblautem Rufen antwortete weder Packan, noch eine menschliche Stimme. Voll Ungeduld überstieg er die Hecken, die seinen Hof einschlossen, ging in das offenstehende Haus, und fand – alles leer, kein Weib, keinen Sohn, keinen Tisch, keinen Stuhl, kein Bette, keine Thür, nichts als die nackten Wände. Jakob schlug sich mit der geballten Faust vor die Stirn, und saß dann in sinnlosem Hinbrüten einige Stunden auf der kalten Erde. Dann jagte ihn ein Fieberfrost auf, und der Gedanke an den kommenden Tag. [86] Er befühlte sich, ob er noch lebe? ob er träume? Er betastete alle Wände, ob es auch sein Haus sey? Und das Grausen schüttelte seine abgezehrten Glieder; es eiste ihm am ganzen Körper. – Länger vermochte er nicht zu bleiben; er stürzte aus der Thür, und wankte durch den Garten in das freie Feld hinaus.

Jetzt rief der ihm wohlbekannte Wächter im Dorfe: Eins! Und der erste Strahl der Hofnung kam in sein Herz. Unter den bellenden Hunden hörte er die Stimme seines Packan. Jakob pfiff; und nach einigen Augenblicken sprang sein treuer Hund, laut aufschreiend vor Freuden, an seinem Herrn heran. Jakob küßte seinen alten, abgehungerten Freund, und wandelte, schon festern Schritts, weiter; denn, er fühlte sich nun nicht mehr allein, und von Allen verlassen.

Ehe die Sonne aufging, befand er sich schon, mit seinem treuen Begleiter, in einer versteckten [87] Höle, am Fuß der Rothenburg 1, die er sich schon längst, in seinem Gefängniß, zum Schlupfwinkel ausgesucht hatte, und die er von seinen Kinderjahren her kannte. Es wurde Tag. Er setzte sich in die höhersteigende Sonne, und erwärmte sich, nach sieben Monaten, zum erstenmale; zum erstenmale sah' er wieder Bäume und Felder im Sonnenlicht.

Aber, nun ängstete ihn der Hunger, und auch sein Hund sah' ihn bedeutend an. Da erblickt' er, in ziemlicher Entfernung von der Höle, einen Bettler mit gefülltem Ranzen daherschleichen auf der Landstraße. Und Jakob, der noch nie in seinem Leben ein Stück Brod erbeten, desto öfter aber ausgetheilt hatte, eilte mit Packan den Weg hinab. Er fand den Bettler am Wege liegen mit abgewandtem Gesicht, grüßte ihn, und bat um ein Stück Brod für seinen Hund, und – für sich. Der Bettler [88] wandte mit halbem Gesicht sich um, und Jakob erkannte, in dem geglaubten Greise, laut aufschreiend, Frieden, seinen ältesten fünf und zwanzigjährigen Sohn.

Er fütterte seinen hungrigen Packan, aß hurtig und schweigend einige Bissen Brod, trank aus der dargebotenen Flasche, und dann zog er, ohne zu reden, seinen Sohn mit sich zur Höle, und ließ sich erzählen, wie es stand. Hier nun erst hörte er sein Unglück ganz.

Einige Stunden nach Jakobs Verhaftung hatten Veits Frohnvoigte die Mutter und die Söhne vom Hofe getrieben, und ihnen kaum so viel gelassen, daß sie ihre Blöße bedecken konnten. Die Aecker, die zu dem Hofe gehörten, hatte sein dummstolzer Nachbar bekommen, der einst Stallbube bei Veit war und der sich des Jungkherrn Kebsweib, Marie, hatte vertrauen lassen. Diese Marie hatte Veit eigentlich für Frieden, Jakobs Sohn, bestimmt, der aber schon mit einem Mädchen verlobt war, das, ohne reiche Aussteuer, [89] die Krone des Dorfs war, an Tugend, Häuslichkeit und Schönheit. Eben diese Marie, jetzt bittre Feindin Jakobs, von dem sie sich verschmäht glaubte, nahm das Hausgeräthe und das Vieh zu sich, für die Pflege der zerbißnen Hunde des gnädigen Herrn, so sagte sie. Den folgenden Tag war die stolze Kathrine in das Dorf gekommen, und hatte sich die teuflische Freude gemacht, Jakobs Frau und Friedens Braut den Mißhandlungen der frechen Knappen und der rachsüchtigen Marie Preis zu geben. Die Mutter hatte sogleich der Schlag gerührt, und sie war nach einigen Tagen gestorben. Ihr war zwei Monate nachher Friedens Verlobte, aus Gram, ins Grab gefolgt. Kurt, der jüngere Sohn war einer Rotte streifender Lanzknechte gefolgt, und Friede bettelte.

Jakob stürzte, als die bittre Erzählung sich endigte, nieder zur Erde, knirschte mit den Zähnen, und schwieg. Nach einiger Zeit riß er wild sich auf, und – schwieg; aber im [90] Herzen fluchte er Veit und allen seinen Genossen! Tiefsinnig ging er einige Tage vor sich hin. Lange kämpfte in ihm der Gedanke, sich selbst das Leben zu nehmen, mit dem Gedanken an Rache. Doch der Verzweifelnde war zu jenem Entschluß noch nicht erschöpft genug. Er schwur in seinem Herzen schreckliche Rache!

Jetzt meldete ihm Friede, der von einer Wanderung zurückkam, daß ihr Aufenthalt in der Höle nicht mehr sicher sey, und daß Veits Buben den nächsten Tag die Rothenburg und den Kyffhäuser-Berg durchsuchen würden. Jakob eilte daher, mit anbrechender Nacht, in das dunkelere Harzgebirg bei Stollberg, und von da, nach einigen Tagen, nach dem damals undurchdringlichen Walde bei Lora. Hier spähte er, bei seinem Umherirren, endlich einen sichern Aufenthalt aus, der ihn Jahre lang vor Nachstellungen aller Art schützte.

Zwischen der Bergveste Lora und den Dörfern Wüllferoda und Sollstädt, entdeckt der [91] Forscher, im Dunkel des Gehölzes, einen felsigten dornbewachsenen Bergrücken, und auf beiden Seiten Schaudererregende Abgründe, zwischen denen nur der kühne und nicht schwindelnde Wanderer über die Felsenwand hinzugehen wagt. Am andern Ende des Bergrückens sieht er dann einen steilen verwachsenen Abhang; und, wenn er diesen mühsam herabgeklommen ist, dicht vor sich zwei majestätische Felsenwände, die einen Zwischenraum von einigen Fußen zum Durchgang öfnen, von oben herab aber zu einem festen Ganzen vereinigt scheinen. Zwischen ihnen zieht sich allmählig herab eine Schluft, die in der Tiefe, hinter dichtem Gesträuch, den Eingang zu einer kleinen Höle verbirgt, durch die man seitwärts zu einer größern sehr geräumigen Höle aussteigt. - Unbekannt war diese Schluft und diese Höle damals den Bewohnern des loraischen Gau's; und noch jetzt berührt sie selten ein menschlicher Fußtritt, obgleich das Gebirge jetzt weniger wild und verwachsen, [92] und der Zugang mehr gebahnt ist, als in der Vorzeit.

Hier beschloß Jakob zu wohnen. Hieher brachte Friede die erbettelten Lebensmittel, und Werkzeuge und Kleidungsstücke mancherlei Art. Und Jakob richtete unterdeß seinen Packan ab, bahnte sich allmählig einen Fußsteig, den felsigten Abhang herab, und -sann auf Rache. Fluch dem Jungkherrn Veit war sein erster Gedanke am Morgen; Fluch allen Burgbeherrschern, die ihre Bauern unter das Vieh erniedrigten! sein letzter Gedanke am Abend.

Zwar sträubte sich anfangs sein innres Gefühl, da er sonst immer half und förderte, wo er helfen und besser machen konnte. Aber bald betäubte er diese innre Stimme durch die stete Erinnerung an die Mißhandlungen, die er und sein Weib und seine Kinder erfahren hatten und, durch berauschendes Getränk. Nur mit solcher Ladung war ihm sein Sohn willkommen; und, um Vorrath für die Zukunft sammeln [93] zu können, trieb er ihn alle Tage an, ihm Brandwein zu bringen. Und Friede bettelte von Haus zu Haus um einige Tropfen dieses damals noch seltnern Getränks, zur Labung eines abgelebten Vaters, der nun bald in einer Höle des Waldes, die er aber nicht näher bezeichnete, verscheiden würde. Da Friede mit dieser Bitte so oft wiederkehrte, so nannten die benachbarten Landleute den unbekannten Hölenbewohner davon!Nimmernüchtern.

Als Jakob auf mehrere Monate Vorrath zu haben glaubte, so schickte er seinen Sohn fort, mit dem Befehl, nicht ohne seinen Bruder Kurt zurückzukehren, von dem er mehr Muth und Einstimmen in seine Entwürfe erwartete, und blieb mit Packan allein. Er war längst entschlossen, Räuber zu werden, aus Rache; auch konnte sein stolzes Herz sich nie zum Betteln beugen.

Um diesem festen Entschluß getreu bleiben zu können, gewöhnte er sich, nur von dem [94] Fleische geraubter Thiere zu leben. Und, in Erwartung der Zeit, wo er seine größern Entwürfe ausführen konnte, stahl er von den Heerden der Edelleute und Klöster, die er für die Pest des Landes hielt, Schaafe und Ziegen, auch wohl Rinder, wobei ihm sein Packan trefliche Dienste leistete, der zuweilen ihm ganze kleine Heerden in seine Höle, oder an den Felsenrücken trieb, der sie versteckte.

Um sich die Arbeit zu erleichtern, und die Gefahr vor jetzt von sich zu entfernen, unternahm er seine Streifzüge nur in der Dämmerung, oder in der Nacht, in einen ganz schwarzen Kittel gehüllt. Für die Gelegenheiten aber, wo er Schrecken erregen wollte, bereitete er sich ein Obergewand aus einer schwarzen Kuhhaut, deren Hörner ihm zum Kopfschmuck dienten. In dem Munde hielt er dann eine Zunderbüchse mit morschem Holz angefüllt, aus der er, nach Befinden der Umstände, dicken Rauch oder auch Feuer blasen konnte. Wenn er nun so in der Nacht einherwandelte,[95] von seinem großen pechschwarzen Hunde begleitet, der nicht bellte, aber grimmig umherblickte nach Beute; so war es begreiflich, daß ihn die Hirten für den leibhaften Herrn der Hölle hielten, und bei seiner Annäherung flohen; so daß er oft nicht einmal zu seiner brennenden Zunderbüchse die Zuflucht zu nehmen brauchte.

Da er keinen Menschen thätig beleidigte, so fingen mehrere Landleute, welche öfters die Erscheinung gesehen hatten, an, ihn für einen gutmüthigen Teufel zu halten, und wagten es auch wohl, gelegentlich ein paar Worte mit ihm zu sprechen.

So traf Jakob einst, bei einbrechender Nacht, im Walde einen Hirten, der zehn fette Hammel vor sich hertrieb. Mit Donner-Stimme rief er ihm zu: Wohin? Zitternd antwortete dieser: Zum Abt nach Elende. Jakob blies nun Feuer aus seinem Munde und rief: »Ich bin der Teufel! der Abt, dein Herr, und die Schaafe sind mein!« Der Hirte [96] bekreuzte sich bebend. Da sagte Jakob: »Dir kann ich nichts anhaben; gehe, wohin du willst; doch sage vorher dem Abt: sein Bruder, der Satan, habe die Hammel in Empfang genommen.« Der Hirte, dem das Entsetzten das Haar aufsträubte, wagte es doch, heraus zu stottern: Ach, gnädiger Herr Teufel! gebt mir doch einen Zeddel (Empfangsschein); sonst glaubt es mein Jungkherr und der Abt nicht. »Sage dem Abt, antwortete Jakob, diese Nacht um zwölf Uhr würde ich vor seinem Fenster erscheinen, und ihm zur Vergeltung einen schönen Festbraten mitbringen.« – Der Hirte überließ die fetten Hammel Packan, der sie sicher bis an die Felsenwand trieb, wo sie Jakob band und herabtrug, und verkündete, zitternd am ganzen Leibe, allen Klosterbewohnern und dem Abt sein Abentheuer und den gedrohten Besuch. Die Mönche wurden aus den Betten geholt, und der Abt versammelte den ganzen Convent auf seinem Zimmer; und mit einem großen Weihwasserkessel und mit Hexenrauch [97] gerüstet, erwarteten alle, zitternd und lautbetend, die furchtbare Mitternachtsstunde. Sie erschien, und mit ihr Jakob im großen Costume, d.h. ganz mit der schwarzen behörnten Kuhhaut überdeckt, und feuerspeiend, neben ihm sein schwarzer Hund. Nach einigen Minuten verschwand er wieder, welches die Klausner der Kraft des Weihwassers zugeschrieben, welches der Exorcist nicht sparte. Den mitgebrachten Rinderbraten aber überließen sie den Hunden und den Raben.

Bei solcher Lebensart fühlte Jakob in einigen Monaten seine Kräfte nicht allein ersetzt, sondern auch um das Doppelte erhöht; und nun schritt er zu wichtigern Unternehmungen, die seiner Absicht näher lagen. Zunächst dachte er darauf, sich beritten zu machen. Hier nun schwebte ihm immer der Jagdklepper der stolzen Kathrine vor Augen, auf dem er sie im Geist noch immer vor seinem Hundeloch vorbei stolziren sah. Es war eine sechsjährige Stute, schwarz wie die Nacht, und schnell wie ein [98] Vogel, schon gewöhnt, bergauf bergab zu laufen; und, was ihm das wichtigste war, es mußte Kathrinen und Veit wehe thun, den entflohenen Jakob darauf einher galloppiren zu sehen.

In der Mitte des Sommers verkleidete er sich als ein altes Mütterchen, und schlich so einige Tage in der Gegend von Veits Burg herum, und sah, hinter Gebüsch versteckt, seine Feindin auf ihrem schwarzen Klepper, mit ihrem Vater, Stundenlang durch die Fruchtfelder der Bauern die Kreuz und die Quer durchreiten, um hier und da einen Hasen aufzujagen. Bei der dritten einbrechenden Nacht ersah er endlich seine Gelegenheit.

Kathrine übergab das mit Schweiß überdeckte Roß zwei Stallbuben, welche vor der Burg auf einer umschloßnen Wiese die Füllen hüteten, um das Pferd allmählig abzukühlen. Die Buben banden das Pferd an einen Baum in dem nahen Gehölz, und machten sich Feuer an, da der Abendwind etwas kalt ging, und[99] setzten sich hin, um zu dobbeln. Jetzt schlich das verkleidete Mütterchen herzu, grüßte freundlich die Buben, und bat, sich am Feuer wärmen zu dürfen. Die spielenden Buben lachten herzlich über die sonderbare Gestalt, und fragten neckend, was sie für die Erlaubniß geben wollte? Und Jakob zeigte ihnen eine Flasche, die er aus der Tasche zog. Lüstern griffen die Buben nach dem blinkenden Getränk, tranken herum, und nochmals herum, ohne einen Schlaftrunk zu ahnden, und gaben lachend die leere Flasche dem keifenden Mütterchen zurück. Es dauerte nicht lange, so fingen die Buben an zu gähnen, die Karten entfielen ihren Händen, und sie streckten sich am Feuer aus. Als Jakob sie fest eingeschlafen sah, warf er das verhüllende Obergewand ab, band den noch aufgeschirrten Klepper los, schwang sich darauf, und eilte, außer sich vor Freuden, dem Loraischen Walde zu. – Die Buben fanden Veit und Kathrine am Morgen noch fest schlafen auf der Wiese; aber die Stute war fort.

[100] Unterdeß diese raseten und tobten, hatte Jakob das Pferd über die schon vorher dazu vorbereitete Felsenwand gebracht, und den steilen Abhang des Berges halb herunter geführt, halb herunter getragen, und es stand schon an der vollen Krippe in der Tiefe seiner größern Höle. Die folgenden langen Tage wandte er fast ganz dazu an, das Pferd, das anfangs vor solchen Abgründen erbebte, nach seinen Absichten zu bilden. Und nach zwei Monden lief es, bei Nacht und bei Tage, den steilen Abhang des Berges, ohne Reuter, hinauf und hinab, blieb auf ein leises Pfeifen stehen, legte sich auf ein Zeichen mit der Hand nieder, sprang auf einen Zungenschlag seines Herrn auf, und lernte zuletzt selbst über die Felsenwand zu galloppiren.

Jetzt nahte, nach seiner Rechnung, der Jahrstag, an dem er von seinem Jungkherrn vom Hofe geschleppt und in das Gefängniß geworfen war. An diesem wollte er ihm die geraubte Stute und den entflohnen Gefangnen zeigen.

[101] Und er erschien vor Veits Burg, auf dem wohlgenährten und jetzt noch gewandtern Jagdklepper des Fräuleins mächtig daher stolzierend, in ähnlicher Kleidung, wie er einst als Landbauer trug. Seine Ankunft kündete er dadurch an, daß er von Zeit zu Zeit in ein Jagdhorn stieß, das einst im Walde ein Jäger verlohren hatte. Die sonderbare Mähre von einem Bauer, der es wagte, auf einem Jagdhorne zu blasen, und der die Stute der stolzen Käte zu reiten schien, verbreitete sich schnell in der Burg. Ehe aber das Fräulein und die Männlein mit dem Rüsten zum Verfolgen fertig waren, war der blasende Ritter verschwunden, hatte aber einigen pflügenden Bauern zugerufen: Jakob würde morgen wiederkommen!

Er kam, und Veit erwartete ihn mit sechs Knappen und einer ganzen Meute Hunde, die plötzlich auf ihn und Packan einstürzten. Und Jakob wandte sein Roß, das schnell wie ein Habicht dahin flog, und dem nur einige der Knappen, in weiter Entfernung, folgen konnten, [102] die ihn am Eingange des Loraischen Waldes verschwinden sahen. Mehrere der größeren Jagdhunde aber verfolgten seine Spur bis zur Höle, wo Packan, den das beständige Bluttrinken stark und wild gemacht hatte, gleich einem Tiger, von seinem Herrn unterstützt, ein schreckliches Blutbad unter ihnen anrichtete, so daß kaum die Hälfte, zerbissen und gelähmt, zurückhinkte.

Schon verbreitete sich die Sage, Jakob stehe mit dem Teufel im Bunde, und könne sich unsichtbar machen. Aber noch einmal wollte es Veit versuchen, und schwur, ihn zu fahen, oder zu sterben, und schwur, wie er alle Tage that, einen Meineid. Auf dem halben Wege von seiner Burg erwartete er ihn, hinter Gebüsch versteckt, knirschend vor Wuth, über den Verlust seiner besten Hunde, auf seinem Streitroß, von zwanzig erlesenen Rittern und Knappen umgeben, welche alle Jakob den schmählichsten Tod schwuren. Und beinah wäre er diesmal gefangen. Er, der seine Feinde [103] noch weit entfernt glaubte, tummelte abwechselnd sein Pferd, und abwechselnd versuchte er es, auf dem Jagdhorn eine Herausforderung zum Kampfe zu blasen. Mit einemmale aber schlug Packan, der die Nähe der Feinde witterte, heftig und laut an, welches er nur bei augenblicklicher Gefahr that. Jakob fuhr auf, und kaum hatte er sich in den Sattel zurecht gesetzt, als er schon ein ganzes Heer vor sich und auf beiden Seiten erblickte, die ihn nicht Freunde zu seyn schienen.

Er flog dem Walde bei Lora zu, von Veit und seinen Gesellen wütend verfolgt, die oft ihn schon erwischt zu haben glaubten, wenn er im Walde verschwand, und dann wieder sichtbar wurde. Endlich war Veit auf seinem keuchenden Streitroß, mit Görge, seinem besten Knappen, dicht hinter Jakob, als dieser, wie ein Falke, über die Felsenwand vor seiner Höle hinsprengte, und in dem Augenblick unsichtbar wurde, als er noch gesehn war. »Sagt' ich's Euch nicht, gestrenger Herr, [104] rief Görge, daß der sich unsichtbar machen kann. Hier hat die Welt ein Ende! Folge ihm, wer Lust hat, sich den Hals zu brechen. Ich mag nicht in des Teufels Küche kommen!« – Veit hörte dies nicht; er zerarbeitete sich, seinen Streithengst zurückzuhalten. Aber er bäumte sich, warf seinen Herrn zwischen die Klippen, und stürzte der Stute nach, und in den Abgrund. Jakob erbte von ihm einen passendern stattlichen Sattel.

Seitdem wurde Jakob nie wieder bis an seine Höle verfolgt. Alle bebten vor den Schlünden zurück, in die jener sich stürzte. Ungestört beraubte er nun die Heerden der reichen Burgbeherrscher und der Klöster, zu Fuß und zu Pferde, als Teufel, oder als Nimmernüchtern verkleidet, doch immer begleitet von seinem Packan, der ihm alles zusammentrieb, oder, auf seinem Befehl, zerstreute oder zerriß. Am meisten erfuhren dies Veits Heerden, die er um die Hälfte verminderte, und dessen Hirten schon flohen, wenn sie den Feuerspeienden Teufel in großer Ferne entdeckten.

[105] Doch dies alles befriedigte Jakobs Rache nicht. Es galt Veiten selbst und seiner Käte! Und doch fand er sie nicht mehr außerhalb der Burg; er muste sie daher in der Burg selbst aufsuchen. Beim Nachforschen hörte er, daß Veit seit jenem Sturz das Bette nicht verlassen hatte. Einen Kranken wollte er nicht kränken; und so blieb ihm für jetzt nur das Fräulein. – In einer neblichten Herbstnacht stand er mit einemmale, halb vom einfallenden Monde beleuchtet, in seiner Teufelsgestalt, vor Kathrinens Bette. Als Gefangner hatte er, in Entwürfen der Rache, ihr abgelegenes Schlafgemach ausgespäht. Brüllend weckte er Kathrinen, und entehrte sie. Dann rief er ihr zu: »Das that ich aus Rache! Heute vor einem Jahr ludest du mich spottend ein, dein Mann zu werden. Ich bin Jakob, den du immer den Hund nanntest! – So verließ er die Bebende.«

Aber dies hätte sie bald vergessen, wäre er verschwiegen geblieben. Doch nun erschien [106] Jakob mehrere Tage vor Veits Burg, und verkündete allen Leuten, die er traf, der stolzen Käte Entehrung. Bald erfuhr es Veit durch die allgemeine Sage. Und seine Wuth, da sie den Thäter nicht erreichen konnte, wandte sich gegen seine Tochter, bisher seine einzige Freude, und deren Ausschweifungen er sonst immer belacht hatte. Er haßte die von einem Unedeln kundbar Entehrte wie die Hölle, und wollte sie und seine Schande vor der ganzen Welt in dem Burgverließ begraben, als sie mit ihrem alten Buhlen, dem Manne von Veits Kebsweibe, entflohe.

Gegen das Ende des Winters kamen Jakobs Söhne zu ihrem Vater – als gemachte Räuber. Sie hatten sich unter den Lanzknechten gefunden, die damals Franken und Schwaben durchstreiften, und alles verheerten, was sie beschützen sollten. Hier hatten sie in einem Jahre mehr von dem Räuberhandwerk gelernt, als sie in zehn Jahren in des Räubers Höle gesehen haben würden. Auch brachten sie zwei [107] schwarze Bullenbeißer mit, die einer der weitgepriesenen Häuptlinge der Lanzknechte zur Menschenjagd abgerichtet hatte. Jakob erzählte ihnen, wozu ihn Rache gebracht habe, und staunte nicht wenig, wenn seine Söhne das Kleinigkeiten nannten, wozu er nur in der Trunkenheit Muth fand, und was er nur stotternd nachsagen konnte. Sie erzählten ihm nun, was nach damaligem Kriegesgebrauch erlaubt war, und gelobt und belohnt wurde, wo Sengen und Brennen, Rauben und Verwüsten alles Eigenthums, Morden mir der ausgedachtesten Grausamkeit, und Ausschweifung jeder Art, das Tagewerk der Lanzknechte war.

Jakob hörte ihre Erzählungen anfangs mit Schaudern, gewöhnte sich aber allmählig an die Abscheulichkeiten, und entschloß sich endlich, von seinen Söhnen aufgefordert, dies im Kleinen nachzuahmen. Friede und Kurt wusten sich bald beritten zu machen, und nach damaliger Sitte zu bewaffnen. Da alle sechs[108] Wütriche schwarz bekleidet waren, so nannten die Nachbaren sie: die schwarze Rotte.

Um Veit, der von dem Beinbruch wieder hergestellt war, aber es nicht wagte, seine Burg zu verlassen, weil er wuste, daß Jakob ihm den Todt geschworen hatte, ins freie Feld zu bringen, zündeten sie das Gehölz an, das seine Burg umgab. Die Flammen ergriffen auch einen Theil der äußern Gebäude. Aber Veit kam nicht, er war einige Tage vorher vor Wuth gestorben.

Nun schwuren die Räuber in ihrer Höle allen Burgbeherrschern ewige Feindschaft und Krieg. Und bald wurde die schwarze Rotte das Schrecken aller Erdelleute der ganzen Gegend. Zwar mordeten sie jetzt noch keine Menschen, aber die Heerden der Gutsbesitzer zerstreuten und würgten sie, wo sie dieselben trafen, und in ihren Kornfeldern und Forsten legten sie oft Feuer an.

Ganze Gemeinden wurden gegen die schwarze Rotte aufgeboten, aber ohne Erfolg. Lange blieb der Schlupfwinkel, der diese Nachtmenschen [109] und ihre schwarzen Begleiter aufnahm, unentdeckt. Der gröste Theil derer, die sie verfolgen sollten, fürchtete sie als wirkliche Teufel, oder als Verbündete der Hölle. Die Landleute, die ihnen näher wohnten, ahneten die Wahrheit der Sache, und vermutheten den Hölenbewohner Nimmernüchtern als Anführer der schwarzen Rotte. Aber diese sahen sie nicht ungern in ihrer Nachbarschaft, weil sie nicht allein die Hütten des Volks verschonten, sondern sie auch, durch die weitverbreitete Furcht, gegen die Streifzüge und Bedrückungen der Raubritter schirmten, die seit Jahrhunderten das Eigenthum der Mindermächtigen als ihre Beute betrachteten. Auch sahen manche in dieser Räuberrotte eine Geissel des Himmels, um jenen Räubern das Vergeltungsrecht wiederfahren zu lassen.

Aber Jakob und seine Söhne wurden, durch den häufigen Genuß berauschender Getränke und des rohen Fleisches, durch den steten Anblick gewürgter und zerrißner Thiere, [110] und durch die immer wiederkehrenden Entwürfe der Rache, wovon sie einzig nur sprachen, immer raubsüchtiger, blutdürstiger und tigerartiger, gleich ihren Hunden.

Sie wurden förmliche Straßenräuber, und wagten es endlich, sich auch am Tage auf den Heerstraßen zu zeigen, die durch die »goldne Aue« führen, und jeden Vorbeireisenden, bei dem sie Geld oder Kaufmannswaare vermutheten, ohne Unterschied des Standes, zu berauben, und, bei dem geringsten Widerstande, zu ermorden. Aber dieser Eingriff in das Handwerk brachte die Raubritter, die damals rings um die goldne Aue her, auf der Quästenburg, der Rothenburg, dem Kyffhaus, der Sachsenburg u.s.w. hauseten, in Wuth. Sie verbanden sich zum förmlichen Kriege gegen die schwarze Rotte; und diese, durch Uebermacht geschreckt, sah sich genöthigt, das offenbare Rauben jenen zu überlassen.

Sie kehrten zu dem alten Kunstgriff zurück, des Nachts als Teufel zu erscheinen, und verübten, [111] in ihrem Wahnsinn, einige Zeit viele Abscheulichkeiten, selbst in den Häusern des Landvolks in der goldnen Aue.

Aber hier fanden sie Anbauer aus den Niederlanden, Fläminger, die sich in diesem fruchtbaren Thal niedergelassen hatten, und welche in den verkappten Teufeln bald Menschen erkannten. Hier wurde die schwarze Rotte, einst in einem Hause, wohin man sie zu locken gewußt hatte, gefangen. Man hatte in ihm eine leicht bedeckte Fallgrube zugerichtet, in welche die Betrunkenen stürzten, und so der eindringenden Schaar nicht entkommen konnten.

Vor seiner Hinrichtung mußte Jakob seinen Richtern und dem herzuströmenden Volk seinen lange verborgenen Aufenthalt zeigen. Man fand hier die drei schwarzen Pferde der Räuber an ihrer Krippe. Und noch jetzt heißt davon die halb verschüttete Höle:Nimmernüchterns Pferdestall.

Fußnoten

1 Auf dem Kyffhäuser-Berge, der die goldne Aue beherrscht.

[114] Die Hufeisen an der Kirchthür.

»Graf Ernst von Klettenberg 1 ritt einst, an einem Sonntagsmorgen, zu einem großen [115] Gelag, nach Elrich. Viel waren der geladenen Ritter, die hier um den Ehrenpreis – tranken. Der ausgesetzte Dank war eine goldne Kette.

Viele Stunden tranken die geprüften Ritter, bis sich der Sieg mehr entschied, und hier einer, dort einer erlag unter der Last der ungeheuern Humpen, und, unter der lauten Hohnlache der Zecher, als Schwächling niedergelegt wurde auf den Fußboden des Saals. Endlich blieben noch vier der sogenannten Edeln auf dem Kampfplatz. Doch drei von ihnen lehnten an der Wand, und triumpfirten mit lallender Zunge, daß die Willkommen den zitternden Händen nicht entsanken. Nur Ernst von Klettenberg stand noch auf freien[116] Füßen, und ergriff siegprangend die goldne Kette, die auf dem Tisch lag, und hing sie sich um den Hals. 2

Um sich dem Volk als Sieger zu zeigen, wankte er aus dem Gemach, und befahl sein Roß vorzuführen. Vier Knappen hoben ihn herauf; und so ritt er, unter dem Gekreisch der hinzuströmenden Menge, durch das Städtlein, um nach Klettenberg heimzukehren. – Als er durch die Vorstadt ritt, hörte er in der Kirche, dem heiligen Nikolaus geweiht, die Vesper singen. Graf Ernst, in seinem Taumel, ritt durch das offenstehende Kirchthor ein, mitten durch die versammelte Gemeinde [117] hindurch, bis vor den Altar. Der Gesang der Andacht ging in starres Anstaunen, und bald in wildes Geschrei über.

Aber nicht lange freute Graf Ernst sich seines Frevels. Denn, als das gespornte Roß jetzt die Stufen des Altars betrat, siehe! da fielen – o Wunder! – plötzlich alle vier Hufeisen ihm ab, und es sank nieder mit seinem Reuter.

Zum ewigen Andenken wurden diese vier Hufeisen an die Kirchthür angenagelt, wo sie Jahrhunderte lang angestaunt wurden, wegen ihrer Größe und der schauerlichen Sage. 3«

Fußnoten

1 Vielleicht derselbe Graf, dessen Denkmal man in der Klosterkirche zu Walkenried zeigt, wo er in kniender Stellung erscheint, um ähnliche Jugendsünden, wie die hier erzählte, abzubüßen, und von dessen spätern Jahren eine andre Sage folgendes erzählt.

»Nach geendigtem Bauernkriege, worin, unter andern, das Kloster Walkenried zerstört war, ließ er die Auführer aus seinem Gebiet, die man hatte zusammenbringen können, bey dem Teiche zu Schiedungen versammeln, um ihr Urtheil zu empfangen. Die meisten Richter stimmten auf Todestrafe. Nur der Rath Wiegmanshausen stimmte für eine Geldstrafe, wodurch zugleich die erschöpfte Schatzkammer des Grafen eine nahmhafte Zubuße erhielt. Und so ließ Graf Ernst seine aufrührerischen Bauern ihr Leben, Mann für Mann, mit drei Gulden erkaufen.«

2 Zur Vergleichung dieses Trinkgelags mag hier eine Stelle aus: »Beckers Geschichte der Hochmeister in Preußen (1798)« stehen. »1351 wurde der Hochmeister Winrich von Kniprode installirt. Bei dem Ehrenmahl muste jeder Gast ein silbernes Becken mit acht Weinflaschen, die sich selbst ergossen, auf einen Zug leeren. Der wackere Trinker Veit von Bassenheim, leerte es dreimal, und ward dafür von dem neuen Hochmeister zum Schloßhauptmann befördert!«

3 Seit einigen Jahren befinden sich diese Denkmäler der Vorzeit in dem Inspektorat zu Elrich, da jene Kirche eingestürzt ist.

[121] [123]Die Quäste.

Von der Quästenburg, einer einst sehr berühmten Veste am Ende des Harzes, dem Schrecken der umliegenden Fluren und der vorbeireisenden Kaufleute, haben sich nur Trümmern und eine Volk-Sage, die ein jährliches Volksfest erneuert, erhalten. – Wild Gras überdeckt jetzt den Burghof, und von den Sälen, wo hochherzige Ritter ihre Gelage feierten, wo laut die Hohnlache des Raubfestes erscholl, ist kaum eine Spur vorhanden. Statt der spähenden Knappen sitzt in der moosbewachsenen Maueröfnung ein kauerndes Käuzlein. Nichts hat sich von allen den großen Gebäuden [123] erhalten, als einige hier und dort sich erhebende Ruinen der Burgmauer, einige Keller, deren Eingänge Kröten und Schlangen und verwachsenes Gebüsch, das selbst die Gemäuer überkleidet, dem forschenden Wanderer streitig machen, eine Trümmer des vordern Thorthurms, und – das Burgverließ.

Der Berg, auf dem sich das Raubschloß erhub, ist ringsum von höhern Bergen umkränzt, die es in der Vorzeit zugleich versteckten und schützten; diese sind zum Theil mit Holz bewachsen, zum Theil wie aus schroffen Felsenmassen, in den sonderbarsten Gruppirungen, aufgethürmt. Nur auf einer Seite bietet eine Schluft, die zwischen den Bergen sich öfnet, der in der Ferne kaum bemerkten Burg eine freiere Aussicht dar, zunächst über ein schmales Thal, das jetzt ein friedliches Dörfchen, Questenberg, ausfüllt, und dann über einen ziemlich eng beschränkten Strich queer durch die goldne Aue, der am Ende des Horizonts, durch den Kyffhäuser-Berg [124] und die Rothenburg begränzt wird. Listig genug hatte ein Ritter des Mittelalters sich diesen Schlupfwinkel ausgesucht für Thaten, die das Licht scheuten; denn nicht leicht konnten mit Gütern beladene Wagen, die durch diesen sehr besuchten Theil von Thüringen fuhren, den spähenden Blicken des Burgherrn entgehen, der versteckt im Hintergrunde lauerte, gleich dem Ameisenlöwen in der Spitze seines Sandtrichters.

Folgende Volks-Sage erklärt das Entstehen des Namens der Quästenburg, und lehrt uns, daß auch in jenen Raubzeiten die Natur ihre Rechte behauptete.


»Einer der uralten Burgherrn hatte eine einzige Tochter. Als das Kind vier oder fünf Jahr alt war, verirrte es sich einst in dem Walde, der die Burg rings umschloß. Am [125] Abend des Tages fand es ein entfernter Köhler nicht weit von seiner Hütte ruhig sitzen, und beschäftigt sich einen kleinen Blumenkranz zu flechten. Er fragte das Kind, woher es komme? wer sein Vater, seine Mutter sey? was es hier suche? Von alle dem wußte das Kind nichts, als daß seine Mutter todt sey, und daß der Vater Kurt heiße. Nun hießen Hunderte der dortigen Landesbewohner Kurt; und dem Köhler blieb nichts übrig, als das Kind, bis er nähere Kunde erhielte, mit in seine Hütte zu nehmen und sein zu pflegen.

Der Burgherr, trostlos über den Verlust seines Kindes, hatte unterdeß alle seine Knappen und Dienstleute aufgeboten, um sein verlohrnes, einziges Töchterchen zu suchen. Nach langem vergeblichen Umherirren und Suchen der Knappen, und nach vielen kummervollen Tagen, fanden endlich einige Einwohner von Rota das Kind auf einer Wiese sitzen, beschäftigt sich Blumenkränze zu flechten. Es führte [126] sie zu der Hütte des Köhlers, der es gepflegt hatte. Und bald nachher brachten sie es, unter lautem Jubel, nach der Burg zurück. Der Köhler, der es dahin begleitete, trug den Kranz, den das Kind bei seiner Hütte geflochten hatte, und überreichte ihn dem Vater, der Freudetrunken sein Töchterchen in seine Arme schloß.

Der Kranz hieß damals: Quäste. Zum Andenken dieser sonderbaren Begebenheit, nannte der Burgherr von diesem Kranze, den er heilig aufbewahrte, sein Schloß, das sonst Finsterberg hieß: die Quästenburg, schenkte, vor Freude über die Auffindung seiner Tochter, dem Köhler und der Gemeinde zu Rota auf ewige Zeiten die Wiese, auf der sie das Fräulein fanden 1, und ordnete, aus Dankbarkeit, [127] das Volksfest für seine Dienstmannen an, wobei ein Kranz, oder eine Quäste, an der größten Eiche des höchsten Berges in der Gegend befestigt wurde, um weithin gesehen zu werden.«


Dieses Volksfest dauert wirklich noch fort, und ist vielleicht einzig in seiner Art.

Am dritten Pfingsttage bringen die jungen Bursche des Dorfs Questenbergs, die gröste Eiche, welche sie in dem dortigen ansehnlichen Forst haben auffinden können, unter einem kaum zu zählenden Haufen jauchzender Zuschauer aus der ganzen umliegenden Gegend, [128] von Trompeten und Hörnern begleitet, den hohen Berg heran, der auf die Ruinen der alten Quästenburg herabsieht. Sie müssen aber, dem Herkommen nach, den ungeheuern Baum, dessen vorragende Aeste sich schon vorher abgehauen haben, blos mit den Händen den Berg heranwälzen oder heraufziehen. Oben auf dem Gipfel des Berges, welcher die Gegend beherrscht, wird dann der Baum aufgerichtet, und an einem Queerbalken ein grosser Kranz von Baumzweigen geflochten, der einem Wagenrad gleicht, befestigt, und alles ruft: »Die Quäste hängt!« Dann wird oben auf dem Berge getanzt, welches die Hauptbelustigung ist.

Nach einigen Stunden, zieht die ganze versammelte Menge, unter weitschallender Musik, in Procession den Berg herab, und nach dem Hause des Predigers in Questenberg, den sie zu einem feierlichen Gottesdienst in der Kirche abholen, womit sich das Volksfest beschließt.[129] – Die Eiche, welche nach dem Fällen verkauft wird, und die Kosten des Fests trägt, bleibt ein Jahrlang auf dem Berge aufgerichtet stehen. Den großen Kranz von Baumzweigen nennen die Bewohner der Gegend: die Quäste.

Fußnoten

1 Noch jetzt besitzt wirklich die Gemeinde von Rota, einem mansfeldischen Dorfe, anderthalb Stunden von Quästenberg entfernt, eine Wiese, welche jetzt von der Pfarre zu Quästenberg zu Lehn geht. Als Zins muß sie alle Jahr am zweiten Pfingsttage, vor Sonnenaufgang, auf der Pfarre zu Quästenberg einige Brode abliefern; wird der Lohnzins nicht zur rechten Zeit gebracht, so hat der Prediger das Recht, sich das beste Rind aus der Heerde der Gemeine von Rota auszusuchen.

[131] [133]Der Ritterkeller auf dem Kyffhäuser 1.

»Ein armer, aber guter und immer lustiger Mann aus Tilleda richtete einst eine Kindtaufe [133] aus; es war schon die achte. Den Gevattern muste er, nach Sitte, einen Schmaus geben. Der Landwein, den er seinen Gästen vorsetzte, war bald ausgetrunken, und sie forderten mehr. Geh, sagte der lustige Kindtaufsvater zu seiner ältesten Tochter, einem hübschen sechszehnjährigen Mädchen, geh' und hole uns noch bessern Wein aus dem Keller. – ›Aus welchem Keller denn?‹ – Je, sagt im Scherz der Vater, aus dem großen Weinkeller der alten Ritter auf dem Kyffhäuser!«

Das Mädchen geht, unbefangen in seiner Einfalt, mit einem kleinen Eimer in der Hand, den Berg hinan. – In der Mitte des Berges findet sie, am verfallnen Eingang eines großen Kellers, sitzen eine bejahrte Schaffnerin, in ganz ungewöhnlicher Tracht, mit einem großen Schlüsselbunde an der Seite. Das Mädchen verstummt vor Erstaunen. Doch freundlich fragte die Alte: Gewiß willst du Wein holen aus dem Ritterkeller? Ja, sagte [134] schüchtern das Mädchen, aber, Geld habe ich nicht. »Komm mit mir, sprach die Schaffnerin; du sollst umsonst Wein haben, und bessern Wein, als dein Vater je gekostet hat.«

Sie gingen nun beide durch einen halbverschütteten Gang, und das Mädchen muste erzählen, wie es jetzt in Tilleda aussähe. »Einst, sagte die Alt' hierauf, einst war auch ich so jung und schmuck, wie du, als mich die Ritter, des Nachts, durch einem Gang unter der Erde, aus dem Hause in Tilleda wegholten, das jetzt deinem Vater gehört. Kurz vorher hatten sie, am hellen Mittag, die vier schönen Jungfern, die hier noch zuweilen auf den prächtig aufgeschirrten Pferden herumreiten, und dann wieder verschwinden, mit Gewalt aus Kelbra entführt, da sie eben aus der Kirche kamen. Mich machten sie, als ich alt wurde, zur Aufseherin des Weinkellers; und das bin ich noch.«

[135] Jetzt standen sie vor der Kellerthür; und die Schaffnerin schloß auf. Es war ein großer geräumiger Keller, und auf beiden Seiten lagen die Stückfässer. Die Schaffnerin klopft' an die Fässer. Die meisten waren halb oder ganz voll. Sie nimmt den kleinen Eimer, zapft ihn voll trefflichen Weins, und sagt: »Da, das bring deinem Vater! Und do oft ein Fest in eurem Hause ist, kannst du wieder kommen; aber keinem, als deinem Vater, sage, woher du den Wein hast. Auch dürft ihr keinen Wein verkaufen, umsonst bekommt ihr ihn; umsonst sollt ihr ihn geben! Kommt einmal einer her, der Wein holen will, um damit zu wuchern, dessen letztes Brod ist gebacken!«

Das Mädchen brachte seinem Vater den Wein, der den Gästen trefflich schmeckte, ohne daß sie errathen konnten, woher er kam. – So oft nachmals in dem Hause ein kleines Fest war, holte Ilsabe Wein vom Kyffhäuser, [136] in dem kleinen Eimer. Aber lange dauerte die Freude nicht. Die Nachbaren wunderten sich, woher der arme Mann den herrlichen Wein bekam, der in dem ganzen Lande so gut nicht war. Der Vater sagte es keinem, Ilsabe auch nicht.

Aber gegenüber wohnte der Schenkwirth, der mit verfälschtem Wein handelte. Dieser hatte den Ritterwein auch einmal gekostet, und dachte: den Wein könntest du mit zehnfachen Wasser verdünnen, und doch theuer verkaufen. Er schlich dem Mädchen nach, als es zum viertenmal mit dem kleinen Eimer nach dem Kyffhäuser ging, versteckte sich unter dem Gebüsch, als es stehen blieb, und sah es nach einiger Zeit aus dem Gange, der zu dem Keller führte, mit dem gefüllten Eimer heraus kommen.

Den nächsten Abend ging er selbst den Berg hinauf, und schob, auf einer Karre, die größte [137] leere Tonne, die er hatte auffinden können, vor sich her. Diese dachte er mit dem trefflichen Ritterwein zu füllen, sie des Nachts den Berg herunter zu rollen, und dann alle Tage wieder zu kommen, so lange noch Wein im Keller wäre.

Als er an den Ort kam, wo er den Tag zuvor den Eingang zum Keller gesehen hatte, wurde mit einemmal alles dunkel um ihn her. Der Wind fing an fürchterlich zu heulen, und das Ungethüm warf ihn und seine Karre und seine leere Tonne von einer Felsenmauer zur andern. Er fiel immer tiefer und tiefer, und kam endlich in eine – Todtengruft.

Da sieht er vor sich hertragen einen schwarz behangenen Sarg; und seine Frau, und vier Nachbarinnen, die er an ihrer Kleidung und ihrem Wuchs deutlich erkannte, folgen der Bahre nach. Vor Schrecken fällt er in Ohnmacht.

[138] Nach einigen Stunden erwacht er wieder, sieht sich, zu seinem Entsetzen, noch in der schwachbeleuchteten Todtengruft, und hört, gerade über seinem Kopf, die ihm wohlbekannte Thurmglocke in Tilleda zwölf schlagen. Nun wuste er, daß es Mitternacht war, und daß er sich unter der Kirche und dem Begräbnißplatz seines Dorfes befand. Er war mehr todt als lebend, und wagte es kaum zu athmen.

Siehe! da kommt ein Mönch, und trägt ihn eine lange, lange Treppe hinan, schließt eine Thür auf, druckt ihm schweigend etwas Geld in die Hand, und legt ihn am Fuß des Berges nieder. – Es war eine kalte eisigte Nacht.

»Allmählig erholt sich der Schenkwirth, und kriecht, ohne Tonne und Wein, seinem Hause zu. Es schlug Eins, als er es erreichte. [139] Er muste sich so gleich ins Bette legen; und – nach drei Tagen war er todt. Das Geld, das ihm der verzauberte Mönch gegeben hatte, reichte gerade zu seiner Beerdigung hin.«

Fußnoten

1 Der Kyffhäuser, oder Kipphäuser-Berg, der Brocken der goldnen Aue, der auf Atern, Sangerhausen, Wallhausen, Rosla, Stollberg u.s.w. herabsieht, hat seinen Namen von der alten Burg, die noch in ihren Trümmern Bewunderung erregt, und Kyff-Haus hieß, welches Wort ohnstreitig: Streitburg bezeichnete, von dem veralteten: kiff maken, d.h. streiten, zanken, das sich noch in »keifen« erhalten hat. – Am Fuß dieses großen Berges liegen das Städtlein Kelbra, und die Dörfer: Tilleda, Sittendorf, die in diesen Sagen genannt werden.

[141] [143]Die goldnen Flachsknoten.

»Vor vielen, vielen Jahren ging einst ein ganzer Schwarm Knaben aus Kelbra, auf den Kyffhäuser, um da Nüsse zu pflücken. Sie gehen in die alte Burg, kommen an eine Windeltreppe, steigen hinauf und finden ein kleines Gemach mit schönen achteckigten rothen und blauen Fenstern. In der einen Ecke liegt eine Spindel mit Flachs, in der andern ein Haufen Flachsknoten. Von diesen Knoten nimmt jeder der Knaben einen Hutkopf voll; und so laufen sie lustig hinunter, und streuen auf dem Wege die Flachsknoten aus. [143] Als die Knaben nach Kelbra kamen, war es schon Abendbrodszeit.

Der ärmste unter den Knaben findet seine Eltern gerade bei dem Tischgebet. Er nimmt seinen Hut ab, und klingelnd fällt etwas Glänzendes auf die Erde, und bald noch ein Stück, und noch sieben andre. Die Mutter läuft hinzu und – siehe! es waren goldne Flachsknoten, womit ein verzaubertes Hoffräulein, oder gar die Kaiserin selbst dem armen Mann ein Geschenk gemacht hatte, der seinen Knaben nun ein Handwerk lernen lassen konnte.

Die Nachbarinnen liefen herzu, die wunderbaren Flachsknoten zu sehen. Den folgenden Tag ging ganz Kelbra auf den Kyffhäuser. Alle suchten, aber keiner fand die rothen und blauen Fensterscheiben, keiner die aufgehäuften goldnen Flachsknoten.«

[144]

[145] [147]Die Wunderblume.

»Ein Schäfer aus Sittendorf trieb einst am Fuß desKyffhäuser. Er war ein hübscher Mensch, und mit einem guten aber armen Mädchen verlobt. Doch, weder er noch sie hatten ein Hüttchen, oder Geld, ihre Wirthschaft einzurichten.

Traurig stieg er den Berg heran, aber, je höher er kam (es war ein schöner Tag) desto mehr verlor sich die Traurigkeit. Bald hatte er die Höhe des Berges erreicht; da fand er [147] eine wunderschöne Blume, dergleichen er noch nie gesehen hatte. Die pflückte er, und steckte sie an seinen Hut, um sie seiner Braut mitzunehmen.

Oben auf der Burg findet er ein offnes Gewölbe, dessen Eingang nur etwas verschüttet war. Er geht hinein, und findet viele kleine, glänzende Steine auf der Erde liegen, und steckt so viele ein, als seine kleine Taschen fassen konnten. Nun wollte er wieder ins Freie; da rief ihm eine dumpfe Stimme zu: ›Vergiß das Beste nicht!‹ – Er wußte nicht, wie ihm geschah, und wie er herauskam aus dem Gewölbe. Kaum sah' er wieder die Sonne und seine Heerde, so schlug die Thür, die er vorher gar nicht gesehen hatte, hinter ihm zu.

Er faßt nach seinem Hut; und – die wunderschöne Blume, die er seiner Braut hatte geben wollen, war fort; sie war herabgefallen [148] beim Stolpern. Urplötzlich stand vor ihm ein Zwerg ›Wo hast du die Wunderblume, die du fandest?‹ Verloren, sagte traurig der Schäfer. Dir war sie bestimmt, sagte der Zwerg, und sie ist mehr werth als die ganze Rothenburg!

Traurig geht der Schäfer am Abend zu seiner Braut, und erzählt ihr die Geschichte von der verlornen Wunderblume, beide weinen; denn, Hüttchen und Hochzeit waren wieder verschwunden. Endlich denkt der Schäfer an seine Steine, und wirft sie scherzend seiner Braut auf den Schooß. Und – siehe es waren lauter Goldstücke. Nun kauften sie sich ein Hüttchen und ein Stück Acker dazu, und in einem Monat waren sie Mann und Frau.

›Und die Wunderblume?‹ – Die ist verschwunden, und wird von Bergleuten noch bis auf den heutigen Tag gesucht, in den [149] Gewölben des Kyffhauses nicht allein, sondern auch, da verborgene Schätze rucken, auf der Quästenburg, und selbst auf der Nord-Seite des Harzes. Bis jetzt soll der Glückliche, dem sie bestimmt ist, noch kommen.«

[150][152]

[152] Der Ziegenhirt.

»Peter Klaus, ein Ziegenhirt aus Sittendorf, der seine Heerde am Kyffhäuser weidete, pflegte sie am Abend auf einem mit altem Gemäuer umschloßnen Platz ausruhen zu lassen, wo er die Musterung über sie hielt.

Seit einigen Tagen hatte er bemerkt, daß eine seiner schönsten Ziegen bald nachher, wenn er auf diesen Platz gekommen war, verschwand, und erst spät der Heerde nachkam. Er beobachtete sie genauer, und sahe, daß sie durch eine Spalte des Gemäuers durchschlüpfte. Er wand sich ihr nach, und traf sie in einer Hölung, wo sie fröhlich die Haferkörner auflas, die einzeln von der Decke herabfielen. Er blickte in die Höhe, schüttelte den Kopf über den Hafer-Regen, konnte aber durch alles [153] Hinstarren nichts weiter entdecken. Endlich hört' er über sich das Wiehern und Stampfen einiger muthigen Hengste, deren Krippe der Hafer entfallen muste.

So stand der Ziegenhirt da staunend über die Pferde in einem ganz unbewohnten Berge. Da kam ein Knappe, und winkte schweigend, ihm zu folgen. Peter stieg einige Stuffen in die Höhe, und kam, über einen ummauerten Hof, an eine Vertiefung, die ringsum von hohen Felsenwänden umschlossen war, in welche durch überhangende dick belaubte Zweige einiges Dämmerlicht herab fiel. Hier fand er, auf einem gutgeebneten, kühlen Rasenplatz, zwölf ernste Ritter-Männer, deren keiner ein Wort sprach, beim Kegelspiel. Peter wurde schweigend angestellt, um die Kegel aufzurichten.

Anfangs that er dies mit schloddernden Knien, wenn er, mit halbverstohlnem Blick, die langen Bärte und die aufgeschlitzten Wämser der edeln Ritter betrachtete. Allmählig aber machte die Gewöhnung ihn dreister; er [154] übersah alles um sich her mit immer festerm Blick, und wagte es endlich, aus einer Kanne zu trinken, die neben ihm hingesetzt war, und aus welcher der Wein ihm lieblich entgegenduftete. Er fühlte sich wie neubelebt; und so oft er Ermüdung spürte, holte er sich aus der nie versiegenden Kanne neue Kräfte. Doch endlich übermannt' ihn der Schlaf.

Beim Erwachen fand er sich auf dem umschloßnen grünen Platz wieder, wo er seine Ziegen ausruhen zu lassen pflegte. Er rieb sich die Augen, konnte aber weder Hund noch Ziegen entdecken, staunte über das hochaufgeschoßne Gras, und über Sträucher und Bäume, die er vorher hier noch nie bemerkt hatte. Kopfschüttelnd ging er weiter, alle die Wege und Steige hindurch, die er täglich mit seiner Heerde zu durchirren pflegte; aber nirgends fand sich eine Spur von seinen Ziegen. Unter sich sah' er Sittendorf, und endlich stieg er, mit beschleunigtem Schritt herab, um hier nach seiner Heerde zu fragen.

[155] Die Leute, die ihm vor dem Dorfe begegneten, waren ihm alle unbekannt, waren anders gekleidet, und sprachen nicht so, als seine Bekannten; auch starrten ihn alle an, wenn er nach seinen Ziegen fragte, und faßten sich an das Kinn. Endlich that er fast unwillkührlich eben das, und fand, zu seinem Erstaunen, seinen Bart um einen Fuß verlängert. Er fing an, sich und die ganze Welt um sich her, für verzaubert zu halten; und doch kannte er den Berg, den er herabgestiegen war, wohl als den Kyffhäuser, auch waren ihm die Häuser mit ihren Gärten und Vorplätzen alle wohlbekannt. Auch nannten mehrere Knaben, auf die Frage eines Vorbeireisenden, den Namen: Sittendorf.

Kopfschüttelnd ging er in das Dorf hinein und nach seiner Hütte. Er fand sie sehr verfallen, und vor ihr lag ein fremder Hirtenknabe in zerrißnem Kittel, neben einem abgezehrten Hunde, der ihn zähnefletschend angrinzte, als er ihm rief. Er ging durch die Oeffnung, die [156] sonst eine Thür verschloß, hinein, fand aber alles so wüste und leer, daß er, einem Betrunkenen gleich, aus der Hinterpforte wieder hinaus wankte, und Frau und Kinder, bei ihren Namen rief. Aber keiner hörte, und keine Stimme antwortete ihm.

Bald umdrängten den suchenden Mann mit dem langen eisgrauen Bart, Weiber und Kinder, und fragten ihn um die Wette: Was er suche? Andre vor seinem eignen Hause nach seiner Frau oder seinen Kindern zu fragen, oder gar nach sich selbst, schien ihm so sonderbar, daß er, um die Fragenden los zu werden, die nächsten Namen nannte, die ihm einfielen. ›Kurt Steffen!‹ Die meisten schwiegen und sahen sich an, endlich sagte eine bejahrte Frau: Seit zwölf Jahren wohnt der unter der Sachsenburg, dahin werdet ihr heute nicht kommen. ›Velten Meier!‹ Gott habe ihn selig! antwortete ein altes Mütterchen an der Krücke, der liegt schon seit funfzehn Jahren in dem Hause, das er nimmer verläßt.

[157] Er erkannte zusammenschaudernd seine plötzlich alt gewordenen Nachbarinnen; aber, ihm war die Lust vergangen, weiter zu fragen. Da drängte sich durch die neugierigen Gaffer ein junges, rasches Weib, mit einem einjährigen Knaben auf dem Arm, und einem vierjährigen Mädchen an der Hand, die alle drei seiner Frau wie aus den Augen geschnitten waren. ›Wie heißt ihr?‹ fragte er erstaunend. Marie. ›Und euer Vater?‹ Gott habe ihn selig! Peter Klaus; es sind nun zwanzig Jahr, daß wir ihn Tag und Nacht suchten auf dem Kyffhäuser, da die Heerde ohne ihn zurückkam; ich war damals sieben Jahr alt.

Länger konnte sich der Ziegenhirt nicht halten. Ich bin Peter Klaus, rief er, und kein anderer! und nahm seiner Tochter den Knaben vom Arm. Alle standen wie versteinert, bis endlich eine Stimme, und noch eine Stimme rief: Ja, das ist Peter Klaus! Willkommen Nachbar! nach zwanzig Jahren willkommen!«

[158][160]

[160] Der verzauberte Kaiser.

»Ein Bergmann, der still und fromm für sich lebte, ging einst am dritten Ostertag auf den Kyffhäuser. Da fand er an der hohen Warte einen Mönch sitzen, mit einem langen weißen Bart, der ihm bis auf die Knie reichte. Als dieser den Bergmann sahe, machte er ein grosses Buch zu, worin er las, und sagte freundlich zu ihm: Komm mit mir zum Kaiser Friedrich, der wartet schon seit einer Stunde auf uns. Der Zwerg hat mir schon die Springwurzel gebracht.

[161] Dem Bergmann eiste es über den ganzen Körper; doch der Mönch sprach ihm so tröstlich zu, daß er ganz freudig mitging, und ihm versprach, keinen Laut hören zu lassen, es möchte auch kommen, was käme. Sie gingen nun auf einen freien Platz, der ringsum von einer Mauer umschlossen war. Da machte der Mönch einen großen Kreis mit seinem Krummstabe, und schrieb wunderbare Zeichen in den Sand. Dann las er lange und laut Gebete, aus dem großen Buch, die der Bergmann aber nicht verstand. Endlich schlug er mit seinem Stabe dreimal auf die Erde, und rief: Thue dich auf!

Da entsteht unter ihren Füßen ein dumpfes Getöse, wie bei einem fernen Gewitter; es zittert unter ihnen die Erde. Und nun sinkt der Bergmann mit dem Mönch, der seine Hand gefaßt hat, mit dem Boden, so weit der Kreis umzeichnet war, ganz sanft in die Tiefe hinab. Sie treten hinunter, und der Boden steigt wieder [162] langsam hinauf. Nun waren sie in einem großen Gewölbe.

Der Mönch geht mit festem Schritt voran, der Bergmann mit zitternden Knien hinterher. So gehn sie einige Gänge hindurch, bis es anfängt ganz dunkel um sie her zu werden. Bald aber finden sie eine ewige Lampe, und sehen, daß sie sich in einem geräumigen Kreuzgang befinden. Der Mönch steckt hier zwei Fackeln an, für sich und seinen Begleiter. Sie gehen fort, und mit einemmal stehen sie vor einem großen eisernen Kirchenthor.

Der Mönch betet, hält die Springwurzel, vor der alle bezauberte Riegel aufspringen, an das Schloß, und ruft: Oefne dich Thür! Und mit Donnerkrachen springen alle die eisernen Riegel und Schlösser von selbst auf, und sie sehen vor sich eine runde Kapelle. Der Boden war spiegelglatt, wie Eis, und wer nicht keusch [163] und züchtig gelebt hatte (so sagte nachmals der Mönch dem Bergmann) brach hier beide Beine, und kam nie zurück. Die Decke und die Seitenwände des runden Gewölbes flimmerten und flammten beim Schein der Fackeln. Große Zacken von Kristall und von Diamanten hingen da herab, und zwischen ihnen noch größere Zacken von gediegenem Golde. In der einen Ecke stand ein goldner Altar, in der andern ein goldnes Taufbecken auf silbernem Fuß.

Der Mönch winkte nun seinem Begleitet, gerade in der Mitte stehen zu bleiben, und gab ihm in jede Hand eine Fackel. Er selbst ging zu einer ganz silbernen Thür, klopfte dreimal mit dem Krummstabe an, und die Thür sprang auf.

Der Thür gerade gegenüber saß auf einem goldnen Thron der Kaiser Friedrich, nicht etwa aus Stein gehauen, nein! wie er leibte und [164] lebte, mit einer goldnen Krone auf dem Kopf, mit dem er beständig nickte, indem er die grossen Augenbraunen zusammenzog. Sein langer, rother Bart 1 war durch den steinernen Tisch, der vor ihm stand, durchgewachsen, und reichte ihm bis auf die Füße herab. Dem Bergmann verging Hören und Sehen über dem Anblick.

Endlich kam der Mönch zurück und zog seinen Begleiter schweigend fort. Die silberne Pforte schloß sich selbst wieder zu; das eiserne Thor schlug, mit schrecklichem Geprassel, hinter ihnen zusammen. Als sie den Kreuzgang hindurch wieder in die vordre Höle kamen, senkte [165] sich langsam der kreisrunde Boden herab. Beide traten darauf und wurden sanft in die Höhe gehoben.

Oben gab der Mönch dem Bergmann zwei kleine Stangen von einem unbekannten Erz, die er aus der Kapelle mitgebracht hatte, welche seine Urenkel noch jetzt zum Andenken aufbewahren.«

Fußnoten

1 Dieser Bart des verzauberten Kaisers, in der Sage, soll zu dem alten Sprüchwort Veranlassung gegeben haben: »Sie streiten über des Kaisers Bart, und hat ihn noch keiner gesehen.« – Uebrigens gehört diese Sage von dem verzauberten Kaiser und seinem Bart, zu den Sagen, die viele Jahrhunderte hindurch, sehr häufig in dem Munde des Volks waren.

[170] Die Bewohnerin des Ilsensteins 1.

»Sahst du noch nie die schöne Jungfrau auf dem Ilsenstein sitzen? Alle Morgen schließt sie den Fels auf, so bald der erste Sonnenstrahl ihn trift, und steigt herab zur Ilse, in deren spiegelhellem Wasser sie sich badet. Freilich allen Menschen ist es nicht vergönnt, sie zu sehen. Aber, wer sie sahe, preißt sie wegen ihrer Schönheit und Güte. Oft schon theilte sie von den Schätzen mit, die der Ilsenstein in sich schließt, und manche Familie verdankt der schönen Jungfrau ihr Glück.

[171] Einst fand sie am frühen Morgen ein Köhler, der in den Forst gehen wollte, an der Ilse sitzen. Er grüßte sie freundlich, und sie winkte ihm mitzugehen. Er folgte, und bald standen sie vor dem großen Fels. Sie klopfte dreimal an, und der Ilsenstein that sich auseinander. Sie ging hinein, und brachte ihm seinen Ranzen gefüllt zurück, befahl ihm aber dabei ernstlich, ihn nicht zu öfnen, bis er in seiner Hütte wäre. Er nahm ihn und dankte. Als er fortging, fiel die Schwere des Sacks ihm auf, und er hätte gern gesehen, was darin sey. Endlich, als er auf die Ilsenbrücke kam, konnte er der Neugier nicht länger widerstehen. Er öfnete den Ranzen, und sah' – Eicheln und Tannäpfel. Unwillig schüttelte er die Eicheln und Tannäpfel von der Brücke herab in den angeschwollnen Strom. Doch bald hörte er ein lautes Klingeln, wenn die Eicheln und Aepfel die Steine der Ilse berührten, und bald sah' er, zu seinem Schrecken, daß er Gold verschüttet hatte. Weislich wickelte er den kleinen [172] Ueberrest, den er noch in den Ecken des Sacks fühlte, sorgsam zusammen, und trug ihn nach Hause; er fand des Goldes noch so viel, daß er sich ein kleines Gütchen kaufen konnte.«

»Wer diese Jungfrau ist? – Höre, was die Väter und Mütter uns erzählten. Bei der Sündfluth, als das Wasser der Nordsee die Thäler und Ebnen von Niedersachsen überströmte, flohen ein Jüngling und eine Jungfrau, die sich schon lange liebten, aus dem Nordlande dem Harzgebirge zu, um hier ihr Leben zu retten. Mit dem Steigen des Wassers stiegen auch sie immer höher, und näherten sich immer mehr dem Brocken, der ihnen von fern her eine sichre Zuflucht darzubieten schien. Endlich standen sie auf einem ungeheuern Felsen, der weit über dem wogenden Meere hervorragte. Von hier sahen sie das ganze umliegende Land von der Fluth überdeckt; und, Hütten und Thiere und Menschen waren verschwunden. So standen sie hier einsam, und starrten in die Wogen hin, die an dem Fuße des Felsens sich brachen. [173] Doch noch höher stieg das Wasser, und schon dachten sie darauf, über einen noch unbedeckten Felsenrücken, weiter zu fliehen, und den Brocken heranzuklimmen, der wie eine große Insel über die wogende See hervorragte.

Da erbebte unter ihren Füßen der Fels, auf dem sie standen, spaltete sich, und drohte in einem Augenblick die Liebenden zu trennen. Auf der linken Seite, dem Brocken zugewandt, stand die Jungfrau, auf der rechten der Jüngling. Fest waren ihre Hände in einander verschlungen. Die Felsenwände bogen rechts und links aus, und – die Jungfrau und der Jüngling stürzten mit einander in die Fluthen.

Ilse hieß die Jungfrau. Sie gab dem reizenden Ilsethal, der Ilse, die sie durchströmt, und dem Ilsenstein, worin sie noch hauset, den Namen.«

Fußnoten

1 Der Ilsenstein ist einer der größten und merkwürdigsten Felsen des Harzgebirges. Er liegt in der Grafschaft Wernigerode, unweit Ilsenburg, am Fuß des Brockens, und wird von der Ilse bespült. Ihm gegenüber liegt ein ähnlicher Fels, dessen Schichten zu diesem zu passen, und bei einer Erd-Revolution davon getrennt zu seyn scheinen.

[176] Die beiden Teufels-Mauern.

Auf dem Gebirge, Südwärts von dem Dorf Thale, zwischen Blankenburg und Quedlinburg, sieht man, unweit des großen flachen Felsens, den das Volk: des Teufels Tanzplatz, nennt, Ueberreste einer alten Mauer. Ihr gegenüber erhebt sich, Nordwärts von Thale, ein großes, dem Naturforscher überaus merkwürdiges Felsenriff. Jene Mauertrümmern und dieses Felsenriff benennt das Volk beide mit dem Namen: Die Teufelsmauer. Folgende Volkssage erklärt das Entstehen dieser Benennung.


[177] »Der Teufel stritte lange mit dem guten Gott um die Herrschaft über die Erde. Endlich wurde eine Theilung des damals bewohnten Landes verabredet. Die Felsen, wo jetzt der Tanzplatz ist, sollten die Grenzlinie bezeichnen, und der Teufel erbaute hier, unter lautem Jubeltanz, die Teufelsmauer. Aber bald schien dem Nimmersatten die ihm bestimmte Hälfte der Erde zu klein. Es entstand ein neuer Streit, der sich damit endigte, daß ihm noch das am Fuße jenes Felsens belegene Thal überlassen wurde; worauf der Teufel, auf der Nordseite, die zweite Teufelsmauer aufthürmte.«

[178][180]

[180] Die Roßtrappe.

Die Roßtrappe, oder den Roßtrapp, nennt man einen Fels mit einer ovalrunden Vertiefung, welche einige Aehnlichkeit mit dem Eindruck eines riesenmäßigen Pferdehufs hat, in dem hohen Vorgebirge des Harzes, hinter Thale, den viele Reisende, besonders wegen der schönen romantischen, fast schweizerischen, Aussichten, zu besteigen pflegen. Das Entstehen jener Vertiefung erklärt folgende Volks-Sage.


»Vor tausend und mehreren Jahren, lange vorher, ehe auf den umliegenden Bergen, Raub-Ritter die Hoymburg, die Leuenburg, die Steckelnburg und die Winzenburg erbauten, war das ganze große Land, rings um den Harz her, von Riesen bewohnt, welche Heiden waren und Zauberer. Diese kannten keine[181] Freude, als Raub und Mord und Gewaltthat. Fehlte es ihnen an Waffen, so rissen sie die nächste sechszigjährige Eiche aus, und fochten mit ihr. Was sich ihnen entgegen stellte, schlugen sie nieder mit ihren Keulen; und die Weiber, die ihnen gefielen, schleppten sie mit sich fort, ihnen zu dienen bei Tag und bei Nacht.

In dem Boheimer Walde hausete zu der Zeit ein Riese, Bohdo genannt, ungeheuer groß und stark, des ganzen Landes Schrecken. Vor ihm krümmten sich alle Riesen in Boheim und Franken. Aber, die Königstochter vom Riesengebirge, Emma, vermochte er nicht zu seiner Liebe zu zwingen. Hier half nicht Stärke, nicht List; denn sie stand mit einem mächtigen Geiste im Bunde.

Einst ersahe Bohdo seine Geliebte jagend auf der Schneekoppe, und sattelte sogleich seinen Zelter, der meilenlange Fluren in Minuten übersprang, und schwur, bei allen Geistern der Hölle, diesmal Emma zu sahen, [182] oder zu sterben. Schneller, als ein Habicht fliegt, sprengt er heran. Und fast hätt' er sie erreicht, ehe sie es merkte, daß ihr Feind sich ihr nahe. Doch, als sie ihn, zwei Meilen von sich, ersah', und ihn erkannte an den Thorflügeln eines zerstörten Städtleins, die ihm zum Schilde dienten; da schwenkte sie schnell ihr Roß. Und es flog, von ihren Spornen getrieben, von Berg zu Berg, von Klippe zu Klippe, durch Thäler und Moräste und Wälder, daß, von dem Hufschlag getroffen, die Buchen und Eichen umherstoben, wie Stoppeln. So flog sie durch der Thüringer Land, und kam in die Gebirge des Harzes. Oft hörte sie, einige Meilen hinter sich, das Schnauben von Bohdo's Roß, und jagte dann den nimmer müden Zelter zu neuen Sprüngen auf.

Jetzt stand ihr Roß sich verschnaufend auf dem furchtbaren Fels, der, von dem Jubeltanz des Bösen, der Teufels, Tanzplatz heißt. Angstvoll blickte Emma, zitternd blickte ihr Roß herab in die Tiefe. Denn, mehr als [183] tausend Fuß ging senkrecht, wie ein Thurm, die Felsenmauer herab zum grausenden Abgrund. Tief unter sich hörte sie das dumpfe Rauschen des Stroms, der hier in einem furchtbaren Wirbel sich dreht. Der entgegenstehende Fels auf der andern Seite des Abgrundes schien ihr noch weiter entfernt, als der Strudel, und kaum Raum zu haben für einen Vorderfuß ihres Rosses.

Da stand sie staunend und zweifelnd. Hinter sich dachte sie den Feind, den sie ärger haßte, als den Tod. Vor sich sah sie den Abgrund, der seinen Rachen weit gegen sie aufthat. – Jetzt hörte Emma von neuem das Schnauben von Bohdo's keuchendem Roß. In der Angst ihres Herzens rief sie die Geister ihrer Väter um Hülfe, und, ohne Besinnung, drückt sie ihrem Zelter die ellenlangen Spornen in die Seiten.

Und, das Roß sprang! sprang über den tausendfüßigen Abgrund weg, erreichte glücklich die spitze Klippe, und schlug seinen Huf vier Fuß tief in das harte Gestein, daß die [184] stiebenden Funken, wie Blitze, das ganze Land umher erhellten. – Das ist jener Roßtrapp! Die Länge der Zeit hat die Vertiefung kleiner gemacht, aber kein Regen kann sie ganz verwaschen.

Gerettet war Emma! Doch, die Centnerschwere goldne Krone der Königstochter, fiel, während des Sprunges des Pferdes, von ihrem Kopfe herab in die Tiefe. – Bohdo, der Emma nur sah', und nicht den Abgrund, sprang der Fliehenden nach mit seinem Streitroß, und stürzte in den Strudel des Stroms, dem er den Namen gab. 1 Hier, verwandelt in einen schwarzen Hund, bewacht er die goldne Krone der Prinzessin, das kein Gelddurstiger sie heraufhole aus dem wirbelnden Schlunde.

Ein Taucher wagte dies einst unter großen Versprechungen. Er stieg in die Tiefe herab, fand die Krone, und hob sie in die Höhe, daß das zahllos versammelte Volk schon die goldnen [185] Spitzen sah. Aber, zweimal entstürzte die schwere Krone seinen Händen. Das Volk rief ihm zu, noch einmal hinabzusteigen. Er that es; und – ein Blutstrahl sprang hoch in die Höhe. Der Taucher kam nicht wieder herauf.

Schüchtern und grausend naht sich noch jetzt der Wanderer der Schlucht; denn sie deckt schwarze Nacht. Die Stille des Todes schwebt über dem Abgrunde. Kein Vogel fliegt über ihn hin. Und, in der Mitte der Nacht, hört man oft, in der Ferne, das dumpfe Hundegeheul des Heiden.

Noch jetzt heißt der Strudel, wo der Hund die goldne Krone bewacht, der Kreetpfuhl, 2 und der Fels, wo Emma, die Königstochter, die Hülfe der Geister der Hölle erflehte, des Teufels Tanzplatz.«

Fußnoten

1 Die Bode, die sich mit der Emme und Saale in die Elbe ergießt.

2 D.h. Teufelspfuhl; so wie »Kreetkind« in dem Idiom an der Nordsee, Teufelskind, beteudet. – Gelehrte Reisende haben das altdeutsche »Kreetpfuhl« in das halbgriechische »Chrysool« umgeändert, das sie durch: Goldschmuck, erklären.

[188] Die Teufels-Mühle.

Der Gipfel des Rammberges, im Harzgebirge, der, eine Stunde, südwärts von Gernrode und dem Stuffenberg, und eben so weit westwärts von Ballenstedt, einer Stadt im Fürstenthum Anhalt-Bernburg, ohngefähr 2,000 Fuß über die Meeresfläche sich erhebt, bietet dem Wanderer einen überraschenden Anblick dar. Die ganze gerundete Kuppe des Berges ist mit großen Granitblöcken übersät, die theils über einander aufgethürmt, theils zerstreut umherliegen.

[189] Besonders zeichnet sich eine Felsengruppe auf der höchsten Spitze des Berges aus. Hier liegen mehrere, ziemlich regelmäßige Schichten solcher Granitfelsen, von sehr beträchtlichem Umfang, über einander aufgehäuft, zum Theil wie durch die Kunst abgerundet und geebnet. Sie bilden eine Art von Piramide, welche ganz isolirt da steht, und sich auf dreißig Fuß über den flachen Berggipfel erhebt. Rings umher liegen Tausende von größern oder kleinern Granitblöcken zerstreut. Die Aussicht von dieser Felsenspitze, auf der seit der Mitte dieses Jahrhunderts ein Thurm erbaut ist, ist vielleicht einzig in Norddeutschland, indem sie beide Seiten des Harzes beherrscht.

Die Felsenmasse ist in der ganzen Gegend unter dem Namen der Teufelsmühle bekannt. Das Volk erzählt sich davon folgendes.


»Der Rammberg hat seinen Namen von dem Gott Ramm, den die alten Sachsen hier [190] verehrten. Auf der Felsenspitze, die jetzt die Teufelsmühle heißt, stand einst sein Bild; und die Bewohner des schönsten und bevölkertsten Theils des Sachsenlandes konnten die Opferfeuer sehen, welche die Priester hier anzündeten. Aufsteigende Dampfsäulen verkündeten es den nahen und fernen Anwohnern des Harzes, wenn neue Opfer erwartet wurden. Dann strömten Ramms Verehrer aus dem ganzen Hartingau herzu, und freuten sich der wieder hell auflodernden Flamme.

Als Karl und Winfrid die deutschen Götzenaltäre umstürzten, verloschen allmählig auch Ramms Feuer. Aber, statt seiner, trieb nun, einige Zeit lang, der Teufel sein Wesen auf dem unwirthbaren Gebirge.

Ein Müller hatte sich am Abhange des Rammberges eine Windmühle erbaut, der es aber von Zeit zu Zeit am Winde fehlte. Bald stieg in ihm der Wunsch auf, eine ganz freistehende [191] Mühle auf dem höchsten Gipfel des Berges zu haben, die beständig im Gange bleiben mußte, der Wind kam vom Morgen oder vom Abend, vom Mittag oder Mitternacht. Schwierig aber schien ihm doch für Menschen die Erbauung einer großen Mühle auf einer solchen Höhe, noch schwieriger die Befestigung derselben bei den Stürmen, die gewöhnliches Machwerk wie Stoppeln wegführten.

Sein immer wiederkehrender Wunsch, und die Vorstellung der Unmöglichkeit der Befriedigung gestatteten ihm weder Tag noch Nacht Ruhe. Und – bald erschien der Teufel, und bot seine Dienste an. Nach langem Dingen und Bieten, verschrieb sich ihm der Müller nach einem dreißigjährigen Leben, zum Eigenthum; und der Böse versprach dagegen, ihm eine ganz tadelfreie Mühle von sechs Gängen, auf dem Gipfel des Rammberges zu erbauen, und zwar in der nächsten Nacht vor dem Hahnenschrei.

[192] Der höllische Baumeister thürmte also die Felsen aufeinander, und baute eine Mühle sonder Gleichen. Bald nach Mitternacht holte er den Müller aus seinem Hause, am Abhang des Berges, um die neue Mühle zu prüfen und zu übernehmen. Unter lautem Herzpochen folgte ihm der Müller, und fand alles über seine Erwartung. Gern hätte er die Hälfte seines Lebens für die Entdeckung eines Fehlers gegeben. Aber – er fand alles in der besten Ordnung.

Schon wollte er zitternd die Mühle mit der schrecklichen Bedingung übernehmen, als er entdeckte, daß einer von den Steinen fehle, die dem Müller unentbehrlich sind. Der Baumeister läugnete lange diesen gerügten Fehler, muste ihn aber endlich eingestehen. Augenblicklich wollte er ihn ersetzen. Aber, als er jetzt durch die Lüfte herabschwebte mit dem Stein, siehe! da krähte der Hahn auf der untern Mühle.

[193] Wütend über seinen verfehlten Zweck faßte der Teufel das Gebäude, riß Flügel und Räder und Wellen herab, und streute sie weit umher. Dann schleuderte er auch die Felsen, die er hoch bis an die Wolken aufgethürmt hatte, umher, daß sie den ganzen Rammberg überdeckten. Und nur ein kleiner Theil der Grundlage blieb stehen, zum ewigen Denkmal der Teufelsmühle.«

[194][196]

[196] Der Mägdesprung.

Mägdesprung nennt man jetzt eine sehr ansehnliche Reihe von Hüttenwerken, in dem schönen Selke-Thal, zwischen Ballenstedt und Harzgerode. Zur Erklärung dieses Namens zeigt das Volk auf einen hohen Felsen, der durch eine Säule ausgezeichnet ist, eine Vertiefung in dem Gestein, die einige Aehnlichkeit mit der Fußstapfe eines Menschen hat, und achtzig bis hundert Fuß von da, eine zweite Fußstapfe, welche, folgender Sage nach, ein Hühnen-Mädchen, das über das Thal wegsprang, eindruckte.


»Eine Hühnin, oder der Riesen-Töchter eine, erging sich einst auf dem Rücken des Harzes, [197] von dem Petersberge herkommend. Als sie die Felsen erreicht hatte, die jetzt auf die Hüttenwerke herabsehen, erblickte sie ihre Gespielin, die ihr winkte, auf der Spitze des Rammberges.

Lange stand sie hier zögernd; denn, ihren Standort und den nächsten Berggipfel trennte ein sehr breites Thal. Sie stand hier so lange, daß sich ihre Fußstapfen ellentief eindruckten in dem Felsen, wovon die schwachen Spuren noch jetzt zu sehen sind. Ihres Zögerns lachte höhnend ein Knecht des kleinen Volks, das diese Gegend bewohnte, und der in der Gegend von Harzgerode pflügte. Dies merkte endlich die Hühnin, streckte ihre Hand aus, hob den Knecht mit den Pferden und dem Pflug in die Höhe, nahm dies alles zusammen in ihr Obergewand, sprang damit über das Thal weg, und in einigen Schritten hatte sie ihre Gespielin erreicht.«

[198][200]

[200] Das ist des Mannes Feld!

»Während daß Kaiser Heinrich einst sein Hoflager auf der Burg bei Wallhausen, in der goldnen Aue hatte, bat sich einer seiner Mannen 1 von ihm ein Stück Feld zu seinem Eigenthum aus, das an die goldne Aue gränzte, und so groß wäre, daß er es mit einem Scheffel Gerste umsäen könnte. Der Kaiser bewilligte ihm seine Bitte, da er den Ritter wegen seiner Tapferkeit und als einen guten Gesellschafter liebte, ohne Bedenken, und [201] würde ihm das Doppelte bewilligt haben, wenn er darum gebeten hätte. Der Ritter nahm einen Scheffel Gerste, und umsäte damit die Gränzen der nachmaligen Grafschaft Mannsfeld.

Doch dies erregte den Neid der übrigen Mannen, und sie hinterbrachten es dem Kaiser bald, daß man seine Gnade durch eine falsche Deutung gemißbraucht habe. Aber der Kaiser antwortete lachend: ›Gesagt ist gesagt! Das ist des Mannes Feld!‹

Daher der Name: Mannsfeld; daher in dem gräflichen Mannsfeldischen Wappen die Gerstenkörner, welche die gelehrten Wappenkünstler Wecken nennen.«

Fußnoten

1 Lehnsträger.

[204] Der Thomaspfennig.

In der Nacht, welche dem 21sten December, oder dem Thomastage, vorhergeht, ist in Endorf, einem Amtsdorfe in der Grafschaft Mannsfeld, chursächsichen Antheils, ein nächtliches Volksfest, das aus einer Procession von Büssenden entstand, jetzt aber eine wilde lärmende Scene darstellt, welche an ein altes trazisches Bacchanal erinnert.

Etwa eine Meile von Endorf, und dem an jenes Fluren gränzende halberstädtische Städtchen Ermsleben, liegt, in einem von der Landstraße entfernten, und mit mehreren kleinen [205] Gehölzen verdeckten Thal, das Dorf Stangerode, welches zu Alterode gerechnet wird, und jetzt etwa 400 Seelen in 78 Häusern zählt. – Dreizehn von diesen Häusern müssen, auf ewige Zeiten hinaus, jährlich den Thomas-Zins, auch Kutten-Zins genannt, an das Amt Arnstein zu Endorf, bezahlen. Dies geschieht mit folgenden Gebräuchen.

Den 20sten December, Abends um 8 Uhr, geht der Bauermeister von Stangerode, mit zween der Ortsbewohner, die alle Jahre wechseln, aus seinem Hause, zu dem ersten der dreizehn Häuser, auf welchen der Kutten-Zins liegt, und ruft:

»Gebt unsern Herren den Thomas-Pfennig, den Kutten-Zins!«

Dieser Ausruf wird vor jedem der dreizehn Häuser wiederholt. Jeder der Hausbesitzer steht dann schon vor seinem Hause, oder in der Hofthür, und giebt dem Bauermeister einen silbernen chursächsischen Pfennig. Ist der Zins erhoben, so geht der Zug, der sich allmählig [206] verstärkt, durch das Dorf Stangerode hindurch; und fortwährend hört man den Ausruf: »Wir bringen unsern gnädigen Herren, den Thomas-Pfennig, den Thomas-Pfennig, den Kutten-Zins!«

So geht der Zug nach Endorf zu; nur mit dem Unterschied, daß auf dem einsamen Felde die Lungen gröstentheils für künftigen Gebrauch geschont werden. Zwischen 10 und 11 Uhr in der Nacht erreicht gewöhnlich der Zug Endorf, und die Hauptpersonen treten in einem Hause am äusersten Ende des Dorfs ab. Nun strömt, aus Endorf und den umliegenden sächsischen und preußischen Ortschaften, eine große Schaar theils lärmsüchtiger, theils neugieriger Theilnehmer und Zuschauer nach diesem Hause hin; und alle harren sehnend der Dinge, die da kommen sollen.

Gegen Mitternacht tritt der Stangeröder Bauermeister mit seinen Begleitern aus dem Hause. Und nun schreien Alle mit voller Stimme:

[207] »Wir bringen unsern gnädigen Herren den Thomas- Pfennig, den Thomas-Pfennig, den Kuttenzins!«

So schreit der wilde, taumelnde Hause bei dem Zuge durch das ganze Dorf hindurch, ohne abzusetzen. Der Zug geht nach der Amts- oder Gerichts-Stube. Diese ist dann schon geöfnet, und der Justizamtmann steht da, um den Zins in Empfang zu nehmen, und einen Empfangsschein darüber auszufertigen.

Unterdeß vergrößert sich der Volkshause immer mehr. Der Bauermeister empfängt die Quittung und ein Trinkgeld (welches den Werth des jetzigen Zinses übersteigt) und hebt an zu rufen:

»Wir haben gebracht – unsern gnädigen Herren – den Thomas-Pfennig – den Thomas-Pfennig – den Thomas-Pfennig – den Kuttenzins!«

Zahllose Stimmen schreien tausendmal dies nach. Und, unter dergleichen, nur von wildem Gelächter unterbrochnem, Geschrei geht [208] der Zug zum Amthause heraus, und durch das Dorf Endorf hindurch. Die Abgeordneten von Stangerode kehren mit dem Empfangsschein nach Hause.

Von dem Entstehen dieser sonderbaren und jedem Beobachter auffalenden Sitte, bei der für unsre Zeiten gar kein Zusammenhang mit irgend einer weltbürgerlichen oder auch nur provinziel wichtigen Idee, gar kein Vortheil, weder auf Seiten der Gebenden, noch der Empfangenden, zu entdecken ist, finden sich keine schriftliche Nachweisungen (wenn sie nicht in irgend einem gräflich-mansfeldischen Archive vergraben liegen). Nur folgende Bemerkung steht in den Grund-und Lager-Büchern des Amts Endorf von 1688 und 1708: »Von Stangerode wird berichtet, wie auch in dem Erbenzinsregister zu finden, daß der Thomaspfennig, oder Kuttenzins, in sechs einzelnen Pfennigen bestehend 1, am Sankt Thomas-Tage, früh [209] vor Sonnen-Aufgang, überantwortet werden muß. Da aber solches nicht geschieht, so ist die Gemeinde daselbst, ihrem eignen hierüber gegebnen Berichte nach, schuldig, von jeder Minute, nach Aufgang der Sonne, dem Amte eine Tonne Heringe zur Strafe zu erlegen.«

Uns bleibt also zur Erklärung dieses Gebrauchs nichts übrig, als folgende Volks-Sage.


»Die Mönche auf Conradsburg 2« waren sehr wohl genährt, und hatten nichts zu arbeiten. Und so hatte der Böse freies Spiel unter ihnen. Zwar die Neuaufgenommenen im [210] Kloster wurden streng gehalten; auch mußten sie in den ersten Jahren, nach abgelegtem Gelübde, ihre Begierden unter der Ordensregel gefangen nehmen, wenigstens wenn sie bemerkt wurden. Aber, wenn sie allmählig zu gebietenden Herren heraufstiegen, und auf die Regierung ihres Klosters Einfluß bekamen, dann entschädigten sie sich für die langverwünschte Beschränkung. »Mit unserm Herrgott waren sie in einem Viertelstündchen fertig, und dann war der Tag ihre 3

Besonders befanden sich die, welche die sogenannten Außenhöfe 4 des Klosters verwalteten, oder denen die Einhebung der Erbenzinse und Lehnsgefälle aufgetragen war, in einer ihnen sehr behaglichen Lage. Sie lebten hier, [211] nach ihrem Ausdruck, wie Freiherrn, und versagten sich keinen Wunsch. Eins ihrer Hauptgeschäfte war, hübsche Weiblein zu berücken. Bei sich aufdringenden Zweifeln waren sie ja Gebieter über Kirchenbußen und Absolution.

Unter diesen sich glücklich preisenden, nach Befinden der Umstände, bald gnädigen, bald gestrengen und hochgebietenden Herren, war auch Bruder Markus. Er hatte die Aufsicht über die weitläufigen Forstungen des Klosters, die sich mehrere Meilen hinaus erstreckten. Eins dieser Gehölze lag dicht bei Stangerode, und heißt noch jetzt: das Mönchenholz 5. Da es ihm aber wahrscheinlich mehr um menschliche Gesellschaft, als um Gewächskunde zu thun war; so wußte er es, bei einer Abtswahl, dahin zu bringen, daß ihm auch die Einhebung der Zinsen in mehreren Ortschaften aufgetragen wurde, welches die Klausner als [212] die bequemste Gelegenheit ansahen, sich Verbindungen von mancherlei Art zu verschaffen. So trieb Bruder Markus sein Wesen bald in diesem Hause, bald in jenem, je nachdem irgend ein weibliches Geschöpf, auf Wochen oder Monate, ihn anzog.

Unter seinen Liebschaften war auch das junge; rasche Weib eines Einwohners von Stangerode, mit Namen Hartung, dessen Haus an das Mönchenholz grenzte, und der alle Monate einige bestimmte Tage von Hause entfernt war, in denen er, für sich und für seine Nachbaren, von Halle Salz holte.

Hartung fand nach einiger Zeit seine Ilsabe ganz verändert. Sie, die sonst so arbeitsam und häuslich, und dabei immer vergnügt gewesen war, war jetzt bei der kleinsten Arbeit träge und verdrossen; sie, die ihren Mann immer mit warmem Händedruck empfangen, und ihm so theilnehmend den Schweiß von der Stirne gewischt hatte, kehrte ihm oft den Rücken zu, wenn er kam, und empfing und entließ ihn mit [213] Murren. Schon entfielen ihr Klagen über ihr elendes Schicksal, über grobe Arbeiten, zu denen solche Hände nicht gemacht wären, und über Nichtschätzung ihrer Verdienste. Hartung starrte sein Weib an, verstand selten, was sie sagte, und konnte nicht errathen, woher ihr solche Gelehrsamkeit kam. Er schob die Schuld auf die Verführung einer Schlange; aber, daß sie ihm so nahe war, ahndete er nicht.

Bald verleidete Ilsabe ihrem Mann das Haus so, daß er sich nicht mehr um Weib, Kind und Wirtschaft bekümmerte, und auf den Feldern voll Unmuth umherirrte. Hier trafen den Einsamen einst sein Schwager Hiersche, und sein nächster Nachbar Probst. Anfangs wollte ihnen Hartung nicht zur Rede stehen. Aber sie, die längst schon, durch das Gerücht von einem blöckenden Gespenste, das aus dem Mönchenholz nach Hartungs Hofe zu gehe, aufmerksam gemacht, das Gespenst selbst beim Hereinschlüpfen in das Haus belauert hatten, sagten [214] ihm gerade zu: »Der Hühneresser 6, Markus, sey Schuld an seinem Unglück!«

Sie erzählten ihm dann: daß sie schon zweimal, während seiner Reise nach Halle, einen Mönch auf Händen und Füßen kriechend, hinter Hartungs Scheure gesehen hätten; daß er hier, unter einem dickbelaubten Nußbaume so lange wie ein Kalb blöke, bis ihm Ilsabe durch nachgemachtes Hundegebell das Zeichen gebe, oder ihm die Hinterpforte des Hauses öfne. Probst sagte dabei: er habe Markus den Tod geschworen, weil er seinen beiden unverheiratheten Töchtern nachgehe, und der jüngsten gerade zu gesagt habe, daß er sie bald in seine Gewalt bekommen wolle. Lange wollte es Hartung nicht glauben, was seine Nachbaren gesehen und gehört hatten. Aber endlich schwur auch er Markus den Tod.

[215] Den 20sten November rüstete sich Hartung zu einer neuen Reise, und erfuhr noch am Abend dieses Tages, daß sich Markus schon in dem Mönchenholz habe sehen lassen. Bald nach Mitternacht fuhr er von seinem Hofe. Aber kaum war er eine Stunde gefahren, als er, in einer ihm wohlbekannten Tiefe des Waldes bei Walbeck, seine Pferde angebunden stehen ließ, und zu seinen Nachbaren zurückkehrte, die schon auf der Lauer standen.

Bald hörten sie ein immer näher kommendes Blöken, und dann das beantwortende Hundegebell; und nicht lange nachher sahen sie, bei dem Dämmerlichte des Mondes, der durch Gewölk blickte, eine braune Gestalt auf Händen und Füßen, immer fort blökend, in Hartungs Haus kriechen. Nun gruben die drei Nachbaren, unter dem in einem Winkel des Hofes versteckten Nußbaum, ein Grab, und dann schlichen sie, in weiße Bettücher gehüllt, durch die nur angelehnte Hinterthür ins Haus, und in die schwach vom Monde erleuchtete Stube. Ilsabe [216] lag wachend in ihrem Ehebett, und in ihren Armen schlief – Markus. Erschreckt durch die Geistergestalten, sprang sie aus dem Bett, und versteckte sich unter demselben. Ein Schlag von Hartungs Axt tödtete den Mönch. Er wurde, in der Kutte, unter dem Nußbaum beigescharrt.

Hartung eilte zu seinem Wagen, fuhr nach Halle, kam mit der gewöhnlichen Ladung zur bestimmten Zeit zurück, und fand keinen Verdacht gegen sich.

Zwar war Markus vermißt, und man hatte an mehreren Orten nach ihm gefragt. Denn, der ganze Convent zu Conradsburg sah' auf ihn als das würdigste Subjekt zu der erledigten Würde eines Küchen- und Kellev-Meisters, welche die nächste Anwartschaft auf die des Abtes gab. Inzwischen beruhigte man sich dort, bei seinem Nichterscheinen, durch hundert laut belachte Geschichten von seinen nächtlichen Streifzügen.

Aber, Stangerode war, seit dem dritten Tage nach Markus Ermordung, ein Ort des [217] Schreckens und des Grausens. Nicht blos im Mönchenholze ging das blökende Ungethüm um, sondern es kam auch in die Häuser, und setzte sich auf Männer und Weiber. Einige Ortsbewohner, und mit ihnen auch Hartung und Ilsabe, verließen vor Schrecken ihre Häuser; andre liefen nach Conradsburg, um einen Geisterbanner zu holen.

Dieser kam, traf den bekutteten Geist um Mitternacht in dem Holze, und trieb ihn durch Weihwasser vor sich her. Aber, aus dem vom Nußbaum beschatteten Winkel war er nicht zu vertreiben. Nun kam, auf den abgestatteten Bericht, am Sankt Thomas-Tage der ganze Conradsburger Convent, in feierlicher Prozession, nach Stangerode. Man grub unter dem Nußbaum nach, und fand den erschlagenen Mönch, und neben ihm die blutende Axt. In aller Stille brachte man den Körper nach den Klostermauern zurück, wo er mit Sang und Klang begraben wurde.

Ganz Stangerode zitterte vor der Wuth der hochgebietenden Herren. Es fürchtete, [218] nicht ohne Grund, mit Feuer und Schwerdt verwüstet, oder doch ins Interdickt gelegt zu werden. Aber, sey es, daß man in Conradsburg die genaue Untersuchung einer Geschichte scheute, die das tausendzüngige Gerücht schon zu weit ausgebreitet hatte, oder, daß der Thäter nicht zu entdecken war, oder, daß das Kloster auf die Ausfüllung eines leeren Plätzchens im Märtyrer- und Heiligen-Kalender, nach Jahrhunderten, spekulierte; kurz das Urtheil der diesmal nicht ganz ungnädigen Herren fiel dahin aus: »Auf ewige Zeiten sollte Stangerode, für den dort, an einem in Amtsgeschäften begrifnen Mönch, frevelhaft verübten Mord, einenKuttenzins bezahlen, und zwar jedes der dreizehn Häuser (aus so vielen bestand damals der Ort) Einen silbernen Pfennig. Dieser Kuttenzins sollte alle Jahre, am Sankt Thomas-Tage, von der ganzen Stangeröder Gemeinde, bei nahmhafter Pön einer Tonne Heringe für jede versäumte Minute nach Sonnenaufgang, [219] in einer feierlichen Buß-Procession, nach Conradsburg gebracht werden.«

Von diesem Thomas-Tage an erschien der Geist des erschlagenen Bruder Markus nicht mehr in menschlicher Gestalt, sondern entweder als Hund oder als Kalb. – Und noch jetzt läßt er sich zuweilen (doch der glaublosen Zeiten wegen, immer seltner) zwischen dem 20sten November und 20sten December, als Kalb oder Hund, im Mönchenholze sehen. Doch nur erleuchtete Geisterseher sehen ihn. Andre hören sein Blöken, mehrere aber fühlen seine Centnerschwere Last, wenn er sich auf ihre Schultern oder Hüften setzt, oder, als Alp, sie des Nachts auf ihrem Lager niederdruckt, so daß sie kaum zu athmen vermögen.


Dem Referenten sey hier ein kleiner Nachtrag zu dieser Volks-Sage erlaubt.

Diese Volks-Sage, wahrscheinlich aus dem funfzehnten Jahrhundert, unterscheidet [220] sich auch dadurch von den meisten der ältern Volks-Sagen, welche die Namensbestimmungen selten ohne Veränderungen, welche in den verschiedenen Erzählungen oft bedeutende Verschiedenheiten veranlassen, erhalten haben, daß das Volk die Namen: »Hartung, Hiersche, Probst« u.s.w. noch jetzt ausdrücklich bei der Erzählung, ohne Abänderung nennt; zum Beweis, daß hier ein wirkliches historisches Faktum zum Grunde liegt, das sich, bis zu kleinen Umständen, dem Gedächtniß fest eingedruckt hat.

Nur darin weichen die Erzähler der Volks-Sage von einander ab, daß einige den erschlagenen Mönch in der Kutte, andre ohne die Kutte verscharren lassen. Der Ausdruck »Kuttenzins« der noch jetzt in den gerichtlichen Akten von der sonderbaren jährlichen Abgabe der Stangeröder Gemeinde gebraucht wird, hat übrigens von der Kutte, dem klösterlichen Obergewand, seinen Namen.

[221] Noch behauptet eine erhaltene Volks-Sage: »wenn bei Abtragung des Kuttenzinses die Amtsstube nicht geöfnet wäre, so müste das Amt, zur Strafe, der Stangeröder Gemeinde eine ganz weiße Gluckhenne mit zwölf weißen Küchlein geben.«

Die Abgabe von dreizehn Pfennigen, die jetzt so unbedeutend scheint, war damals, als man für einige Pfennige ein Paar Schuh, eine Tonne Bier, einen Sack voll Getraide, kaufen konnte, damals, als baares Geld überhaupt selten, und in manchen Dörfern kaum zu sehen war, doch wahrscheinlich eine nicht ganz kleine Last; zumal, wenn, wie die Sage will, ehedem nur die selten vorkommenden Thomaspfennige angenommen wurden, die vielleicht erst mühsam aufgesucht, und mit hohem Aufgelde eingewechselt werden mußten.

Fußnoten

1 In den Rechnungen des Amts Endorf ist, so weit man sie hat auffinden können, der Thomas-Zins jährlich mit sechs Pfennigen vereinnahmt. Einem uralten Herkommen nach behält der Bauermeister die andern sieben eingehobenen Pfennige für sich.

2 Conradsburg, nahe bei Endorf und Ermsleben, in einer der schönsten und fruchtbarsten Gegenden Deutschlands, ist jetzt ein königlich-preußisches Domainen-Amt, war aber im Mittelalter der Sitz eines grossen Mönchsklosters.

3 Ein Pröbchen der alten Klostersprache.

4 Dergleichen Außenhöfe hatte das Kloster zu Conradsburg mehrere, unter andern, in Endorf. – Aus diesem Umstande erklärt man es, daß der Kuttenzins in Endorf entrichtet wird.

5 Dieses Holz gehört jetzt der Kirche zu Alterode, welche Mutterkirche von Stangerode ist.

6 So nennt das Volk in mehreren Gegenden Deutschlands diejenigen, welche die Erbenzinse, Rauchhühner u.s.w. einfordern.

[224] Die Dummburg.

»Mit Schauder naht der Wanderer den Trümmern derDummburg 1.« Grausen faßt ihn, wenn ihn in dieser Gegend die Nacht übereilt. Denn, wann die Sonne untergegangen ist, und er betritt den Boden der Burg, so hört er in der Tiefe dumpfes Aechzen und Kettengeklirr. Und um Mitternacht sieht er, [225] im Mondschein, die Geister der Ritter der Vorzeit, welche das Land umher einst beherrschten mit eisernem Scepter. In feierlichem Zuge, steigen zwölf lange, weiße Gestalten aus den Felsentrümmern hervor, tragend einen großen ofnen Sarg, den sie auf der Höhe hinsetzen, und dann verschwinden. Auch bewegen sich oft die Schädel, die hier und da umher liegen unter den Klippen.

Lange Zeit hauseten in der Dummburg Räuber, welche die vorbeiziehenden Reisenden und Kaufleute, die sie auf der Landstraße von Leipzig nach Braunschweig erspähten, erschlugen, und die Schätze der beraubten Kirchen und des umliegenden Landes zusammenhäuften, und in unterirdischen Hölen verwahrten. Tiefe Brunnen waren ausgefüllt mit Erschlagenen; und in dem schrecklichen Burgverlies der Raubburg starben oft Unglückliche den langsamen Hungertod. Lange blieben die Schlupfwinkel der Räuber unentdeckt. Doch endlich traf sie die Rache der verbundenen Fürsten.

[226] Die geraubten Schätze von Gold und Silber und Edelsteinen liegen noch jetzt aufgethürmt in den verschütteten Kellern und Gewölben der Dummburg. Doch nur selten ist es einem Wanderer vergönnt, die hineinführenden Pforten zu finden, wenn er auch hier und da verfallne Eingänge entdeckt. – Geister in Mönchsgestalten, oder auch leibhafte Mönche, steigen hier öfters hinab.

Einst sah' ein armer Holzhauer, der hinter den Felsentrümmern eine Buche fällen wollte, einen Mönch langsam daher kommen durch den Forst, und verbarg sich hinter dem Baum. Der Mönch ging vorbei, und in die Klippen hinein. Der Holzhauer schlich ihm nach, und sah, daß der Mönch an einer kleinen Pforte stehen blieb, die noch keiner der Dorfbewohner entdeckt hatte. Der Mönch klopfte leise an, und rief: »Thürlein, öfne dich!« und die Pforte sprang auf. »Thürlein, schließe dich!« hört' er rufen, und, es schloß sich die Pforte. Am ganzen Leibe zitternd bezeichnete der Holzhauer [227] den gekrümmten Gang mit Zweigen und über einander gelegten Steinen. – Seit der Zeit konnte er nicht schlafen und nicht essen; so ängstete ihn die Neugierde, zu wissen, was in dem Keller sey, zu dem die wunderbare Pforte führte.

Den nächsten Sonnabend fastete er; und mit Sonnenaufgang ging er am Sonntage, mit dem Rosenkranz in der Hand, hin zu den bezeichneten Klippen. Jetzt stand er vor der Pforte, und klappte mit den Zähnen; denn immer dacht' er einen Geist kommen zu sehen in Mönchsgestalt. Aber, es erschien ihm kein Geist. Zitternd schlich er heran zur Pforte, lauschte lange, und – hörte nichts. Endlich betete er in der Angst seines Herzens zu allen Heiligen und der Jungfrau, und klopfte dann schnell, halb ohne Besinnung, an die Pforte. »Thürlein, öfne dich!« sprach er mit schwacher, bebender Stimme. Die Pforte sprang auf, und er sahe vor sich einen schmalen dämmernden Gang. Er wankte hinein; und der [228] Gang verlohr sich bald in ein geräumiges, ziemlich helles Gewölbe. »Thürlein, schließe dich!« sagte er, ohne es zu wollen. Da schloß sich hinter ihm die Pforte.

Nun ging er zitternd vorwärts, und fand große ofne Fässer und Säcke, angefüllt mit alten Thalern und feinen Gulden, und schweren Goldstücken. Auch standen da mehrere Schmuckkästchen voll Juwelen und Perlen; kostbare Monstranzen und geschmückte Heiligenbilder lagen und standen auf silbernen Tischen in den Ecken der Höle. Der Holzhauer bekreuzte und segnete sich, wünschte tausend Meilen sich von dem bezauberten Ort; und konnte doch der Begierde nicht widerstehen, etwas zu nehmen von den ungebrauchten Schätzen, um seine Frau und seine acht Kinder zu kleiden, die lange schon in Lumpen gingen.

Zitternd, und mit zugedrückten Augen, streckte er seine Hand aus nach einem Sack, der zunächst neben ihm stand, und nahm einige Gulden heraus. Er faßte schnell nach seinem [229] Kopfe, und fand ihn noch fest sitzen an seiner Stelle. Schon weniger zitternd, und durch die Augenwimpern blinzend, nahm er einige Thaler, auch ein Paar Hände voll von den kleinen glänzenden Blechmünzen, und wankte sich bekreuzend der Thür wieder zu.

»Komm wieder!« rief ihm eine dumpfe Stimme aus der Tiefe der Höle. Kaum vermocht' er, da rings um ihn alles im Kreise sich drehte, das: »Thürlein, öfne dich!« zu stammeln. Da sprang die Pforte auf. Fröhlicher und lauter rief er: »Thürlein, schließe dich!« und es schloß sich die Thür.

Er eilte nach Hause, so schnell ihn seine Füße tragen wollten; sagte aber nichts von den gefundenen Schätzen, ging dann in die Klosterkirche, und opferte zwei Zehntheile von allem, was er genommen hatte in der Höle, für die Kirche und die Armen. Den folgenden Tag ging er zur Stadt, und kaufte seiner Frau und seinen Kindern einige Kleidungsstücke, die sie [230] sehr bedurften. Er habe, sagte er, einen verwitterten alten Thaler und ein Paar Gulden unter den Wurzeln der Buche gefunden, die er fällte.

Den folgenden Sonntag ging er mit festerem Schritt hin zu der Pforte in den Klippen, machte es wie das erstemal, und füllte mehr, doch mäßig und bescheiden, seine Taschen. – »Komm wieder!« rief ihm die dumpfe Stimme. Und er kam den dritten Sonntag wieder, und füllte seine Taschen wie vorher.

Jetzt war er in seinen Augen ein reicher Mann. Aber, was sollte er machen mit seinem Reichthum? Er gab der Kirche und den Armen zwei Zehntheile von allem, was er hatte; und das andre wollte er in seinem Keller vergraben, um, von Zeit zu Zeit, nach dem Bedürfniß seines Hauses, etwas zu holen. Doch konnte er der Begierde nicht widerstehen, sein Geld vorher zu messen; denn, Geld zu zählen, hatte er nimmer gelernt.

[231] Er ging zu seinem Nachbar, einem reichen, reichen Mann, der aber hungerte bei seinem Reichthum, der mit Korn wucherte, den Arbeitern den Lohn entzog, Witwen und Waisen das Ihrige abdrang, auf Pfänder lieh, und, keine Kinder hatte. Von diesem borgte er eine Metze, maß sein Geld, vergrub es, und trug die Metze zurück.

Aber, die Metze hatte große Spalten, durch welche der Kornwucherer, beim Verkauf an arme Handarbeiter, durch Schütteln und Schlagen, immer einige Körner wieder auf seinen Haufen zurückfallen ließ. In einer dieser Spalten waren einige kleine Blechmünzen zurück geblieben, die der Holzhauer beim Ausschütteln des Geldes nicht bemerkte.

Doch, den Falkenaugen des reichen Nachbars entgingen sie nicht. Er suchte den Holzhauer im Walde auf, und fragte ihn, was er gemessen habe mit der Metze? »Holzsaamen, [232] Hamsterkorn und dergleichen« antwortete dieser stotternd. Aber mit Kopfschütteln zeigte ihm der Wucherer die Blechmünzen, drohte ihm mit den Gerichten und der Folter, und dann versprach er ihm wieder alles, was er sich nur wünschen konnte. Und so preßte er ihm nach und nach das geahndete Geheimniß ab, und lernte von ihm die furchtbaren Worte.

Die ganze Woche hindurch machte nun der reiche Wucherer Entwürfe, wie er mit einemmale alle Schätze herausschaffe aus der Höle, und auch die, welche in Nebenhölen noch etwa verborgen seyn könnten, und unter der Erde vergraben seyn dürften. Hätte er alles dies Geld wohl beigescharrt, dann berechnete er schon zum voraus, wie er, nach und nach, einen Morgen Acker nach dem andern, eine Hufe nach der andern, seinen Nachbaren wohlfeil abkaufen, oder abklagen und abschwören wollte. So dachte der Herr von dem ganzen Dorf und vielleicht von mehreren benachbarten Dörfern [233] zu werden, sich dann vom Kaiser adeln zu lassen, und als Raubritter die ganze Gegend sich steuerbar zu machen.

Dem Holzhauer gefiel es nicht, daß sein böser Nachbar zur Burg gehen wollte. Er bat ihn, abzustehen von seinem Vorhaben, stellte ihm die Gefahr vor, erzählte ihm hundert Beispiele von unglücklich gewordenen Schatzgräbern. Aber, wer hält einen Geizhals von einem offnen Sack' voll Goldstücke zurück?

Durch Drohungen und Bitten wurde der Holzhauer endlich beredet, einmal nur noch mitzugehen zu der Pforte; er sollte die Säcke, die der Wucherer selbst alle herausschleppen wollte, nur im Empfang nehmen und im Gebüsch verstecken. Dafür sollte er die Hälfte haben von allem, und die Kirche den Zehnten; auch sollten alle Arme des Dorfs neu gekleidet werden. So sprach der Geizige. In seinem Herzen [234] aber hatte er beschlossen, den Holzhauer, wenn er seiner Hülfe nicht mehr bedürfte, in den tiefen Brunnen auf der Burg hinunter zu stürzen, den Armen nichts, und der Kirche einige Blechmünzen zu geben, wozu er im Geist schon die leichtesten aussuchte.

Den nächsten Sonntag ging der Geizige noch vor Aufgang der Sonne, mit dem Holzhauer in die Klippen der Dummburg. Auf seiner Schulter trug er einen großen Dreischeffelsack, in dem zwanzig etwas kleinere steckten, und einen Spaden und eine große Hacke. Der Holzhauer warnte ihn noch einmal ernstlich vor Habsucht, aber vergebens, empfahl ihm das Gebet zu den Heiligen, aber umsonst. In sich fluchend und zähneknirschend ging der Geizhals vor sich hin.

Nun kamen sie zu der Pforte. Der Holzhauer, dem nicht wohl war bei der Sache, den aber die Furcht vor der Folter zurückhielt, [235] blieb in einiger Entfernung stehen, um die Säcke im Empfang zu nehmen.

»Thürlein, öffne dich!« rief hastig und vor Gier zitternd, der Kornwucherer. Da öffnete sich die Pforte und er ging hinein. »Thürlein, schließe dich!« Die Pforte schloß sich hinter ihm.

Kaum war er in dem Gewölbe, und sah' alle die Fässer und Säcke und Kasten voll Gold und edeln Steinen und Perlen und blinkendem Gelde, so verschlang er alles mit den Augen, und riß mit bebender Hand die zwanzig Säcke aus dem großen Sack heraus, und wollte hastig sie füllen.

Da kam aus der Tiefe der Höle, langsamen Schritts, ein großer schwarzer Hund mit feurigen funkelnden Augen, und legte sich wechselnd auf jeden gefüllten Sack und auf alle das Geld.

[236] »Fort mit dir, du Geizhals!« so grinzte der große schwarze Hund ihn an. Bebend fiel er zur Erde, und kroch auf Händen und Füssen der Thür zu. Aber, in der Angst seines Herzens, vergaß er das: »Thürlein, öffne dich!« rief einmal über das andre: »Thürlein, schließe dich!« und die Pforte blieb verschlossen.

Lange harrte sein der Holzhauer mit pochendem Herzen. Endlich nahte er sich der Thür. Da schiens ihm, als hörte er Aechzen und Winseln und ein dumpfes Hundegeheul – und dann war es plötzlich wieder still.

Jetzt hörte er das Läuten zur Messe in dem Kloster. Er betete seinen Rosenkranz; dann pochte er leise an die Pforte. »Thürlein öffne dich!« Es öffnete sich die Pforte; aber – o Jammer! da lag der blutende Körper seines bösen Nachbars ausgestreckt auf seinen Säcken, und die Fässer und Kasten voll Gold und [237] Silber und Diamanten und Perlen sanken vor seinen Augen immer tiefer und tiefer in die Erde!

Fußnoten

1 Die Dummburg, deren feste Mauern der Zerstörung und der Zeit trotzten, liegt zwischen den Klöstern Hedersleben und Adersleben, an der östlichen Spitze des Hakels, einem Gehölz im Fürstenthum Halberstadt, zwischen Kochstedt und Gräningen, das einst mit dem Harz zusammenhing.

[240] Hackelnberg und die Tut-Osel.

»Weit umher zieht in den Gebirgen des Harzes und im Thüringer Walde der wilde Jäger Hackelnberg.« Doch am liebsten weilt er im Hakel, von dem er auch den Namen hat, besonders in der Gegend der Dummburg. Oft hört man ihn um Mitternacht, wie er im Sturm und Regen, oder im Mondschein bei bewölktem Himmel, mit seinen Hunden die Schatten des einst getödteten Wildes in den Wolken verfolgt. Gewöhnlich geht sein Zug von der Dummburg aus, quer über den [241] Hakel, nach der jetzt wüsten Dorfstätte von Ammendorf 1.

Doch, sehen könne ihn nur wenige Sonntagskinder. Zuweilen begegnet er ihnen als ein einsamer Jäger mit einem Hunde; zuweilen sehn sie ihn in einem Wagen von vier Pferden gezogen und von sechs Jagdhunden begleitet. Aber alle hören sein furchtbares Daherrauschen durch die Lüfte, hören das dumpfe Hundegebell, und das Klatschen seiner Pferde wie im Moorwasser 2, hören seinen [242] Waldruf: »Hu! Hu!« und sehen seine Begleiterin und Waldhornissin die Tut-Osel.

Einst saßen drei Wanderer in der Gegend der Dummburg. Schon war es tief in der Nacht. Der Mond blickte hier und da durch die sich jagenden Wolken. Rings umher war alles stille. Plötzlich rauscht' es über ihren Köpfen. Sie sahen auf, und vor ihnen flog eine große Ohreule. Ha, rief der eine Wanderer, da ist die Tut-Osel! nun ist Hackelnberg nicht weit, der wilde Jäger. Laßt uns fliehen, sprach ängstlich der zweite, eh' uns das Ungethüm ereilt. Entfliehen können wir nicht, sagte der dritte; auch habt ihr nichts zu befürchten, wenn ihr ihn nicht reizt. Legt euch nur still nieder auf den Bauch, wenn er über uns wegfährt. Anreden aber müßt ihr ja Hackelnberg nicht, sonst geht es euch wie jenem Schäfer.

Und die Wanderer legten sich unter das Gebüsch. Bald hörten sie um sich ein Rauschen, [243] wie von einer Meute Hunde, die durch das Gesträuch sich drängen, hörten hoch über sich in den Lüften ein dumpfes Getön, wie von verfolgtem Wild, und von Zeit zu Zeit hörten sie zusammen schaudernd des wilden Jägers furchtbartönendes: Hu! Hu! – Zwei der Wanderer druckten sich fest an die Erde. Aber der dritte konnte der Neugier nicht widerstehen; er schielte seitwärts durch die Zweige in die Höhe, und sah den Schatten eines Jägers, der schnell mit seinen Hunden vorüber eilte.

Jetzt war es plötzlich rings umher still. Die Wanderer erhoben sich langsam und schüchtern, und wollten Hackelnberg nachsehen. Aber – er war verschwunden, und kam nicht wieder.

Wer ist denn die Tut-Osel? fragte nach langer Pause der zweite Wanderer?

In einem fernen Kloster in Thüringen, antwortete der erste, lebte einst eine Nonne, [244] Ursel benannt. Diese plagte schon im Leben, mit ihrer heulenden Stimme, das ihre Mitschwestern, und störte oft den Chorgesang. Darum nannte man sie Tut-Ursel. Aber, viel schlimmer wurde es nach ihrem Tode. Denn von eilf Uhr des Abends an steckte sie den Kopf, durch ein Loch des Thurms, in das Chor der Kirche, und tutete kläglich; und alle Morgen um vier Uhr stimmte sie ungerufen in den Chorgesang ein.

Einige Tage ertrugen dies ihre Schwestern mit klopfendem Herzen und bebenden Knien. Aber, als sie den vierten Morgen mit einstimmte, und eine der Nonnen, mit leiser zitternder Stimme, zu ihrer Nachbarin sagte: »Ha – das ist gewiß die Ursel!« da schwieg plötzlich der Gesang, die Haare sträubten sich auf, und alle Nonnen stürzten aus der Kirche, halblaut schreiend: »Ha! Tut-Ursel! Tut-Ursel!« – Und keine der gedrohten Bussen und Strafen vermochten eine der Nonnen, [245] die Kirche wieder zu betreten, bis die Ursel aus den Klostermauern verbannt war. Man holte also den berühmtesten Teufelsbanner seiner Zeit, aus einem Capucinerkloster an der Donau; und dieser bannte, durch Fasten und Gebet, die Ursel, in der Gestalt der Ohreule, nach der fernen Dummburg.

Hier traf sie Hackelnberg, den wilden Jäger, und fand an seinem Waidruf: »Hu! Hu!« eben so großes Behagen, als er an ihrem »U! hu!« Und so ziehn sie nun, auf immer vereint, auf die Luftjagd aus, er froh, ein Wesen gefunden zu haben seiner Art, sie hocherfreut, nicht mehr eingeschlossen zu seyn in den Klostermauern, und den Wiederhall zu hören ihres Gesanges.

Da haben wir nun die Tut-Osel! – Aber, wie ging es denn jenem Schäfer, der Hackelnberg anredte?

Hört die wunderbare Geschichte, sprach der dritte Wanderer. Ein Schäfer hörte einst [246] den wilden Jäger über seine Hürde wegziehen, hetzte seine Hunde an, und rief ihm nach: Glück auf, Hackelnberg! – Hackelnberg kehrte schnell um, und rief ihm mit dumpfer Donnerstimme: »Hast du mir hetzen geholfen, so sollst du auch Theil haben an dem Fang!« Der Schäfer verkroch sich zitternd. Aber Hackelnberg warf ihm eine halb verwitterte Pferdelende in seinen Schäferkarren, daß er kaum sich regen konnte, weder vorwärts noch rückwärts.


Veranlassung zu dem Haupttheil dieser Sage gab vielleicht im Mittelalter ein Jäger, gleich Nimrod, aus dem Geschlecht der Edeln von Hakelberg oder Hackelnberg. Der letzte bekannte Jäger seines Stamms war: Hans von Hakelberg, der im sechszehnten Jahrhundert, in einem Hospital starb, das am Wege unweit des Amtsdorfes Wulperode, nahe bei Hornburg, und an der Gränze des Herzogthums [247] Braunschweig liegt. Seine Asche deckt auf dem dortigen Kirchhofe ein Stein, worauf ein völlig geharnischter Ritter, auf einem Maulthiere 3 abgebildet ist. Sonst bewunderten Durchreisende in Wulperode die dort aufgehangne, schwere ritterliche Rüstung des Hans von Hackelnberg. Jetzt ist nur noch der Helm dort zu sehen; alles übrige von der Rüstung ist jetzt (man weiß nicht, warum?) in Deersheim. – Von seinem sonderbaren Tode hat sich folgende Volks-Sage erhalten.

»Hans von Hackelnberg, herzoglich braunschweigischer Oberjägermeister, lebte nur für die Jagd. Um seine Leidenschaft zu befriedigen, kaufte oder pachtete er mehrere benachbarte Jagden; und so durchzog er, mit seinem Gefolge und seiner großen Meute Hunde, Felder und Gehölze und die Vorgebirge des Harzes, Jahr aus Jahr ein, bei Tag' und bei Nacht.

[248] Einst übernachtete er in Harzeburg. Da sah' er im Traum einen furchtbaren Eber, der ihn, nach langem Kampfe überwand. Als er erwachte, stand das schreckliche Traumbild ihm immer noch vor Augen, und keine Vorstellung konnte den Eber ganz verwischen, wenn er auch selbst über seinen Traum lachte.

Einige Tage nachher traf er wirklich im Vorharze einen gewaltigen Eber, ganz dem ähnlich, den er im Traum gesehen hatte, an Farbe, an aufsträubenden Borsten, an Größe, und an Länge der Fänger. Mit Wildheit, Muth und Kraft von beiden Seiten begann der Kampf, der lange unentschieden blieb. Seiner Gewandheit verdankte Hans von Hackelnberg den Sieg, und er streckte seinen furchtbaren Feind glücklich nieder. Als er ihn zu seinen Füßen liegen sah, weidete er seine Augen eine Zeitlang an dem Anblick, und dann stieß er mit dem Fuß nach seinen schrecklichen Hauern, mit dem Ausruf: Du sollst es mir auch noch [249] nicht thun! Aber er stieß mit solcher Gewalt, daß der eine der scharfen Zähne den Stiefel durchdrang, und ihn am Fuße verwundete.

Anfangs achtete er die Wunde wenig, und setzte die Jagd fort, bis es Nacht wurde. Bei seiner Zurückkunft war der Fuß schon so geschwollen, daß der Stiefel abgetrennt werden mußte. Aus Mangel eines sorgsamen Verbandes verschlimmerte sich in einigen Tagen die Wunde so, daß er nach Wolfenbüttel zurück eilte, um Hülfe zu suchen. Aber, jede Erschütterung des Wagens war ihm unerträglich; und nur mit Mühe erreichte er das Hospital bei Wulperode, in dem er bald nachher starb.«

Fußnoten

1 In der Feldmark des magdeburgischen Dorfs Hakeborn, unweit des Städtchens Egeln.

2 »Hackelnberg fatscht« sagt das Volk im Mannsfeldischen. Dieser Idiotism bezeichnet das sonderbare schnalzende Getön, welches entsteht, wenn Pferde u.s.w. die Füsse aus zähwerdendem Koth (Fatsch) herausziehen. – Wer physikalische Erklärung dieser Sage sucht, den erinnert vielleicht jener mahlende Provinzialismus an manche schnalzende Töne der Uhu's.

3 Oder veranlaßte nur die Ungeschicklichkeit des Meissels diese Deutung?

[252] Das Grundlos.

»Unfern der nördlichen Spitze des Hakels sieht man, am Abhang des Berges, einen großen Erdfall, zum Theil mit Wasser ausgefüllt, am Rande mit hohem Schilf überwachsen, und in der Mitte mit der längsten Stange nicht zu ergründen. Darum heißt er mit Recht:das Grundlos.«

Hier stand einst, vor vielen hundert Jahren, als noch das ganze Land mit Wald überdeckt war, im Dickicht, eine Burg, der gewöhnliche Sammelplatz der Raubritter, welche die ganze Gegend umher unsicher machten. [253] Hier theilten sie ihren Raub, und die Aerndten der zerstreuten Bewohner des Landes, die sie für sich zu arbeiten zwangen bis auf das Blut, besonders bei den Burgfesten. Hieher brachten sie ihre Gefangnen, und die besten Töchter des Landmanns, die sie zum Hofe-Dienst raubten.

Hier schwelgten, und lärmten und tanzten die fahrenden Ritter lange Tage und Nächte hindurch. Und mit Schrecken hörte der ferne Wanderer oft, zwischen dem Lärm der Bunge 1 und der Drometen, das dumpfe Jammergeschrei derer, die in unterirdischen Hölen gemordet wurden. Menschliche Hülfe war hier umsonst; denn, mächtige verbündete Ritter schützten die Burg mit ihren Reisigen. Aber, zum Himmel stieg auf das Geschrei der Gewaltthat. Und, es nahte der Tag der Rache!

[254] Einst verirrte sich an einem neblichten Herbsttage, ein fern her kommender Ritter aus Welschland mit seinem Knechte, im Harzgebirg, und kam zu dieser Burg, welche, abwärts von der Straße, welche Reisende zu ziehen pflegten, im dichten Walde versteckt lag. Schon war die Nacht eingebrochen, und rings um die Burgmauer her war weder Mensch zu sehen noch Thier. Doch hörten sie drinnen ein wildes Gekreisch wie von betrunkenen, lärmenden Männern, und Hörnern und Drometen, begleitet vom Geheul großer Hunde. Die Reisenden pochten und riefen an einer Hinterpforte im Dickicht. Aber zu ihrem Glück hörte niemand ihr Klopfen noch Rufen; denn, es tobte der Sturm in der Nacht, und der Regen rasselte auf den Dächern.

Der Knecht, des Rufens müde, suchte ein Obdach. Und endlich fand er tappend, und durch das Gebüsch sich drängend, unfern dem Eingange zur Burg, eine gewölbte Vertiefung, [255] und in ihr eine Pferdekrippe, woran ein fressender Klepper stand. Froh über diese Entdeckung brachte er seinen Herrn und die Pferde hieher, und ließ sie an dem Futter sich laben, womit die Krippe angefüllt war.

Der fremde Ritter, ermüdet von der langen mühvollen Reise, entschlief bald auf einem kleinen Heuschober, den er in dem einem Winkel der Hölung auffand. Die ferne Musik und das eintönige Rasseln des Regens wiegte ihn in festen Schlummer.

Aber nicht so gut ward es dem Knecht. Ihn erhielten wach die Sorge für seine Pferde und sein leerer Magen, den die Musik und der Gedanke an den Schmaus, der dem Tanz vorausging, wenig beruhigten. Und dann wurde es ihm, von Minute zu Minute, grauender und grauender in der dunkeln Höle. Er betastete ringsum den geräumigen gewölbten Stall, worin er mit seinem Herren war, fand [256] aber nichts, als reichlichen Vorrath für die Pferde, deren leicht zwanzig hier Platz gefunden hätten. – »Wer wohnt hier? – Wem gehört der Klepper? wem das Futter, das du deinen Pferden gabst, – Wie, wenn die Knechte der Tanzenden zurückkommen, oder, in dem Heu schlafend, erwachen? – Oder, wohnen vielleicht gar Räuber und Mörder hier?« – So durchkreuzten tausend Gedanken seine Seele, und er konnte nicht schlafen.

Die steigende Furcht trieb ihn näher hin zu seinem schlafenden Herrn. Und endlich warf er sich unmuthig auf das Heu, fiel aber in die Tiefe hinab. Unter ihm brachen einige morsche Stäbe; er fiel einige Fuß tief in eine unterirrdische Hölung; und sein Gesicht und seine Hände berührten – o Schrecken! – Menschenschädel und Menschengebeine, die hier zerstreut lagen.

Lautschreiend raffte er sich auf von dem verwünschten Ort, kroch zitternd hervor, und [257] wankte der Thür des Stalles zu, vergessend seines Herren und seiner Pferde. Hier saß er vor dem Gebüsch, das den Eingang umkleidete, vom Winde durchstürmt, vom Regen durchnäßt, und klappte mit allen Zähnen.

Allgemach schwiegen die Hörner und Drometen; und bald war rings um ihn eine Todtenstille, die ihm noch grauender war. – Jetzt schlug die Thurmuhr zwölf; und jedes Haar auf seinem Kopf sträubte sich auf. Denn, angstvoll erwartete er in jedem Augenblick die Erscheinung der Geister der Erschlagenen. Und so wagte er nicht, in die Höhe, noch vor sich, noch hinter sich zu sehen. Zusammengekrümmt, die Augen mit den ausgespreiteten Fingern bedeckt, saß er da.

Plötzlich fielen einzelne Strahlen, wie von einer auflodernden Fackel, auf das Gebüsch – und im Augenblick war alles wieder verschwunden. Oft glaubte er, entferntes Kettengeklirr und dumpfes Aechzen zu hören; er horchte, [258] und – plötzlich war alles wieder still. In jedem Augenblick erwartete er vor Angst zu sterben, und überlebte doch alle diese Schrecken.

Jetzt schlug endlich, nach langem vergeblichen Harren, die Thurmuhr: Eins. Das Gewölk zertheilte sich; einzelne Strahlen des Mondes fielen auf ihn durch die Gebüsche, und Hoffnung und Lust zum Leben kehrten zurück in sein Herz. – Bald stand der volle Mond in seiner Pracht da, am heitern nicht mehr bewölkten Himmel. Und nun wagt' es der Knappe, einige Schritte vorwärts zu thun, um sich umzusehen, wo er sey.

Er entdeckte bald eine nicht sehr hohe Mauer, auf der mehrere kleine Thürme standen, und nicht weit von dem Stalle, von einigen mächtigen Eichen überdeckt, ein eisernes Fallgatter, das den Eingang in den Burghof verschloß. Mit immer wachsendem Muth (denn vorbei war die Gespensterstunde, und der Mond leuchtete ihm) nahte er sich, mit [259] leisem Tritt, dem Fallgatter, und sah hinein in den Burghof, sah am Ende desselben das Thürmlein, das hinauf zum Rittersaal führte.

Auf der Mitte des Hofes stand eine Rug-Säule 2, mit ausgespreiteten Armen. Mit einemmal zeigte sich hier dem Knecht ein wunderseltsames Abentheuer. Drei große Hähne stiegen majestätisch herab von dem runden Dach des Burgverließes, und wandelten langsam über den Hof, dem geharnischten Schwerdtträger zu. Dann hoben sie sich zugleich im Fluge. Der größte Hahn, höher und stärker befiedert, als ein Adler, setzte sich auf den Kopf der Rolands-Säule, die anderen nahmen Platz auf seinen Ellenbogen. Und nun krähten sie, alle drei zugleich dreimal, daß der Hof und der nahe Wald wiederhallten. Alles still. Dann erscholl es, wie aus dumpfer Ferne: [260] »Wehe! Wehe! Wehe!« – Siebenmal krähten nun noch lauter die Hähne, und das: »Wehe! Wehe! Wehe!« erscholl zum zweitenmal. – Neunmal krähten noch lauter die Hähne; und nun erhob sich der große Hahn hoch in die Lüfte, und schrie: »Wehe! Wehe! Wehe! Heute noch versinkt die Raubburg!«

Taumelnd wankte der Knecht nach dem überwölbten Stall zurück, rüttelte zitternd seinen Herrn, der wie im Todesschlafe da lag, bis er endlich erwachte, und verkündete, bebend wie Espenlaub, ihm die unerhörte Mähre, während er die noch gesattelten Rosse zäumte. Kopfschüttelnd strafte der Ritter aus Welschland seinen Knecht Lügen, und glaubte dennoch die Erzählung, und schauderte daß zusammen, bei dem: »Wehe! Wehe! Wehe!« – Und, ohne zu säumen, eilten beide von dannen, durch Gebüsch und Hecken, bis sie endlich die gebahnte Straße fanden.

Jetzt ging ihnen lang erwünscht die Sonne auf, aber halbverfinstert, und wie mit einem [261] Trauerflor umschleiert. Schon sahen sie von weitem die beglänzten Thurmspitzen Magdeburgs. Da hörten sie, in weiter Ferne hinter sich, ein dumpfes Getöse, wie von einem fernen Donner. Sie blickten zurück, und sahen eine große, dicke Dampfsäule aufsteigen, wie aus einem feuerspeienden Berge. – »Ha! rief der Knecht, gewiß ist dort versunken die verruchte Burg! Aus dem Schwefelpfuhl, worin die Unholde stürzten, steigt jener Dampf auf!«

»Komm, sprach sein Herr, wir wollen dorthin zurückkehren, um zu sehen die wunderbare Geschichte; ich habe so in dem Stall meine Handschuh zurück gelassen, das Abschiedsgeschenk meiner Verlobten.« – Aber höchlich weigerte sich des der Knecht. Und, zürnend und drohend ritt der Ritter aus Welschland allein der aufsteigenden Dampfsäule zu. Zitternd folgte ihm endlich der Knecht in langer Entfernung.

Nach einigen Stunden erreichten sie die Gegend, wo der Dampf aufbrudelte. Der [262] Ritter befahl seinem Knecht, hineinzureiten in die Dampfwolke, und seine Handschuhe zu holen. Der Knecht bebte zurück. Da riß der Ritter zähneknirschend sein Schwerdt aus der Scheide, und stieß es dem Knecht in die Brust. – Noch jetzt siehst du, unfern des Grundloses, den Stein, wo der Herr seinen zögernden Knecht würgte, und, bei Sonnenfinsternissen, noch hier und da, Tropfen des Bluts, das den Stein überspritzte.

Der Ritter weilte, bis die Sonne höher stieg, und nur noch eine dichte Dampfsäule die Mitte der Schreckensgegend verhüllte. Er sah nun vor sich einen See, der immer größer wurde, je mehr der Nebel sich in der Mitte zusammendrängte, und fand endlich am Ufer die Krippe, an der in der Nacht sein Streitroß stand, und in ihr – o Wunder! – die Handschuh, die seine Verlobte ihm gab.

In tiefem Nachdenken versunken stand der fremde Ritter aus Welschland, den stieren, starren Blick auf seine Handschuh gerichtet.

[263] Bald aber weckt' ihn aus seinem Hinstarren ein Zetergeschrei. Er blickt auf. Die Sonne hatte jetzt die Mitte des Himmels erreicht, und die ganze Dampfwolke niedergedruckt. – Da sieht er das Dach der immer tiefer einsinkenden Burg ganz mit Menschen bedeckt, die in der größten Herzensangst immer höher klommen, je näher ihnen das Wasser des immer steigenden Sees kam. An der Kleidung unterschied er etwa acht Ritter und zwölf Knappen.

Am lautesten schrie »Zeter und Wehe!« über sich und über die Andern, ein dickes, ungestaltes Weib, mit feuerrothen Augen und Haaren. Um die Hände frei zu haben, hatte sie, in der Angst ihres Herzens, ein großes Schlüsselbund sich um den Hals geworfen. Denn, dieser Unholdin waren die Schlüssel anvertraut gewesen über die Keller, Gewölbe und die unterirdischen Gemächer der Raubburg, in welche sie die unglücklichen Schlachtopfer der Räuber herabgestürzt hatte.

[264] Jetzt kam ein gräßlicher Anblick. Zahllose Gerippe von Erschlagenen und Erwürgten klimmten eins nach dem andern, von der entgegengesetzten Seite, das Dach hinauf, setzten auf den Forst sich hin, und blickten zähnefletschend auf die Unholde, die, in der Todesangst, nicht über sich, nicht unter sich zu sehen wagten. Dann aber erhoben sich die Gerippe, und schlugen mit ihren Knochenhänden, und mit den Ketten, womit sie belastet waren, auf ihre Peiniger.

Zuerst stürzte in die Fluthen die Schafnerin, mit dem Schlüsselbunde um den Hals, und wurde in dem Augenblick in eine ungeheure Karautsche verwandelt. Dann wurden herabgepeitscht die Raubritter. Sie verwandelten sich, so bald sie das Wasser berührten, in sechsfüßige Hechte. Zuletzt stürzten die Knappen zeterschreiend herab, und wurden Karpfen, ohne von ihrer Größe und Schwere zu verlieren.

Und so verfolgen, seit Jahrhunderten, bis auf den heutigen Tag, die ausgehungerten [265] Hechte die Karpfen und die Karautsche im Grundlos, ohne Ruhe noch Rast. Uebertäubt die Ermattung den Hunger; so jagen die Gerippe in der Tiefe des Wassers sie wieder auf.

Noch jetzt sehen die Bewohner der Gegend zuweilen die Moosbewachsenen Karpfen, die kleinen schwimmenden Inseln gleichen, und die Centnerschwere Karautsche, mit den feuerrothen Augen, das große Schlüsselbund um den Hals, auf der Oberfläche des Sees. Aber in demselben Augenblick tauchen sie wieder unter, geschreckt von ihren Verfolgern.

Fußnoten

1 Die ältere Pauke.

2 Rug- oder Ruge-land (Roland-) Säule, war das Zeichen der peinlichen Gerichtsbarkeit, und stellte einen mit einem großen Schwerdt bewaffneten Mann dar.

[268] Das Hühnenblut.

Zwischen dem magdeburgischen Städtchen Egeln und dem Dorfe Westeregeln, unweit des Hakels, findet sich, in einer flachen Vertiefung, rothes Wasser, welches das Volk: »das Hühnenblut« nennt. Zwei Sagen erklären das Phänomen.

Erste Sage.

»Ein Hühne, oder Riese, floh' einst, von einem andern Hühnen verfolgt, überschritt die Elbe, und als er in die Gegend kam, wo jetzt Egeln liegt, blieb er mit dem einen Fuße, den er nicht hoch genug aufhob, an der Thurmspitze der alten Burg hangen, stolperte, erhielt sich noch ein Paar tausend Fuß zwischen Fall und [269] Aufstehn, stürzte aber doch endlich nieder. Seine Nase traf gerade auf einen großen Feldstein bei Westeregeln, mit solcher Gewalt, daß er das Nasenbein zerschmetterte, und ein Strom von Blut ihm entstürzte, dessen Ueberreste noch jetzt zu sehen sind.«

Zweite Sage.

»Ein Hühne wohnte in der Gegend von Westeregeln. Oft machte er sich das Vergnügen, über das Dorf und seine kleinen Bewohner wegzuspringen. Bei einem Sprunge aber ritzte er seine große Zehe an der Thurmspitze, die er berührte. Das Blut sprützte aus der Wunde in einem tausendfüßigen Bogen, bis in die Lache, in der sich das nieversiegende Hühnenblut sammelte.«

[270][272]

[272] Der Wolfstein.

Bei dem magdeburgischen Dorfe Eggenstedt, das unweit Sommerschenburg und Schöningen liegt, erhebt sich, auf dem Anger nach Seehausen zu, ein großer Stein, den das Volk den Wolfstein nennt, und sich dabei folgende Sage erzählt.


»In und an dem Brandsleber-Holze, das sonst mit dem Hakel und dem Harz zusammenhing, hielt sich vor langer, langer Zeit ein Unbekannter auf, von dem man nie erfahren hat, wer er war, und woher er stamme. Inzwischen kümmerte dies die meisten Bewohner dieser Gegend nur wenig, da er unter dem Namen des Alten überall bekannt war, und öfters, ohne Aufsehn zu erregen, in die Dörfer kam, um [273] seine Dienste anzubieten, die er auch zur Zufriedenheit der Landleute verrichtete. Besonders pflegte er die Hütung der Schaafe zu übernehmen, wenn die Schäfer, wegen der Schaafschur oder anderer Hindernisse, einen Gehülfen brauchten. Und so sah man den Alten bald bei dieser Heerde, bald bei jener.

In der Heerde des Schäfers Melle zu Neindorf fiel einst ein niedliches buntes Lamm. Der Unbekannte bat den Schäfer dringend, ihm dieses zu schenken, und wiederholte die Bitte alle Tage, aber vergebens. Es kam der Tag der Schur, und Melle brauchte die Hülfe des Alten. Mit Freuden hütete er seine Heerde. Aber, als Melle wieder zu ihr zurücke kam, fand er weder sein geliebtes buntes Lamm, noch den Alten, alles andere aber in Ordnung.

Der Unbekannte war verschwunden, und keiner wuste, wo er war. Nach geraumer Zeit stand er ganz unerwartet vor dem Schäfer Melle, der im Kattenthal seine Heerde [274] weidete. ›Guten Tag, Melle! Dein buntes Lamm läßt dich grüßen;‹ rief er ihm zu. Ueber diesen hönischen Zuruf ergrimmte der Schäfer, und griff nach seinem gekrümmten Hirtenstabe, um den endlich gefundenen Räuber zu strafen.

Plötzlich aber wandelte der Unbekannte seine Gestalt, und sprang ihm als Währwolf entgegen.

Erschreckt über den furchtbaren Feind verlor Melle die Fassung. Aber seine Hunde stürzten wütend auf den Wolf ein, der, nach langem Kampf, endlich die Flucht nahm. Durch Wälder und Thäler verfolgten sie ihn unablässig, bis sie ihn in der Gegend des Dorfs Eggenstädt aufhielten. Melle, der sich von dem ersten Schrecken erholt hat, folgte der Spur, und rief dem Währwolf, als er ihn von seinen Hunden umringt sah, mit furchtbarer Stimme zu: Nun sollst du sterben!

Da stand urplötzlich der Alte in Menschengestalt vor ihm, bat ihn, seiner zu schonen, [275] schwur, nie wieder ein Lamm oder ein Schaaf zu rauben, und erbot sich zu jedem Ersatz. Doch nichts rührte den Ergrimmten. Wütend stürzte er ein auf ihn mit seinem Hakenstock, und – verschwunden war der Unbekannte. Es stand vor ihm ein plötzlich aufsprießender Dornstrauch.

Auch in dieser Gestalt verschonte ihn der Rachsüchtige nicht. Grausam zerhieb er die Zweige des Dornbusches, und wollte das zerknikte Gesträuch ganz vernichten. Noch einmal wandelte der Unbekannte sich in einen Menschen um, und flehte um sein Leben. Aber, der Hartherzige blieb unerbittlich. Da wollte er als Währwolf entfliehen; doch, ein Streich von des wütenden Melle Hand streckte ihn todt zur Erde.

Noch jetzt bezeichnet eine Felstrümmer den Ort, wo der Währwolf fiel und beigescharrt wurde, und heißt auf ewige Zeiten: der Währwolfsstein.«

[276][278]

[278] Die Daneels-Höle.

Am mitternächtlichen Abhang des Berges, auf dessen Gipfel das Kloster Huyseburg, eine Meile vorwärts von Halberstadt, liegt, zeigt sich eine künstlich ausgehaune Felsenhöle, von ziemlich beträchtlichem Umfang, die jetzt, da der Wald an dieser Stelle stark ausgehauen ist, dem suchenden Auge leicht sich darbieten, einst aber von dickbelaubten Eichen und Buchen völlig versteckt war. Jetzt sieht man nur noch die nackten ofnen Felsenwände, und unterscheidet zwei Gemächer, deren eins zu einem Auffenthalt für Menschen, das andere zum Pferdestall bereitet war. Noch bemerkt man an der obern Decke eine durch die Kunst gemachte [279] Oefnung, welche den starken Fels durchdringt. Das Volk erzählt davon folgende Sage.


»In dieser Höle wohnte einst ein Räuber, der viele Jahre die ganze Gegend umher unsicher machte. Sein Name war Daneel, oder, Daneil. Sein Bruder, ein Sternseher, hatte ihm diesen Schlupfwinkel aufgesucht, und für seine Absichten eingerichtet. Der Undankbare ermordete ihn, damit sein verborgener Auffenthalt desto weniger verrathen werden könnte.

Lange Zeit hindurch trieb Daneel seine Räubereien, in mehreren Theilen des Harzgebirges von seiner Felsenhöle aus. – Er hatte sie außerdem, in einem großen Umkreise, mit verborgenen Schlingen von Draht umgeben, die mit einigen kleinen Glocken in seiner Höle in Verbindung standen, deren Geklirr ihm die Gegend bezeichnete, in die er hineilte, um auch die einzeln vorbeigehenden Wanderer zu berauben.

[280] Diese List verschaffte ihm auch eine Frau und Wirthschafterin. Suse, ein schönes Bauermädchen aus einem benachbarten Dorfe, verirrte sich, beim Haselnußpflücken, bis in die verwachsene Wildnis, die des Räubers Höle verdeckte. Kaum aber hatte sie den verrätherischen Draht berührt, so sprang Daneel heraus, und haschte und schleppte sie, nach vergebnem Kampf, in seine Höle. Hier zwang er sie, sein Weib zu werden, und ihm feierlich zu schwören: ›ihn nie böslich zu verlassen, und seinen Auffenthalt keinem lebenden Menschen zu verrathen.‹

Lange blieb auch der Schlupfwinkel des Räubers unentdeckt. Denn, da er größtentheils in entferntern Gegenden raubte, und sich dann im Dunkel der Nacht in die nicht bemerkbare Höle schlich; so vermuthete man mehrere Jahre hindurch seinen Auffenthalt in dem Huy-Walde nicht. Und da endlich die Obrigkeiten der benachbarten Orte durch häufige Klagen aufmerksam gemacht wurden, so [281] täuschte sie Daneel durch mannichfache List. So hatte er, unter andern, seinem Pferde die Hufeisen verkehrt aufgeschlagen, so daß die Spur, wenn er zuweilen auf demselben heimkehrte, abwärts von seinem Wege führten. Die letzten Spuren verdeckte der Rasen, welcher den Abhang des Berges, in dessen Mitte die Höle lag, überkleidete. Doch, nicht immer schlief die Rache!

Fünf Kinder hatte ihm Suse geboren; und alle fünf Kinder hatte der Unmensch gleich nach der Geburt erstickt, um durch ihr Geschrei nicht verrathen zu werden. – Jetzt endlich gab der Räuber den tausendmal schon versagten Bitten seines Weibes nach, da er von ihrer Treue überzeugt war, und sie nun längst schon vergessen und unkenntlich glaubte, nur einmal in die benachbarte Stadt gehen zu dürfen, um sich einige Kleidungsstücke zu kaufen, die sie schon lange sich gewünscht hatte. – Nach sechs kummervollen Jahren öfnete sich ihr zum erstenmal ihr Kerker, und sie sahe bebaute [282] Fluren wieder. Doch mußte sie vorher ihren Schwur mit den stärksten Betheurungen wiederholen, auch ihm eidlich versprechen, aus der Stadt heimzukehren, ehe das Getümmel in derselben lebhaft würde.

Noch vor Aufgang der Sonne verließ sie die Raubhöle, von tausend Empfindungen bestürmt. Einen Monat vorher hatte sie die klägliche Ermordung ihres fünften ebengebornen Kindes, eines schönen gesunden Knabens, gesehen, und sein Geschrei durchbebte noch immer ihr Ohr; seit dieser Zeit war ihr der Räuber, den sie immer mit finstern Unmuth heimkehren sah, und dessen Erzählungen von seinen Räubereien sie mit Abscheu hörte, völlig unerträglich geworden. Sie zitterte vor dem Gedanken, in einigen Stunden wieder in die Höle zurückzukehren, und hier, vielleicht auf immer, eingeschlossen zu werden. Und doch – sie band der furchtbarste Eid: und ›Seele verloren, alles verloren!‹ hallte es immer in ihrem Herzen wieder. So fühlte sie sich jetzt [283] frei, und zugleich an die Höle und den Räuber gekettet.

Als sie an dem Kloster Huyseburg vorbei ging, hoffte sie, ein Engel sollte ihr einen Priester entgegen führen, der sie, ohne daß sie ihm das Geheimniß vorher entdeckte, von ihrem Eide entbände. Aber, kein Priester erschien. Dämmerung und Schlaf deckte noch das Kloster und seine Bewohner. – Sie ging weiter, stand jetzt vor dem Walde, und sahe die Stadt noch im Nebel gehüllt vor sich liegen. Die Stille um sie her war ihr graunvoll; sie fühlte sich einsam und von der ganzen Welt verlassen. – Jetzt ging die Sonne auf, und die ganze schöne Landschaft lag frei vor ihr. Aber, ihre Brust war beklommen; es war ihr, als wenn die Morgenluft auf dem freien Berge, die sie sich so oft nur einmal einathmen zu können gewünscht hatte, ihr das Herz zerdrücken wollte. Die Angst beflügelte ihre Schritte; sie kam, ohne einem menschlichen Wesen zu begegnen, zur Stadt, fand die Häuser der[284] Juden, die nahe am Thor wohnten, von denen sie die Kleider kaufen wollte, noch verschlossen, und wollte wieder zu ihrem Kerker zurückkehren.

Aber, der Taumel ihrer Gedanken machte sie schwindeln. Sie verfehlte den Weg in der Stadt, und, halb besinnungslos stand sie mit einemmal auf dem Marktplatz in der Mitte derselben. Es war noch so früh am Tage, daß sie auch hier keinen Menschen sah. Sie richtete ihren niedergesenkten Blick in die Höhe, und sahe die Rolands-Säule an der Ecke des Rathhauses. Ueberwältigt von ihrem Jammer und von dem Drang ihrem vollen Herzen Luft zu machen, warf sie sich vor dem steinernen Bilde auf die Knie, und erzählte diesem, unter Strömen von Thränen und lautschluchzend ihre Leiden, und die Abscheulichkeiten, die sie in der Raubhöle gesehen und gehört hatte.

Ein vorbeigehender Gerichtsdiener hörte einen Theil ihrer Beichte, und nötigte sie, mit ihm zu dem Schöffen zu gehen. Hier, [285] da sie ihr Geheimniß schon verrathen sahe, und von drei Priestern feierlich ihres Eides entbunden wurde, erzählte sie ohne Rückhalt, was sie wußte, und versprach auch, den listigen Räuber den Richtern zu überliefern. Dann eilte sie, so schnell sie konnte, nach der Höle zurück, und bestreute den Pfad, der durch das Gebüsch sich zu derselben hinauf wand, mit einzelnen Erbsen, welche ihr die Richter zu dem Behuf mitgegeben hatten.

Der Verabredung gemäß erschienen den folgenden Tag die Schöffen mit zehn wohlgerüsteten Lanzknechten, an dem bezeichneten Abhang des Berges, in dem die Höle des Räubers lag, und vertheilten sich in dem Gebüsch. Bald spähten sie auch den bestreuten Pfad aus. Da sie aber nicht hoffen konnten, mit offenbarer Gewalt in die Höle einzudringen, welche eine starke eiserne Thür und große Schlösser und Riegel verschlossen; so warteten sie versteckt den Augenblick ab, den ihnen Suse [286] als den einzigen genannt hatte, wo sie hoffen konnten den Räuber zu überraschen.

Jetzt war es Mittag, und warm schien die Sonne. Da hören sie über sich den Schall einer kleinen Glocke, womit ihnen Suse ein Zeichen gab, und bald nachher das Knarren der Riegel und Schlösser an der eisernen Thür der Höle, die jetzt geöfnet wurde. Sie sehen auf, und heraus tritt Suse, und ihr folgt der furchtbare Räuber. Suse setzt auf einen kleinen, freien, sonnebeglänzten Vorplatz am Abhang des Berges sich hin, neben ihr lagert sich Daneel in das hohe Gras, und legt seinen Kopf auf ihren Schooß, wie er alle Tage bei heiterm Wetter zu thun pflegte, um so des Mittagsschlafes zu genießen. Die neue Delila streichelte ihm Wangen und Kopf, bis er einschlief.

Als sie ihn fest schlafen glaubte, gab sie den versteckten Lanzknechten, durch ein leises Pfeifen mit dem Munde, das verabredete Zeichen, über den Räuber herzufallen. Diese arbeiteten sich den Abhang heran. Doch Daneel, den das [287] ungewohnte Pfeifen schon halb geweckt hatte, fuhr, als er das Rauschen der Büsche um sich her hörte, plötzlich auf, blickt' umher, und sahe bewafnete Männer, die von mehreren Seiten sich ihm nahten. Augenblicklich sprang er auf, und wollte Suse mit sich in die Höle reißen. Da diese sich aber aus allen Kräften sträubte, so stürzte er allein in die Höle, warf die eiserne Thür hinter sich zu, und verrammelte sie mit Riegeln und Felstrümmern und Baumstämmen.

Da standen nun die Lanzknechte und ihre Anführer vor der langgesuchten Höle, hatten den Räuber, der ihnen so oft entgangen war, umringt gehabt, und sahen sich von neuem getäuscht. Vergebens bestürmten sie den Eingang mit ihren Waffen, und mit Stangen, die ihnen der Wald darbot; die feste Thür wankte nicht unter ihren Schlägen. Auch wünschte keiner der erste zu seyn, der auf den Räuber in der ofnen Höle träfe; und so hoben sie für jetzt den stürmenden Angriff auf, und hielten Kriegsrath.

[288] Schöffen und Lanzknechte stimmten, nach langer Berathung, als das sicherste, darauf, den Räuber in seiner Felsenburg auszuhungern. Ein Eilbote sollte die glückliche Verhaftung des Unholds in der Stadt verkünden, und Lebensmittel für die Belagernden, und noch Verstärkung, wegen eines zu befürchtenden Ausfalls, herbeiholen. Aber Suse sagte den Berathenden: Daneel habe schon seit mehreren Jahren auf solche erwartete Fälle sich in Bereitschaft gesetzt; er sey immer auf mehrere Wochen mit Lebensmitteln und mit Wasser versehen. Diese Frist schien den Kriegern zu lange; sie gaben also jenen Entwurf der Aushungerung auf, und jeder that einen neuen Vorschlag wegen der Bestürmung, Untergrabung und Sprengung des Felsens, der den andern immer noch unthunlicher erschien, als der erste.

So stritten und zankten sich die Belagerer vor der Höle, bis die Sonne sank. Daneel lachte ihres Zanks und Streits in seiner Felsenburg, und machte schon Entwürfe, um Mitternacht, [289] wenn die Lanzknechte sich zerstreut hätten, oder eingeschlafen wären, sich aus der Höle wegzuschleichen, und sie am folgenden Morgen das leere Nest erobern zu lassen, oder, wenn sie wachen sollten, als brüllender Teufel durchzubrechen. Er wollte sich zunächst in dem benachbarten Gehölz, der Elm genannt, verstecken, und von da tiefer in das Harzgebirge gehen, um dort sein Wesen zu treiben. Aber, auch seine Entwürfe wurden vereitelt.

Einer der Lanzknechte, dem der Streit zu lange dauerte, hatte sich unbemerkt aus dem Kriegesrath weggezogen, und verkündete auf dem Rückwege zur Stadt und in der Stadt, die Nachricht, mit allen Vergrößerungen und Zusätzen, die ihm Schrecken und die Begierde, seine Verdienste zu heben, eingaben. Und so strömte, ehe noch die Nacht einbrach, eine solche Menge Volks aus der umliegenden Gegend herzu, daß die Belagerer mit vollem Muthe blieben, und Daneel jetzt nicht entkommen konnte.

[290] ›Guter Rath kommt über Nacht,‹ sagt das Sprüchwort. Und so hatte man sich auch endlich zu dem Entschluß vereinigt, den Räuber in seiner Höle auszusäufen, oder durch den Dampf des kochenden Wassers zu ersticken. Bald nach Anbruch des Tages sahe man Hunderte von Armen mit Beilen und Aexten bewafnet, um alle Bäume und das Gesträuch rings um die Höle her niederzuhauen; und in wenigen Stunden stand der ganze Abhang des Berges so kahl da, wie wir ihn noch jetzt sehen. Dann wurde von allen umliegenden Dörfern Wasser herzugetragen und herbeigefahren. Unterdeß hatten Maurer und Steinbrecher eine ziemlich beträchtliche Oefnung durch den Felsen, der die Höle von oben bedeckt, durchgearbeitet. Endlich brachte man auch vom Kloster Huyseburg eine große Braupfanne, um in ihr auf einem hoch auflodernden Feuer das Wasser zu kochen.

Nun wurde der eingeschloßne Räuber durch Ströme kochenden Wassers, die man unaufhörlich durch die Oefnung hineingoß, indem das in [291] Reihe gestellte Volk die gefüllten Eimer von Hand zu Hand reichte, bestürmt und geängstet. Nach einigen Stunden hörte man ihn unruhig bald aus seinem Gemach in den Pferdestall, bald aus diesem in jenes herüberlaufen. Aber nun bemerkte man auch, daß das Wasser, durch eine Menge kleiner nicht zu verstopfenden Ritzen, fast eben so schnell wieder ablaufe, als es hineingegossen werde. Endlich fiel man darauf, das Wasser durch beigemischtes Mehl zu verdicken. Die benachbarten Mühlen und Dörfer mußten ihre Vorräthe liefern; und nun wurde stundenlang unaufhörlich heißer Brei in die Höle hineingeschüttet. Endlich wurde es ganz still in der Höle. Da lange keine Spur vom Leben des Räubers mehr bemerkt war, wurde endlich die eiserne Pforte durch Brecheisen aufgesprengt. Und, gleich am Eingang fand man den zusammen gekrümmten Leichnam des Unholds.«

[292][294]

[294] Ehrlich währt am längsten! 1

»Vor dem Schlosse zu Grüningen, an der Bode, saß an einem heitern Sommerabend, der Bischof von Halberstadt, Heinrich, und neben ihm ein fremder Bischof, der seit einem Monat sein Gast war. Vor ihnen stand, in zwei gewichtigen Pokalen, der Nachttrunk. Seit zehn Uhr Morgens, da sie sich zur Mittagstafel[295] setzten, bis zu Sonnenuntergang, hatten sie von einem großen Weinfaß gesprochen, welches damals ein Bischof am Rhein erbauen ließ, und, daß billig jeder geistliche Fürst, um seinem Hoflager den geziemenden Glanz zu geben, ein ähnliches Faß haben müsse. Die Sache war endlich, bis zur Ausführung, aufs Reine gebracht; und die Rede begann, bei beiden, von öfterm Gähnen unterbrochen, nur langsam, und immer einsilbigter, sich fortzubewegen.«

Da trieb, zum guten Glück, der Schäfer Conrad, die weißgewaschne Heerde, die Bischof Heinrich alle Abende musterte, queer über den Schloßhof. »Gott grüß' euch, Herr Bischof!« – »Guten Abend, Conrad! Wo ist denn Harm?« – Conrad pfiff, und ein schöner grosser Widder sprang erst zum Schäfer, und dann zum Bischof, der ihn streichelte, und mit den Brocken fütterte, die er selbst von der Tafel für ihn aufbewahrt hatte. Der Bischof sprach dann ein Paar Worte mit seinem Schäfer, und [296] fragte lächelnd: wann er Hochzeit machen würde? Conrad zuckte die Achseln, und trieb seine Heerde weiter.

Nun ergoß sich der Bischof Heinrich in Lobsprüche über den schönen Widder, den er um alles in der Welt nicht missen möchte, und dann über den guten Conrad, der die Ehrlichkeit selbst sey. Der fremde Bischof lachte laut auf; denn, weite Reisen, und der öftere Aufenthalt an vielen fürstlichen Hoflagern, hatten ihn mit Mißtrauen gegen die Menschen erfüllt. Er behauptete gerade zu: ganz ehrliche Diener zu finden, sey unmöglich, wenigstens, an einem geistlichen Hofe; sie betrögen alle ihre Herren, wären allzumal Schelme, nur, der mehr, der weniger. Bischof Heinrich widersprach ihm heftig, rühmte ihm den guten Schlag von Leuten, die unter seinem Krummstab ständen, vor allen aber Conrad den Schäfer, der noch nie eine Unwahrheit gesagt, oder irgend jemanden betrogen habe. »Noch nie hätte Conrad gelogen? nie andre hintergangen? nie seinen Herren [297] betrogen?« fragte spottend der fremde Bischof. Nein! antwortete Heinrich mit lebhafter Theilnahme, nie hat Conrad das gethan! und nie wird Conrad das thun! »Nie?« wiederholte der fremde Bischof. »Was gilt die Wette?«

Nach mehreren Vorschlägen wetteten endlich beide Bischöfe um ein Weinfaß, das hundert und funfzig Fuder Wein fassen könnte. Und, in drei Tagen, sollte Conrad, ohne daß er es wußte, die Probe bestehn. So schieden die beiden Bischöfe, froh, auf einige Tage eine neue Unterhaltung gefunden zu haben, und jeder seines Sieges gewiß.

Der fremde Bischof, ehe er sich schlafen legte, trat erst, wie gewöhnlich, in Berathung und Unterhaltung mit seinem Peter. Dieser Peter war, dem Namen nach, nur Knecht, und nach Befinden der Umstände auch wohl Hofnarr, in der That aber, des Bischofs heimlicher Rath, mehr, als mancher in prunkenden Titeln und Bändern. Er mußte [298] immer rathen und helfen, in allen geistigen und leiblichen Nöthen. Er pflegte für seinen Herren zu hören, zu sehen, gelegentlich auch zu denken, ohne es sich merken zu lassen; und das hatte er auch diesmal gethan.

Aber er war diesen Abend nicht sehr sprechlustig; denn, der Schelm, den sein Herr sich hatte entfahren lassen, wurmte ihm im Herzen; und erst die Anweisung auf eine neue scharlachne Kappe, im Fall der gewonnenen Wette, öfnete ihm den Mund. Nach manchen beissenden Bemerkungen, über die Kosten eines Weinfasses, das hundert und funfzig Fuder Wein enthalten könnte, welche mehr als die Hälfte der Jahreseinkünfte jenes Bisthums erschöpften, nahm er es endlich auf sich, auszuforschen, wie wohl dem Conrad, diesem Ausbund, Muster und Phönix der Ehrlichkeit, wie Knecht und Herr spottend ihn nannten, beizukommen seyn dürfte.

Peter fing gleich mit Sonnenaufgang seine des Nachts ausgesonnene Kundschaft an. [299] Und schon vor der Mittagstafel konnte er seinem Herren berichten: Conrad habe eine Liebschaft, die schöne Lise, die aber von seinen Anträgen nichts eher hören wollte, bis er sein eignes Häuschen habe, da er und sie arm sey. Der thätige Peter hatte selbst schon Lisen gesprochen, und sie zur Ausführung des Entwurfs, den er sich gemacht hatte, bereit und sehr tüchtig gefunden. Er bat sich also von seinem Herren ein Paar Hände voll blanker Batzen aus, um damit das Weinfaß zu gewinnen. Der Bischof ließ ihn nehmen, so viel er wollte, um sich desto sorgenfreier zur Tafel setzen zu können.

Peter ging wieder zur schönen Lise, zeigte ihr die blanken Batzen die ihren kleinen Tisch ganz bedeckten, und beide behandelten ein Häuschen, das eine arme Witwe schon längst verkaufen wollte, und Peter versprach, das Kaufgeld für Lisen zu bezahlen, so bald sie ihm das brächte, was er verlangte.

[300] Den folgenden Morgen ging Lise, wohl aufgeschürzt, in die Gegend, wo Conrad die Heerde durchtreiben mußte, um da zu krauten. – Kaum erblickte Conrad sie in der Ferne, so flog er zu ihr hin, begleitet von seinem Harm, setzte sich neben sie, und wiederholte ihr alles, was er ihr je gesagt hatte, um sie für seine Wünsche zu gewinnen. Lise aber antwortete ihm ganz kalt: sie habe das alles schon tausendmal gehört; wenn er ihr nichts neues von einem eignen Häuschen zu sagen habe, so wisse er schon längstens seinen Bescheid.

Traurig wollte Conrad weggehen; doch, ein halb freundlicher Blick von Lisen machte, daß er noch zuletzt fragte: warum sie denn eigentlich ihn so spröde abwiese? und was er für sie thun solle? – »Wundershalber wollen wir doch sehen, ob du etwas für mich thust« sprach Lise: (der Lieblingswidder des Bischofs hatte sich zwischen sie und Conrad gedrängt, und fraß etwas Brod aus ihrer Hand.) »Wenn ich dich nun bäte, mir deinen Harm [301] hier zu geben, daß ich ihn verkaufen könnte?«

Conrad entfiel das Herz. Traurig erwiederte er: Alles in der Welt, nur das nicht! Wenn der Bischof nicht alle Abend meinen Harm futtern kann, so mag ich das Unglück nicht sehen. Nimm dir die besten zehn Schaafe aus der ganzen Heerde, nimm dir alle funfzig die mir gehören: nun den einzigen Widder laß mir! – »Geht ihr! sprach Lise, so seyd ihr Mannsbilder! Geh mir doch mit deinen funfzig Schaafen! So einen kleinen Gefallen willst du, als Bräutigam, mir nicht thun? Das würde mir ein schöner Ehemann wer den, wenn die Flitterwochen erst vorbei sind. Geh doch zu deinem Bischof, und laß ihn den Widder füttern, und du küß ihm unterdeß die Pantoffeln!«

So stritten sie sich lange. Conrad weinte vor Unmuth. Lise gestand ihm endlich, daß sie den Widder für das kleine Häuschen verkauft habe, welches sie sich beide so oft gewünscht hätten, und daß sie ihn abliefern müßte, heute [302] noch, es koste, was es wolle, da sie ihr Wort einmal gegeben habe, und sie keine Lügnerin gescholten seyn wolle; ließ dann einige Thränen fallen, daß ihr nun die einzige so unverhoffte Freude verkümmert sey, sich ein Häuschen kaufen zu können, worin sie beide, mit ihren Kindern, so vergnügt leben könnten; fragte dann wieder: ob denn nicht alle Tage Schaafe stürben? ob sich keins je verliere? ob keins gestohlen würde? ob der Wolf die gezählten Schaafe nicht auch fresse? u.s.w.

Und, es siegte die Liebe. Conrad versprach mit einem Handschlag, ihr noch vor Mittag den Widder abzuliefern; und Lise gab Conrad die Hand darauf, daß sie in vier Wochen seine Frau werden wollte, und vielleicht noch etwas mehr zum Angelde.

Lise wandelte schnell dem Städtlein zu, und Conrad sah' ihr lange starrblickend nach. Die Freuden seiner Verlobung waren sehr getrübt durch den Gedanken an das Verhör bei seinem nicht bloß hochgebietenden, sondern [303] auch gnädigen Herren, in dessen Dienst es ihm bisher so wohl gegangen war, und der des Widders so herzlich sich freute.

Jetzt stand er einsam auf dem Felde, wo Lise getrautet hatte, und sahe, in sich gekehrt, immer starr vor sich nieder. Endlich steckte er seinen Schäferstock in die Erde, hing seinen Rock daran, und setzte seine Mütze oben darauf. Und nun begann eine Reihe von Ein-, oder, wenn man will, von Zwei Gesprächen, zu denen Harm gelegentlich die begleitenden Bewegungen machte.

»Gott grüß Euch, Herr Bischof!« – Guten Abend, Conrad! Wo ist denn Harm? – »Harm? Herr Bischof! – ja, der hat sich verloren! – der hat sich wahrlich verlaufen!« – (Harm drängte sich eben jetzt, als Conrad so sprach, zwischen seinen Füßen durch, um das Wunderding zu beaugen, vor dem sein Herr sich so bückte.) – »Conrad! Conrad! (mir Kopfschütteln) der ist zum Brode gewöhnt! Harm wird sich nicht verlaufen! – Das geht nicht!« –

[304] Ein anderes Zweigespräch Conrads, worin er dem Bischof den Widder als gestohlen vorstellen wollte, unterbrach Harm durch einen kräftigen Stoß, wodurch er seine Verbeugungen erwiedern wollte. »Der läßt sich so leicht nicht greifen! rief Conrad, das geht nicht!«

So sprach er noch ein halbes Stündchen mit sich, und endigte immer mit Kopfschütteln, und mit dem: »Conrad, das geht nicht! – Und doch, setzte er dazu, muß ich noch vor Mittag den Widder abliefern; denn, ich hab's ja versprochen; und, wenn ihn Lise nicht ablieferte, da sie ihn schon verkauft hat, so wäre sie eine Betrügerin, und könnte mein Weib nicht seyn!«

Endlich sprang er vor Freuden in die Höhe, und rief: »Ehrlich währt am längsten! – das geht! das geht!« Er zog seinen Rock an, setzte seine Mütze wieder auf, und trieb seine [305] Heerde weiter. Und noch vor Mittag überlieferte er, mit einem tiefen Seufzer, seinen lieben Harm an Lisen, die ihn gegen das Kaufgeld des Häuschens umtauschte, ohne über den Zusammenhang der Dinge zu grübeln.

Und es ging! – Dieser Abend war zu Conrads Ehrlichkeitsprüfung bestimmt, ohne daß er es ahnete. Beide Bischöfe erwarteten, bei ihrem Nachttrunk, auf dem Schloßhofe den Schäfer, der ihre Wette entscheiden sollte. Beiden schlug das Herz, und sie sprachen wenig; denn, jeder wollte lieber dem andern die Ehre der Erbauung des großen Weinfasses überlassen. Peter aber, der heimliche Rath, war sehr getrost; und, innerlich lachend, freute er schon zum Voraus sich seines Sieges, und seines künstlich ausgesponnenen Entwurfs. Denn er hatte ja den Lieblingswidder des Bischofs in dem Stall; und, wie hätte Conrad es wagen können, hier die reine Wahrheit [306] zu sagen, wodurch er sich den Zorn und die hohe Ungnade seines gestrengen Herrn zuziehen mußte, und auf immer sein Brod verlohr!

So dachte Peter, der heimliche Rath. Indeß trieb Conrad seine Heerde queer über den Schloßplatz, und vor den Bischöfen vorbei. Peter schmunzelte; denn er glaubte Schüchternheit und Herzensangst auf Conrads Gesichte zu lesen.

Diesmal sprang kein Widder lustig zum Bischof Heinrich, um sich füttern zu lassen. – »Wo ist Harm?« fragte der Bischof mit bedeutendem Blick. Conrad antwortete mit fester Stimme: »Den hab' ich verkauft! – Da ist es heraus! – Ehrlich währt doch am längsten! Das ist mein Wahlspruch Herr Bischof, wie ihr wißt, und das soll auch, will's Gott, mein Spruch bleiben.«

Peters Gesicht verlängerte sich merklich. Heinrich aber rief, mit finstrer Miene und drohender [307] Stimme: »Warum hast du den verkauft, ohne es mir zu sagen? Das Zehnfache hätte ich dir bezahlt! Weißt du nicht« –

»Hört mich, Herr Bischof, sprach Conrad. Mich hat Lise verführt, wie einst Eva den Adam. Und die Lise hat ein Schelm verführt, wie der böse Feind die Eva. Giebt er mir meinen Harm wieder, so nenn' ich ihn nicht.« (Peter drehte, voll Ingrimms, sich um; denn, fort waren seine blanke Batzen, und die Kappe von Scharlach, und nun gar auch der Widder, der die Zeche sonst hätte bezahlen müssen.) »Lise hatte den Harm verkauft, ohne es mir vorher zu sagen; sonst wäre es nimmer geschehen. Aber so mußte ich ihn wohl hergeben, so sauer es mir auch wurde. Denn sonst hätte sie ja gelogen, und – sie ist nun mein Weib! – Das ist die reine Wahrheit Herr Bischof. Mit mir macht nun, was ihr wollt. Gethan ist gethan! aber nur kraft die Lise nicht. Ein [308] schwaches Geschöpf ist bald von einer Schlange verführt.«

Bischof Heinrich wollte schmählen. Aber, der fremde Bischof sprach, mit einem finstern Seitenblick auf Peter, der fortschlich: »Ich habe die Wette verlohren! Das war die Probe.«

Und, Bischof Heinrich schmählte nicht. Ihn tröstete die Freude der gewonnenen Wette; aber mehr als des Weinfasses, freute er sich der Ehrlichkeit seines Conrads; auch fühlte er, was Liebe vermag.

Ja, riefen beide Bischöfe, ehrlich währt doch am längsten! Und Bischof Heinrich sagte: »zum Lohne deiner Ehrlichkeit will ich die Hochzeit dir ausrichten, und die halbe Heerde soll dein seyn! Und, setzte der fremde Bischof hinzu, deinen lieben Harm sollst du auch wieder [309] bekommen, und das Häuschen doch behalten, zum Pathengeschenk für das erste Kind.

Und der Bischof, der die Wette verlohr, ließ das große Weinfaß bauen, das sonst so manchen Reisenden nach Grüningen lockte, und das jetzt auf den Spiegelsbergen bei Halberstadt liegt.«

Fußnoten

1 Von dieser jüngsten unter den hier aufgestellten Volks-Sagen (ihre Beziehungs-Periode ist das Ende des sechzehnten Jahrhunderts) finden sich einige Bemerkungen in der Einleitung, da sie, sowol in Absicht des Inhalts als der Darstellung, sich bemerkbar von den meisten der übrigen Volks-Sagen auszeichnet.

24. Ueber die Hühnen- und Zwerg-Sagen.

[312] Ueber die Hühnen- und Zwerg-Sagen.

Die Hühnen- und die Zwerg-Sagen haben ohnstreitig, unter allen ächten nordischen Volks-Sagen, die allerältesten Beziehungs- und Bildungs-Perioden, obgleich die letzteren jetzt schwer zu bestimmen sind.

Die meisten der übrigen uns erhaltenen norddeutschen Volks-Sagen beziehen sich auf die Räuber- und Fehde-Scenen des 11ten bis 15ten Jahrhunderts. Als Beziehungs-Periode der Hühnen- und Zwerg-Sagen aber können wir wohl nur (wenn es uns um die Auffindung einer denkbaren Veranlassung zu thun ist) den frühern Zeitraum annehmen, in dem, in mehreren Ländern Europa's, und [313] auch in dem Hartingau, zwei, an Größe und Körperstärke verschiedene, Nationen wohnten; von denen die größere allmählig die kleinere unterjochte, und sie zwang, sich in Hölen und unzugängliche Felsklüfte zu verstecken, und endlich, bis auf einzelne Individuen, auszuwandern.

Die meisten dieser Sagen scheinen sich auf das fünfte bis zehnte Jahrhundert unserer Zeitrechnung zu beziehen, und gehen also um mehrere Jahrhunderte über den Zeitraum hinaus, in welchem auch in Nord-Deutschland nur eine Nation sich darstellt; welche aber, in den Sagen aus dem Mittelalter, (so wie das griechische Volk bei Homer) in zwei Klassen unterschieden erscheint. Diese Klassen derselben Nation sind: die der Unterdrücker, welche, durch Jagd und Raub gepflegt und gestärkt, sich zu einer auszeichnenden Größe erhoben, und die der Unterdrückten, welche, zu lebenswierigen harten Arbeiten, bei dürftiger Pflege und Kost, gezwungen, sich erst nach [314] mehreren Revolutionen, aus der Sklaverei allmählig loswinden konnten.

Wer die norddeutschen Volks-Sagen in historischer Hinsicht benutzen, oder sie auch nur nach der Zeitfolge ordnen will, muß diese verschiedene Lagen, in denen sich fast alle Nationen, auf ihren Bildungs-Stuffen befanden, nicht übersehen, und sich nicht durch scheinbare Aehnlichkeiten irre leiten lassen. Denn, wenn auch, in den mittleren Sagen, der Unterschied körperlicher Größe der Edeln und der Unedeln bei derselben Nation, oft dichterisch vergrößert ist, so daß jene zu Riesen emporzusteigen, und diese zu Zwergen zusammenzuschrumpfen scheinen; so athmet doch, in jenen ältern Sagen, welche auf zwei verschiedene Völker, die dasselbe Land zugleich bewohnten, hindeuten, ein anderer Geist.

Erläuternde Beispiele von zwei an Größe und Körperbau, so wie gemeiniglich an Sitten und Sprache, ganz verschiedenen Völkerstämmen, als Bewohnern desselben Landes, [315] bieten uns, in Absicht der neuern Periode, viele Beschreibungen der Küsten vom südlichen Asien, und der benachbarten Inseln, dar. Und, die Darstellungen griechischer Dichter von den Centauren, Cyklopen, Lästigoniern, den Himmel stürmenden Giganten, und von den Pygmäen, zeigen uns, wie, schon vor Jahrtausenden, sich, aus den Ueberlieferungen solcher Bemerkungen, Sagen und Mythen bildeten.

Die ächten alten Zwerg-Sagen des Nordens erinneren an ein Zwerg-Volk, das wesentlich verschieden ist von den, durch Zufall oder absichtlich, verkrüppelten Zwerg-Menschen, welche in den Romanen des Mittelalters, vor den Burgen stehen, oder bei Prunkmahlen aufwarten, und welche noch im 16ten und 17ten Jahrhundert zum Hofgepränge gerechnet wurden.

Daß die eigentlichen Zwerg-Sagen, in ihrem unterscheidenden Charakter, z.B. dem Verschwinden und dem plötzlichen Erscheinen [316] der Zwerge, und ihrem Auffenthalt in Hölen und unterirdischen Wohnungen, schon vor dem zwölften Jahrhundert vorhanden waren, sehn wir besonders aus den Gedichten des schwäbischen Zeitraums, wo sich mehrere Spuren von dem bald verschwindenden, bald sichtbar werdenden Zwerg-Volk finden. So führt uns, unter andern, das»Heldenbuch« von Wolfram von Eschenbach und Heinrich von Ofterdingen vor: »den bald sichtbaren bald unsichtbaren Zwerg-König Elberich, der mit der Königin der herrschenden Nation einen Sohn erzeugt« und an einer andern Stelle: »den kleinen, oder Zwerg-König Laurin, der sich durch eine Nebelkappe unsichtbar machen konnte, welcher mit vielen andern Zwergen in einem ausgehohleten Berge, der viele Schätze und Kostbarkeiten verbirgt, wohnt, mit mehreren edeln Rittern mannhaft kämpft, eine schöne Jungfrau aus der Oberwelt entführt und zu seiner Gemahlin macht« u.s.w.

[317] Daß die Verschiedenheit der Körpergröße der beiden in demselben Lande wohnenden Völker, in den Sagen, mit solcher Uebertreibung ausgemahlt wird, erklären wir uns wohl am besten, theils aus der Jugendkraft der ungezügelten Phantasie eines sich emporarbeitenden Volks, 1 und theils als Versuche, die Aufthürmung mancher Felsenmassen zu erklären, welche zum Theil durch Kunst geordnet scheinen, und doch von fünf- bis sechsfüssigen Menschen nicht bewegt werden können. Zu manchen dichterischen Ausmahlungen gaben auch [318] vielleicht die Dunstgestalten Veranlassung, welche die Wolken in Gebirgs-Gegenden, in höchst sonderbaren Carrikaturen, zeigen. Viele Stellen in Oßians Gedichten, und mehrere Schilderungen von den Erscheinungen der nordischen Götter deuten sichtbar auf Nebel- und Wolken-Phäno mene. Man denke, um das Entstehen solcher Darstellungen sich zu erklären, z.B. an das Phänomen, welches das Brocken-Gespenst bildete, an die Geister erschlagener Helden, bei den ersischen Dichtern, welche in Berghohen Gestaltungen erscheinen, unabsehbare Speere aufbäumen, und unermeßliche Wunden zeigen, denke an Homers Beschreibung vom Orion:


»Der einher wandelt auf der Erde
Und sein Haupt in den Wolken verbirgt«
Und wie der ungeheure Schatten desselben
»Drängende Thier' hinscheuchet hinab die Asfodelos-Wiese,
Die er selber getödtet auf einsam bewanderten Bergen,
Seine Keul' in den Händen, von Erz unzerbrechlich geschmiedet.«

[319] Daß eine nationelle Verschiedenheit von einigen Zollen leicht, in dem Munde des größern Volks, zu verächtlichen Schilderungen des kleinern Volks, und zu Uebertreibungen Veranlassung geben konnte, lernen wir z.B. aus Cäsar, der uns erzählt: 2 »Das die Celten beständig über die Römer, wegen ihrer kleinen Figur, lachten und spotteten, und, unter andern fragten: woher solche Zwerge die Hände und Kräfte nehmen wollten, die erbauten Thürme fortzubewegen?« u.s.w. Und doch betrug der Unterschied der nationellen Größe zwischen den Celten und Römern, schwerlich über 6-9 Zoll.

Denken wir uns nun ein Volk von ausgezeichneter Körper-Größe, das ein kleineres Volk aus seinem Lande verdrängt hatte; sollte nicht den Enkeln der Sieger die besiegte und zurückgedrängte Nation, deren Ueberreste kaum an das Tageslicht zu kommen wagten, als ein [320] Zwerg-Volk, die Sieger aber als Riesen erscheinen? Sehn wir doch wohl noch jetzt, auf den Denkmahlen der Vorzeit, den besiegten Wittekinn kaum die Knie seines Siegers Karl erreichen. Und so wird es uns nicht befremden, die Sagen, welche die Jugendkraft der Phantasie schuf, etwas stark abweichend von der prosaischen Darstellung zu finden, welche in einem viel spätern Zeitraum die herrschende wurde.

Wir werden bei den Zwergen des Nordens an die Sagen und Darstellungen aus der griechischen Vorwelt denken, wie die Pygmäen mit Kranichen förmliche Kriege führten, und bald siegten, bald besiegt wurden; bei den Rossen der Hühnen, welche tausendfüßige Abgründe überspringen, an Homers Schilderungen von den Rossen der Götter, »die in einem Sprung den Raum überschreiten, den ein Mann, sitzend auf dem vorragenden Fels und ausschauend auf das Meer, überblickt« 3 und [321] bei den hundertfüßigen Hühnen und Hühninnen 4 in den nordischen Sagen, an die hundertfüßigen Titanen in den alten griechischen Mythen, und an Homers Schilderung des Otos und Efialtes:


– »Im neunten Jahr, da maß neun Ellen die Breite
Ihres Rumpfs, und die Höhe des Haupts neun mächtige Klaftern.
Ja die Unsterblichen selbst bedroheten beid', auf Olympos
Feindlichen Kampf zu erregen, und tobendes Schlachtengetümmel,
[322]
Oßa zu höhn auf Olympos gedachten sie, aber auf Oßa
Pelions Waldgebirg', um hinauf in den Himmel zu steigen,
Und sie hättens vollbracht, wenn der Jugend Ziel sie erreichet.
Aber sie traf Zeus Sohn, den die lockige Eos geboren,
Beide mit Tod, eh' ihnen die Erstlingsblum' an den Schläfen
Aufgeblüht, und ihr Kinn sich gebräunt von schönem Gekräusel.« 5

In dem dichterischen Zeitraum, der einige Jahrhunderte nach dem allmähligen Verschwinden der Periode des Despotismus und der blutigen Fehden einzutreten pflegt, mahlt die aufgeregte Phantasie ausgezeichneter Köpfe unter den Enkeln der Sieger, die historisch-poetischen Ueberlieferungen der Vorzeit ins Große aus. Dann schaft sie Riesen, welche mehrere[323] der gewöhnlichen Menschen, auf ihre Speere gereiht, forttragen, wie aufgereihete Fische; dann Cyklopen, »deren Haupt gleicht waldbewachsenen Vorgebirgen, welche Berge schleudern, die das Meer aufschwellen machen;« 6 dann schaft sie Hühnen, welche gewöhnliche Menschen wie Insekten zusammendrücken, und ganze Heere von Zwergen wegblasen mit ihrem Horn, oder mit ihrem Hauche verwehen. Und eben diese Phantasie verwandelt die kleinere Menschenrace in unsichtbare, und doch dabei mächtige und furchtbare, Zwerge.

Das hohe Alter dieser Gattung von Sagen macht es erklärbar: warum gerade diese so auffallend viel Unzusammenhangendes, und der jetzigen Bildung Wiederschprechendes haben? und, warum das Volk sie nur in ganz vertrauten Cirkeln zu erzählen wagt?

Von den Hühnen-Sagen sind oben schon mehrere dargelegt, auf welche ich hier verweise, [324] z.B. vom Roßtrapp, vom Mägdesprung, vom Hühnenblut. Nun mögen noch einige Zwerg-Sagen aus dem Hartingau, oder vielmehr Bruchstücke derselben, hier folgen, um das Obenangedeutete näher darzustellen, und wegen der historischen Ansicht, welche sie darbieten.

Fußnoten

1 Man vergleiche z.B. folgende Stelle des Heldenbuchs:

»Den Held begrif syn grimmer zorn,

Do er also in banden hieng,

Ein dampf im von dem munde gieng,

Der verbrandt im syne bandt« u.s.w.

Und in demselben Buch, die Beschreibung des Wurms, der einen Löwen ins Maul und einen edeln Ritter unter seinen Schweif nimmt, und so mit ihnen über Berg und Thal rennt. – Auch in der, uns vom Livius erhaltenen, Volks-Sage vom Zweikampf des Manlius Torquatus mit einem Gallier, wird dieser zu einem Berg hohen Riesen, der den kleinen Römer zusammen zu drucken droht.

2 Vom gallischen Kriege B. 2. Kap. 30.

3 S. Iliade 5. 770 ff.

4 Diese Höhen-Bestimmung der Hühnen, welche in den ächten nordischen Volks-Sagen das Gegenstück der Zwerge sind, ergiebt sich z.B. aus dem Sprunge, welches das Roß der Hühnin, in der Sage vom Roßtrapp machte, aus der Sage vom Hühnen-Blut, und besonders aus der vom Mägdesprung, da die Fußstapfen der springenden Hühnin, die daß Volk noch jetzt zeigt, auf 60-80 Fuß von einander entfernt sind, welches auf eine Höhe von mehreren hundert Fußen hindeutet, welche die dichterische Phantasie dem Hühnen-Mädchen gab.

5 Odyßee 11, 310. ff

6 S. Odyßee 9 und 10.

I. Zwerg-Sagen auf der Süd-Seite des Harzes.

1.

»Die kleinen Hölen in den Felsen (welche man in einigen Gegenden der Grafschaft Hohenstein häufig findet, und die größtentheils so niedrig sind, daß erwachsene Menschen nur hineinkriechen können, zum Theil aber einen geräumigen Auffenthalt für größere Gesellschaften darbieten), waren einst von Zwergen bewohnt, und heißen von ihnen noch jetzt Zwerg-Löcher.«

2.

»Zwischen Walkenried und Neuhof (in der Grafschaft Hohenstein) hatten einst die Zwerge zwei Königreiche.«

[325] 3.

»Einst bemerkte ein Bewohner jener Gegend, daß seine Feldfrüchte alle Nächte beraubt wurden, ohne daß er die Thäter entdecken konnte. Endlich ging er, auf den Rath einer weisen Frau, bei einbrechender Nacht, an seinem Erbsenfelde auf und ab, und schlug mit einem dünnen Stabe über dasselbe in die Luft. Es dauerte nicht lange, so standen einige Zwerge leibhaftig vor ihm. Er hatte ihnen die Nebelkappen abgeschlagen, die sie unsichtbar machen. Zitternd fielen die Zwerge vor ihm nieder, und bekannten: daß ihr Volk es sey, welches die Felder der Landesbewohner beraube, wozu aber die äußerste Noth sie zwänge.«

»Die Nachricht von den eingefangenen Zwergen brachte die ganze Gegend in Bewegung. Das Zwerg-Volk erbot sich endlich durch Abgeordnete, sich und seine gefangnen Brüder zu lösen, und dann auf immer das Land zu verlassen. Doch, die Art des Abzuges erregte neuen Streit. Die Landesbewohner [326] wollten die Zwerge nicht mit ihren gesammelten und versteckten Schätzen abziehen lassen, und das Zwerg-Volk wollte bei seinem Abzuge nicht gesehen seyn. Endlich kam man dahin überein, daß die Zwerge über eine schmale Brücke bei Neuhof ziehen, und daß jeder von ihnen, in ein dorthin gestelltes Gefäß, einen bestimmten Theil seines Vermögens, als Abzugs-Zoll, werfen solle, ohne daß einer der Landesbewohner zugegen wäre. Dies geschah. Doch einige Neugierige hatten sich unter der Brücke versteckt, um den Abzug der Zwerge wenigstens zu hören. Und so hörten sie denn viele Stundenlang das Getrappel der kleinen Menschen; es war ihnen, als wenn eine sehr große Heerde Schaafe über die Brücke ging.«

4.

»Seit dieser letzten großen Auswanderung des Zwerg-Volks, lassen sich nur selten einzelne Zwerge sehen. Doch, zu den Zeiten der Elterväter, stahlen zuweilen einige in den Berghölen zurückgebliebene Zwerge, aus den [327] Häusern der Landesbewohner, kleine kaum geborne Kinder, die sie mit Wechselbälgen vertauschten.«

5.

»Auch an den Sümpfen, den kleinen unterirrdischen Seen, 1 Erdfällen u.s.w., wohnten sonst kleine Menschenähnliche Gestalten. Sie hießen Nixe.«

»Einst holte ein Nix des Nachts die Hebamme aus einem Dorfe, und brachte sie, unter großen Versprechungen, zu der Wasservertiefung, wo er mit seinem Weibe wohnte. Er führte sie in seine unterirrdische Behausung herab; und die Hebamme verrichtete ihr Amt. Der Nix belohnte sie reichlich. – Ehe sie aber wegging, winkte ihr die Kindbetterin, und klagte ihr heimlich, mit einem Thränenstrom, daß der Nix das neugeborne Kind erwürgen würde. Und wirklich sahe die Hebamme, einige Minuten nachher, auf der [328] Oberfläche des Wassers, einen blutrothen Strahl. Das Kind war ermordet.«

Fußnoten

1 Z.B. an der Kelle, unweit der Werne im Hohensteinischen.

II. Zwerg-Sagen auf der Nord-Seite des Harzes.

1.

»Einst wohnten viele tausend Zwerge in den Fels-Klüften, und in den noch vorhandenen Zwerg-Löchern 1. Aber, nur selten erschienen sie den Landesbewohnern in sichtbarer Gestalt; gewöhnlich wandelten sie, durch ihre Nebelkappen geschützt, ungesehen und ganz unbemerkt unter ihnen umher.«

»Manche dieser Zwerge waren gutartig, und den Landesbewohnern, unter gewissen Umständen, sehr behülflich; die z.B. bei Hochzeiten und Kindtaufen, mancherlei Tischgeräthe aus den Hölen der Zwerge erborgten. [329] Nur durfte sie niemand zum Zorn reizen; sonst wurden sie tückisch und bösartig, und thaten dem, der sie beleidigte, allen möglichen Schaden.«

Fußnoten

1 Es verdiente vielleicht einige Nachforschungen, wie weit dergleichen Zwerg-Löcher von dem Volk gezeigt werden? – Bei dem magdeburgischen Städtchen Seehausen zeigt man noch dergleichen Zwerg- oder (wie man sie dort auch nennt) Kröppel-Löcher.

2.

»In dem Thal zwischen Blankenburg und Quedlinburg bemerkte einst ein Becker, daß ihm immer einige der gebacknen Brodte fehlten; und doch war der Dieb nicht zu entdecken. Dieser beständig fortdauernde geheime Diebstahl, machte, daß er allmählich verarmte. Endlich kam er auf den Verdacht, daß die Zwerge Ursach an seinem Unglück seyn könnten. Er schlug also mit einem Geflechte von schwanken Reisern so lange um sich her, bis er die Nebelkappen einiger Zwerge traf, die sich nun nicht mehr verbergen konnten. Es wurde Lärm. Man ertappte bald noch mehrere Zwerge bei Diebereien, und nötigte endlich den ganzen Ueberrest des Zwerg-Volks auszuwandern.«

»Um aber die Landeseinwohner einigermaßen für das Gestohlne zu entschädigen, und [330] zugleich die Zahl der Auswandernden überrechnen zu können, wurde auf dem jetzt sogenannten Kirchberg, bei dem Dorf Thale, wo sonst Wendhausen lag, ein großes Gefäß hingestellt, worin jeder Zwerg ein Stück Geld werfen mußte. Dieses Faß fand sich, nach dem Abzuge der Zwerge, ganz mit alten Münzen angefüllt. So groß war ihre Anzahl.«

3.

»Das Zwerg-Volk zog, über Wahrnstedt (ein Dorf unweit Quedlinburg) immer nach Morgen zu. Seit dieser Zeit sind die Zwerge aus dieser Gegend verschwunden. Nur selten ließ sich seit dem, hier und da, ein einzeler Zwerg sehen.«


So sind die Zwerg-Sagen dieser Gegend beschaffen, welche aber nicht bloß auf die genannten Orte sich einschränken, sondern auch an andern Orten erzählt werden, mit kleinen lokalen Verschiedenheiten, doch so, daß jene Grundzüge von dem Verhältniß des Zwerg-Volks [331] zu den eigentlichen Landesbewohnern, von seinem versteckten Auffenthalt in dem Lande, und der Auswanderung desselben in einer sehr entfernten Periode, immer durchschimmern. – Zur Vergleichung mögen noch ein Paar Zwerg-Sagen ausDardesheim, einem Städtchen zwischen Halberstadt und Braunschweig, hier stehen.

»Dicht an der nordöstlichen Seite des Städtchens ist ein Quell des schönsten Wassers, welcher der Smans (Leßmans) Born heißt, und aus einem Berge hervorquillt, in dem in der Vorzeit die Zwerge wohnten. – Wenn die ehmaligen Einwohner der Gegend ein Feierkleid, oder an einem Familienfest ein seltneres Geräthe gebrauchten, so gingen sie vor diesen Zwerg-Berg, klopften dreimal an, und sagten mit deutlicher und vernehmlicher Stimme ihr Anliegen. Und – ›Frühmorgens, eh die Sonn' aufgeht, Schon alles vor dem Berge steht.‹ – Die Zwerge fanden sich hinlänglich belohnt, wenn ihnen etwas [332] von den festlichen Speisen vor dem Berg hingesetzt wurde.«

»Den Zwerg-Berg zieht, auf der östlichen Seite, ein Stück Acker hinan. Dieses Feld hatte einst ein Schmidt, Namens Riechert, mit Erbsen bestellt. Er bemerkte, als sie am wohlschmeckendsten waren, daß sie häufig, ausgepflückt wurden. Um dem Erbsendieb aufzulauern, baute sich Riechert ein Hüttchen auf seinen Acker und wachte Tags und Nachts dabei. Am Tage entdeckte er keine Veränderung. Aber alle Morgen sah' er, daß, seines Wachens unerachtet, in der Nacht sein Feld bestohlen war. Voll Verdruß über seine mißlungene Mühe, beschloß er, seine noch übrigen Erbsen auf dem Acker auszudreschen. Mit Tages-Anbruch begann Schmidt Riechert seine Arbeit. Aber, noch hatte er nicht die Hälfte der Erbsen ausgedroschen, so hörte er ein klägliches Schreien. Beim Nachsuchen fand er auf der Erde, unter den Erbsen, einen der Zwerge, dem er mit seinem Dreschflegel den Schädel [333] eingeschlagen hatte, und der nun sichtbar war, da er seine Nebelkappe verloren hatte. – Der Zwerg floh' eilends in den Berg zurück.«

»Doch störten dergleichen kleine Streitigkeiten das gute Vernehmen des Zwerg-Volks und der Landeseinwohner nur auf kurze Zeit. Aber die Zwerge wanderten endlich doch aus, weil ihnen die neckenden Spöttereien mancher Landesbewohner unerträglich waren, so wie der Undank bei manchen erwiesenen Gefälligkeiten. – Seit der Zeit sieht und hört man keine Zwerge mehr.«


Doch genug der Beispiele dieser nordischen Zwerg-Sagen, welche, auf den ersten Anblick, kaum Beachtung verdienen, oder als Spiele einer verschrobenen Phantasie betrachtet werden könnten. Aber auch diese sonderbaren Sagen können dem Forscher wichtig seyn, und vielleicht, hier und da, eine Lücke in der Urgeschichte unsers Vaterlandes ausfüllen, [334] wo uns schriftliche Nachweisungen verlassen. Versuchen wir also, ob sich nicht eine denkbare Auflösung dieser so ganz isolirt dastehenden Sagen darbietet.

Die historischen Data, welche sich aus diesen Zwerg-Sagen, nach Wegdenkung dessen, was sich dem Forscher als dichterische, oder doch willkührliche, Einkleidung darstellt, errathen lassen, scheinen mir folgende zu seyn.

1) In einer sehr entfernten Periode der Vorzeit waren die südlichen Grenzen des Harz-Gebirges, eine Zeitlang, von einer Nation bewohnt, die sich von dem nachmals als herrschend dastehenden Volk, durch Kleinheit des Körperbaus und verhältnißmäßig mindere Stärke, auszeichnete. – Diese »Kleinheit und mindere Stärke« muß aber in nationeller, nicht individueller Beziehung gedacht werden; so daß auch dem kleinern Volk seine ausgezeichneten Helden verbleiben, welche den Kriegern des größern Volks ohne Furcht entgegentreten konnten. Denn, wir finden zuweilen die Führer [335] des Zwerg-Volks, in den alten deutschen Rittergedichten, mit den Hühnen im Kampf, und nicht immer als Besiegte.

2) Diese kleinere Menschenart wurde von der größern besiegt, unterjocht, und zuletzt immer mehr in die Gebirgsthäler zurückgedrängt, und genötigt, sich hinter Felsen, in Hölen, Erdschluchten, an unterirrdischen, von Felsengewölben überdeckten, kleinen Seen, u.s.w. zu verstecken. Nur des Nachts, und in der Dämmerung des Nebels (darauf scheinen die in diesen Sagen so oft vorkommenden Nebelkappen hinzudeuten) wagten es endlich diese Zurückgedrängten ihre Schlupfwinkel zu verlassen; um für ihre Bedürfniße zu sorgen. Ihre bedrängte Lage machte sie zu Dieben und zu nächtlichen Räubern. Vielleicht verwilderten einzelne Mitglieder dieses Völkerstamms so weit, daß sie selbst Kinderräuber und Kindermörder wurden.

3) Die herrschende größere Nation trieb endlich die Ueberreste dieses kleinern Völkerstamms [336] über das Harzgebirge herüber, oder ließ sie, der Bedrängungen müde, entwischen, doch so, daß sie den größten Theil ihres Vermögens zurücklassen mußten.

4) Auf der Nord-Seite des Harzes fand das verdrängte Volk auch nicht lange ruhige Wohnsitze, und es wurde bald genöthigt, Morgenwärts weiter zu ziehen.

Nur einzelne Mitglieder dieses Volks von kleinerer Organisation blieben zurück, und lebten, hier und da, in ziemlich freundschaftlichen Verbindungen mit einzelnen Mitgliedern der herrschenden Nation. – Doch, da die meisten der Zurückgebliebenen auf ähnliche Art lebten, wie die spätern Zigeuner (die noch jetzt in vielen Ländern Europa's in Wäldern umherschleichen, und mehr des Nachts als am Tage sich den Häusern der Landesbewohner nahen,) nämlich von heimlichen Diebereien; so machte dies, theils, daß sie ihren Auffenthalt möglichst versteckten, und sich selten am Tage sehen ließen, theils, daß das herrschende Volk, das [337] ihnen Bösartigkeit und Verstecktheit zuschrieb, auch diese Ueberreste des Zwerg-Volks, hier durch spöttische Behandlung, dort durch immer größere Bedrängung und selbst durch Gewaltthat, zwang, weiter zu wandern.


Noch ein Wort über den muthmaßlichen Zusammenhang der Nixen- und Zwerg-Sagen. Die Aehnlichkeit der Darstellung spricht für ihren Zusammenhang. Die Nixe schildert die Volks-Sage, wie die Zwerge, als Menschenähnliche Wesen, doch von kleinerer, auch wohl unförmlicher Gestalt, die größtentheils ungesehen, an Sümpfen und unterirrdischen Seen sich aufhalten, boshaft und schadenfroh sind, und besonders den Kindern der Landesbewohner nachstellen.

Vielleicht erklärt sich die Sage von den Nixen, welche auf den ersten Anblick kaum einen Schimmer von Wahrheit zeigt, und jene häufig an Kinder gerichtete Warnung, sich vor [338] den Wasserbewohnern, die in den Abgrund ziehen, in Acht zu nehmen, am besten, bei genauer Betrachtung solcher, zum Theil mit Wasser angefüllten, Hölen, als die bekannte und oft besuchteKelle, 1 unweit Elrich, ist.

In einem schauernden Gehölz, das schon durch eine Menge tiefer Craterförmiger Erdfälle, die Aufmerksamkeit des Wanderers auf sich zieht, und Staunen, auch wohl Aengstlichkeit veranlaßt, steigt man eine mehrere hundert Fuß tiefe und steile Schluft mühsam herab, und steht dann, von einem hohen Felsengewölbe, [339] dessen Trümmern in jedem Augenblick herabzustürzen drohen, überdeckt, an einem kleinen unterirrdischen See, dessen Wasser, wie man jetzt, bei dem, durch die zum Theil eingestürzte obere Decke der Höle, von oben einfallenden Tageslicht sieht, sehr rein und durchsichtig, und, bei einer nicht genau zu bestimmenden Ausdehnung in die Länge, von einer nicht sehr beträchtlichen Breite, und sehr ungleichen Tiefe ist. Jenseits des Wasserspiegels zeigt sich ein ziemlich geräumiger, jetzt von herabgestürzten Felsenmassen überdeckter, freier Platz, der einst, als die Höle von oben überwölbt war, einen völlig dunkeln und unentdeckten Zufluchtsort darbot.

Konnten nun nicht manche der zurückgedrängten Menschen sich in solchen Hölen, in welchen theils die graunvolle Dunkelheit, theils ein vorliegender Wasserstrom sie gegen jede Nachforschung sicherte, sich und ihren Raub verbergen? Und wenn nun diese Nachtmenschen allmählig so verwilderten, daß sie zum [340] Theil bis zu Menschenfressern herabsanken, wenn sie zuweilen einzelne Kinder der Landesbewohner, oder Wanderer, die sich in dem unwegsamen Gebirge verirrt hatten, in die dunkeln Hölen schleppten, wo sie verschwanden; konnten dann nicht die seltsamen Nixen-Sagen sich bilden, die jetzt so ohne allen Zusammenhang dastehen? Jenes Verschwinden einzelner Kinder konnte übrigens sehr selten seyn, und doch in der ganzen Gegend Angst und Schrecken verbreiten, und die Phantasie zu wundersamen Dichtungen aufregen.


Nun ein kleiner Versuch einer historischen Enthüllung dieser Zwerg- und Hühnen-Sagen, nach der obigen Darstellung.

Das herrschende, den andern Völkerstamm von kleinerer Körpergröße allmählig zurückdrängende, Volk ist, der Wahrscheinlichkeit noch, das derSachsen, deren Nachkommen noch jetzt den Hartingau bewohnen. Diese [341] Sachsen, so streitig auch ihre Urgeschichte und selbst der Ursprung ihres Namens seyn mögen, zeichneten sich durch körperliche Größe und Stärke aus, und waren, im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung, aus den nördlichen Theilen von Nieder-Deutschland weiter nach Süden vorgedrungen, wo, durch die Wanderungen der Franken, und anderer deutschen Völkerstämme, Wohnplätze erledigt waren. Im Anfangs des sechsten Jahrhunderts nahmen sie das Land auf beiden Seiten des Harzes, und Nord-Thüringen, bis an die Unstrut, in Besitz; nachdem sie, auf die Einladung des ostfränkischen Königs Thiderich, die Thüringer bekriegt, und Schiedungen, Hermansfrieds Burg, erobert hatten.


Aber bald nachher zogen zwanzigtausend Sachsen, mit Aldoin, König der Langobarden, nach Italien; noch mehrere von ihnen verbreiteten sich in den Rheingegenden und im südlichen Deutschland.

[342] Dies gab Veranlassung, daß andere Völker in die Besitzungen der Sachsen auf beiden Seiten des Harzes eindringen konnten. Die zurückgebliebenen, und zum Theil zurückkehrenden, Sachsen konnten geraume Zeit sie nicht von ihren Grenzen abhalten, ob sie gleich, gegen sie, mehrere Vesten, z.B. die Sachsenburg, auf dem Sachsenstein, zwischen Wieda und Neuhof, im Stift Walkenried, und die Sachsenburg an der Unstrut, erbauten. Der Kampf zwischen diesen Völkern dauerte mehrere Jahrhunderte; bis endlich die Sachsen obsiegten, und jene Völker verdrängten.

Zu welcher Nation aber gehörte der Völkerstamm von kleinerer körperlichen Constitution, der den Nachkommen dieser Sachsen als ein Zwerg-Volk erschien?

Entweder (so kann der Forscher, der, wenn Gewißheit nicht zu erreichen ist, das Wahrscheinlichste zusammenordnet, antworten) waren es Sueven. – Für diese Hypothese könnte man als Beweise anführen: 1) daß [343] wirklich, nach dem Abzuge der Sachsen nach Italien, Sueven einen Theil der sächsischen Länder in Besitz nahmen. Daher der Schwaben-Gau (pagus Suevon) zwischen der Bode, Saale und Unstrut. 2) Die schwäbische, oder oberdeutsche Mundart, wodurch noch jetzt die Bewohner einzelner Ortschaften in der Grafschaft Hohenstein sich auszeichnen. 3) Die Namen mehrerer Orte in dieser Grafschaft und in der daran gränzenden goldnen Aue, wel che, durch ihre Endungen auf »ingen« und»ungen« auf oberdeutschen Ursprung deuten, z.B. Bohdungen, Wechsungen, Haferungen, Pitzlingen, Kleysingen, Hörningen u.s.w.

Oder noch wahrscheinlicher waren es Menschen, deren nationelle Größe, wie bekannt ist, der nationellen Größe der ächten Sachsen beträchtlich (d.h. in Prosa, um mehrere Zolle) nachsteht.

Die Slavischen und Wendischen Völker erscheinen schon im vierten Jahrhundert an [344] Deutschlands Grenzen, und sie breiteten sich, bei der Wanderung mehrerer deutschen Nationen, bald über Schlesien, Böhmen, die Lausitz, und über den größten Theil des jetzigen Obersachsens aus – Im sechsten und in den folgenden Jahrhunderten finden wir Sorben-Wenden auf beiden Seiten der Elbe, und sie in beständigem Handgemenge mit den Sachsen, welche ihnen die eingenommenen Wohnsitze streitig machten. So bekriegten z.B. Gero, im achten, und Heinrich der Finkler, im zehnten Jahrhundert, die Sorben-Wenden.

Daß die Zwerg-Sagen am Harz auf diese Wenden deuten, ist wahrscheinlich:

1) Weil das Volk in Niederdeutschland die alten Begräbnißplätze, welche sich, durch aufgerichtete oder in die Erde eingerammte Felsenstücke, auszeichnen, häufiger »Heiden- und Wenden-Kirchhöfe« als Steinbetten, Hühnenbetten, Hühnengräber u.s.w. nennt. – Diese sogenannten Heiden- 2 [345] oder Wenden-Kirchhöfe setzt das Volk in Verbindung mit den Zwerg-Sagen, theils, durch den nachmals vorkommenden Namen: »der Kirchhof der kleinen Leute« theils dadurch, daß es die in jenen Grabmahlen gefundenen Urnen Zwerg-Töpfe nennt.

2) Weil, nach der Erzählung der Chronikenschreiber des Mittelalters, Karl, den die Franken den Großen nannten, nebst verschiedenen sächsischen Heerführern, gegen die Sorben-Wenden, welche die von ihm besiegten und in Schutz genommenen Sachsen zu verdrängen suchten, zu Felde zog, und sie unweit des Harzflusses, die Bode, schlug.

3) Weil mehrere örtliche Benennungen an den ehemaligen Auffenthalt der Wenden auf beiden Seiten des Harzes erinnern; z.B. auf [346] der Süd-Seite, Groß-Wenden und Klein-Wenden, in der Grafschaft Hohenstein, und auf der Nord-Seite, Wende-Fuhrt, unweit Blankenburg, wo, der Sage nach, die Wenden durch die Bode gingen. Eine halbe Meile von da lag ehedem Wend-Haus 3 und Wend-Thal, deren Fluren jetzt den Bewohnern des Dorfs Thale gehören.

4) Weil sich Ueberreste dieses Völkerstamms, in der Nachbarschaft des Hartingaus, selbst bis auf unsre Zeiten, erhalten haben, z.B. die Halloren in Halle. – Auch in andern Gegenden Niedersachsens, wo keine abgesonderten Stämme der Wenden sich durch [347] eigenthümliche Sprache u.s.w. auszeichnen, bemerkt man noch deutliche Spuren, daß einst Wenden dort wohnten, z.B. in der Gegend des magdeburgischen Städtchens Möckern 4.

5) Weil die sächsischen Nationen, so viele Jahrhunderte hindurch, mit dem Namen: »Wenden« einen verächtlichen Nebenbegrif verbanden, und sich kaum jetzt von dieser Ungerechtigkeit gereinigt haben. Als Beweis [348] braucht hier nur angeführt zu werden: daß noch im siebzehnten Jahrhundert und im Anfang des achtzehnten, die in den Gilden aufzunehmenden Personen, in den meisten sächsischen Städten, nicht allein ihre eheliche Abkunft von vier Ahnen beschwören mußten, sondern auch: »das sie nicht von Wendischer Abkunft wären, dergleichen man in ehrlichen Gilden nicht zu dulden pflege« 5.


Da die oben angeführte Sage das Zwerg-Volk, über Warnstedt (oder Wahrnstadt), Morgenwärts seinen Abzug nehmen läßt; so füge ich hier noch einige lokale Bemerkungen hinzu, die vielleicht zu einiger historischen Aufklärung über diesen Gegenstand Veranlassung geben können.

[349] Bei dem halberstädtischen Dorf Warnstedt, das zwischen Thale und Quedlinburg liegt, finden sich zwei Berge, in denen man häufig Gerippe und Menschenknochen, auch zuweilen Urnen, ausgräbt.

1) Auf der Süd-Seite des Dorfs, etwa eine Viertelstunde von dem Dorf Thale (sonst Wend-Thal) und dem ehemaligen Wend-Haus, an dem Felsenriff, den das Volk die Teufels-Mauer nennt, ist ein flacher Berg-Rücken, der jetzt größtentheils in Ackerfeld verwandelt ist. Das Volk nennt diesen Bergrücken:»Der Lüttgen-Kirchhof« d.h. den Begräbnißplatz der kleinen Leute 6.

[350] Die Ackerbesitzer entdecken hier öfters unter der Erde Grabmähler, die aus geraden, doch unbearbeiteten, Felsenplatten zusammengesetzt sind, und einige Aehnlichkeit mit den sogenannten Hühnen-Gräbern haben, die man in mehreren Ländern, auch in Nord-Deutschland, entdeckt hat; nur daß sie den meisten von diesen, theils in Absicht der Größe der Felsmassen nachstehen, theils sich darin unterscheiden, daß die Felsentrümmern nicht in Kreisen um die einzelnen Begräbnißstellen aufgerichtet sind, sondern flach in der Erde liegen, und von ihr überdeckt sind. – In diesen Grabmahlen finden [351] sich Gerippe, oder einzelne Knochen von sehr festgebauten Männern, besonders (in Vergleichung mit unsern jetzigen Beinhäusern) ausgezeichnet große und starke Schädel. An Größe standen also die Männer, denen sie einst angehörten, dem gewöhnlichen Schlag der jetzigen Nachkommen der ehemaligen Sachsen nicht nach; welches aber nicht hindert, daß sie damals, in nationeller Vergleichung »das kleine Volk« genannt werden konnten, da, unter den altsächsischen Helden, Männer zwischen sechs und sieben Fuß wahrscheinlich keine Seltenheiten waren.

Ein solches Grabmahl entdeckte, unter andern, im Jahr 1795, ein Landmann, der einige, durch das Pflügen und durch den Regen allmählich von der sie bedeckenden Erde entblößte, Felsen, in seinem Ackerfelde auf diesem Berg-Rücken, sprengen wollte. Bei genauerer Untersuchung fand er hier mehrere große röthliche Sandsteine, ohne künstliche Bearbeitung. Diese waren senkrecht in die Erde eingegraben, [352] so daß sie ein länglichtes Viereckbildeten. Queer über diesen lagen fünf unbehauene Steinplatten, welche die Grabstätte bedeckten. Die Länge des Grabmahls betrug etwa funfzehn Fuß, die Breite vier Fuß, die Tiefe drei Fuß. In diesem Grabmahl lagen zwei Todten Gerippe, 7 Ueberreste von starken Männerkörpern, mit den Füßen gegen einander gerichtet, das eine nach Morgen, das andre nach Abend, zu liegend. Von Holzkohlen, Asche, Ringen, Opfermessern, Kleidungsstücken fand sich keine Spur. Zur Seite des einen Geripps lag ein schöngearbeiteter Streithammer, von einem sehr festen schwarzen Stein, durch welchen ein rundes Loch mühsam [353] gebort war, in welchem einst die Handhabe befestigt wurde. Ueber dem Haupt eines jeden der Gerippe stand ein völlig leeres, eingehenkeltes Todtengefäß, daß noch die Spuren der ersten Anfänge der Kunst zeigt, von etwa sechs Zoll im Durchmesser; welches man fast lieber für ein Trinkgeschirr, das auf die lange Reise mitgegeben wurde, als für einen Aschenkrug zu halten geneigt seyn dürfte, theils wegen der Form, theils weil keine Spur von Asche sich zeigte, theils weil dieser Art von Begräbniß keine Verbrennung voran ging.

Wäre es nicht so äußerst schwer, die gewöhnlichen Finder solcher Denkmahle dahinzubringen, die gefundenen Gerippe, oder wenigstens die Schädel, sorgsam für künftige Untersuchung aufzubewahren; so könnte vielleicht ein Sömmering oder ein Blumenbach aus der Schädelform entscheiden: ob der hier einst wohnende Völkerstamm celtischen, oder slavischen, oder mongolischen Ursprungs war. (Das Letzte würde auf Hunnen leiten, an welche das Volk, [354] aber ohne nähere bestimmende Gründe, bei den Hühnen-Gräbern oft denkt).

Die abweichende Form der Urnen, welche in diesen Grabmahlen auf der Lüttgen Kirchhof gefunden werden, von jenen Urnen, die sächsischen Völkerstämmen zugeschrieben werden müssen, und welche eine ganz andre Gestalt haben, schon die Anfänge einer mehr vervollkommneten Kunst zeigen, und offenbar zu Aschenkrügen bestimmt sind, so wie man sie auch gewöhnlich mit Asche und halbverbrannten Knochen angefüllt findet, und nie in Verbindung mit Gerippen, lehrt uns wenigstens: daß diese Todtentöpfe einem andern Volk gehören 8.

2) Auf der Nord-Seite des Dorfs Wahrnstedt erhebt sich ein anderer Berg, in welchem [355] die Arbeiter, beim Grand-Ausgraben, oft ganze Haufen von unordentlich untereinander liegenden Menschenknochen und Schädeln finden. Auch diese gehörten einst starkgebauten Männern. – Der Berg heißt der Ding-Berg; wahrscheinlich, weil, im Mittelalter, die ältern Grafen von Reinstein hier von Zeit zu Zeit Gerichts-Tage (Ding) hielten. Diese Bestimmung des Berges erklärt aber die Anhäufung von Menschenknochen nicht, zumal, da in der ganzen Gegend um Wahrnstedt, auf den jetzigen Aeckern, häufig Menschenknochen ausgepflügt oder ausgegraben werden. Viel wahrscheinlicher deutet diese Anhäufung von Menschenknochen auf eine ehemals hier vorgefallne sehr blutige Schlacht. Auch der Name des Dorfs scheint darauf hinzudeuten, zumal, wenn Wahrnstedt aus »Wahrstedt« 9 entstanden [356] seyn sollte, welches mit Schlachtfeld gleichbedeutend, und woraus ohnstreitig das jetzt gebräuchliche »Wahlstatt« entstanden ist.

Zwar wird dieser Ort in der uns erhaltenen Geschichte durch keine denkwürdige Schlacht ausgezeichnet. Aber, wahrscheinlich war auch damals, als jene Knochenanhäufung veranlaßt wurde, noch kein Dorf hier angebaut, und die Schlacht kann in sehr entfernte Zeiten fallen; denn die abhängige Lage der Gegend, und der sandige und kiesigte Boden schützen die Knochen vor der Verwesung.

Dürften wir, nach allem diesem, nicht jene Begräbniße auf »der Lüttgen Kirchhof« in die Zeiten setzen, wo jenes kleiner organisirte Volk, das in der dichterischen Sage zu Zwergen herabsank, noch ungestört in dieser Gegend hausete, diese Knochenaufthürmung aber auf eine [357] Schlacht deuten, die zwischen der zurückkehrenden größern Nation und dem Volk von kleinerer Körper-Größe vorfiel, wodurch dieses genöthigt wurde, seine Wohnsitze zu verlassen? – Vielleicht ist dies die Schlacht, welche, nach einigen Chronikschreibern, Karl in dieser Gegend den Wenden lieferte, die er, bei Timmeroda, unweit Wendefuhrt, zum Stehen brachte.

Fußnoten

1 Woher der Name: Kelle? Etwa von Capella? Wenigstens stand einst bei Bischofsroda unweit der Kelle, eine Kapelle, und die Volks-Sage erzehlt: »daß sonst, an gewissen Tagen des Jahres, ein Priester herabstieg zu dem Wasserstrom in der Tiefe, der Höle, hier ein Crucifix eintauchte, und dem versammelten Volk zurief: ›Kuckt in die Kelle! So kommt ihr nicht in die Hölle!‹ – Aber freilich mögen zwischen dem Auffenthalt jener Nachtmenschen in dieser Gegend und der Erbauung der Kapelle leicht mehrere Jahrhunderte verflossen seyn.«

2 Die Benennung: »Heidenkirchhöfe« erklärt es vielleicht: warum, in den Gedichten des schwäbischen Zeitraums, die Zwerge größtentheils als Zauberer vorkommen? Man dachte sie nämlich, als Heiden, in Verbindung mit bösen Geistern.

3 »Wend-Haus« bedeutet ohnstreitig! »Burg der Wenden« so wie »Sachsenburg« Burg der Sachsen. »Haus« wurde ehedem nur von ausgezeichneten großen und besten Gebäuden, besonders von Burgen gebraucht; so sagte man: Kyff-Haus, statt: Strenburg. – Dieses Wend-Haus erbauten wahrscheinlich die Wenden zu ihrer Vertheidigung gegen die sie immer weiter drängenden Sachsen, welche nach der Vertreibung der Wenden, die Burg in ein Kloster umwandelten.

4 Wäre die, bei sehr vielen Orts-Namen in Nieder-Sachsen bemerkte Endung: »Lewa, oder,Leben« wendischen Ursprungs (wie in Nr. 375 der allgemeinen Literatur-Zeitung, von 1796, angemerkt wird) so wärden die häufigen »Leben« auf beiden Seite des Harzes ein großer Beweis für die langen Wohnsitze der Wenden in diesen Gegenden seyn. – Aber das Wort ist sächsischen Ursprungs, und aus»Lauba« oder »Läube« entstanden, welches einen bedeckten, oder überbauten Platz, Hütte, Wohnung bezeichnet. (So übersetzt Luther, Sirach 14, 26. »Er bringet seine Kinder unter ihr Dach, und bleibet unter ihren Läuben.« – In Schlesien und der Lausitz, nennt man noch jetzt die überbauten Vorplätze der Häuser: Läuben, oder, Löben; aber auch in Hamburg und Bremen u.s.w. ist dieser Name bei gewissen Häusern gebräuchlich.)

5 Aus der Volkssprache kann hier noch die Redensart: »er spricht lucker-wendisch!« statt: er spricht wunderlich! wegen des verächtlichen Nebenbegriffs, der damit verknüpft wird, angemerkt werden.

6 Auffallend ist es, daß das Volk diesen Begräbnißplatz auch »den Mäken-Kirchhof« nennt. – Mädchen-Kirchhof (auf welche Deutung gewöhnlich der Sprachforscher zuerst fällt) kann dies nicht bedeuten, theils, weil man wohl nirgends für Kinder weiblichen Geschlechts, in der Vorzeit abgesonderte Begräbnißplätze findet, theils besonders, weil man in jenen aufgebrochnen Grabmahlen nie Ueberreste von weiblichen oder Kinder-Körpern, sondern immer Gerippe von handfesten Männern, gefunden hat. – Vielleicht leitet dieser Name zur Entdeckung des bestimmtern Namens jenes zurückgedrängten und ausgewanderten Völkerstamms. Vielleicht hat er mit dem Namen »Möckern« womit mehrere Orte in solchen Gegenden, die sonst von Wenden bewohnt wurden, bezeichnet sind, gleichen Ursprung. – Doch ist es auch möglich, daß »Mäken« nur ein provinzieller Ekelname war, den das herrschende Volk von einer auffallenden, stotternden (mäckernden) Aussprache des kleinern Volks entlehnte.

7 Die Bauständigkeit der gefundenen Gerippe beweißt nicht, daß sie nicht acht hundert oder tausend Jahr dagelegen haben konnten. In trocknen Gräbern, zumal am Abhang der Berge, erhalten sich, wie mehrere Beispiele lehren, Gerippe von gefunden Körpern, eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch, ohne zu zerfallen, oder nur merklich zu altern.

8 Stoff zu dergleichen Vergleichungen bietet z.B. die Sammlung von Urnen dar, welche die literarische Gesellschaft in Halberstadt aufbewahrt und immer verwehrt.

9 Wahrscheinlich gab eine ähnliche Schlacht dem »Wehrstedt« von dem in der Einleitung eine Sage steht, den Namen. – Waren die Todten, die, in der Sage, aus ihren Gräbern hervortrochen, um sich gegen den andringenden Feind zu wehren, etwa Ueberreste jenes besiegten und zum Auswandern gezwungenen Volks, die sich in Bergschluchten und Erdlöchern versteckt hatten?


Notes
Erstdruck unter dem Pseudonym Otmar: Bremen (Friedrich Wilmans) 1800.
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TextGrid Repository (2012). Nachtigal, Johann Carl Christoph. Volcks-Sagen. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-5E2D-9