Das andere Klagelied

Wie kömpt es, daß der Herr von allem Ort' und Ecken
Die Tochter Zion doch hat wollen überdecken
Mit seinem starcken Grimm? Er hat die Herrligkeit
Und Ansehn Israels, den Ruhm der alten Zeit,
Vom Himmel abgestürtzt, daß sie nun ewig büsse;
Er hat gar nie gedacht deß Schemels seiner Füsse
Am Tage seines Zorns. Der Herr hat umbgekehrt
Deß Jacobs Wohnungen; hat biß in Grundt verheert
Der Tochter Juda Landt, hat ihre Wäll und Festen,
Darauff sie sich verließ, geschleifft' mit Strumpff und Aesten;
Der starcken Mauren Schutz gemacht der Erden gleich,
Entweihet und geschmäht ihr weites Königreich,
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An ihren Fürsten auch ingleichen sich gerochen.
In tausend Stück hat er dem Israel zerbrochen
Sein Horn und gantze Macht, vor heissem Grimm entbrand,
Hat, als der Feind ankam, die Hülff' und gute Hand
Gezogen hinter sich, hat Feuer angestecket
In Jacob rings umbher und einen Brandt erwecket,
Erwecket einen Brandt, der nichts läst unverzehrt,
Der als ein wildes Thier sich hin und wider kehrt
Und bringet alles hin; hat seinen schnellen Bogen,
Wie ärgste Feinde thun, sehr schädlich angezogen;
Hat seine rechte Hand zu streiten gantz geschickt
Nach Widersacher Art, erwürget und zerstückt,
Was mit Ergetzlichkeit und Anmuth war zu schauen
In Zions schönem Zelt, er hat sie weggehauen,
Der Augen beste Lust, er hat weit außgestreckt
Sein Wüten als die Glut, so Lufft und Wolcken deckt.
Der Herr war wie ein Feind; hat Israels Palläste
Und sie darzu vertilgt, zerstöret ihre Feste,
Der Tochter Juda Hertz' auch hoch und sehr verletzt
Biß auff den letzten Gradt und sie in Leyd gesetzt.
Wie wann ein grimmes Thier in einen Garten reisset,
Wühlt Stämm' und Stauden umb und alle Frucht zerbeisset,
So macht es jetzt der Herr mit seinen Zelten auß;
Er hat die Hand gelegt an sein selbst eignes Hauß,
Sich Zions Feyertag und Sabbath lassen enden,
Die König' in dem Zorn und ihre Priester schenden.
Der Herr hat weit hinweg geworffen sein Altar
Und auch sein Heiligthumb verbannet gantz und gar;
Hat in deß Feindes Hand die Mauren der Palläste
Gelieffert, daß sie da als wie auff einem Feste
Geschrien und gejauchtzt. Der Herr hat ihm gedacht
An Zions Mauren gantz zu weisen seine Macht,
Hat umb und über sie die Richtschnur angezogen
Und nicht eh' abgesetzt, biß daß sie auffgeflogen.
Die Zwinger neigen sich, die Wälle sind nichts werth
Und von den Mauren wird der Boden nun gekehrt;
Die Thore sind versenckt, die Riegel gantz zerbrochen
Und sämptlich abgewürgt; so hat sich Gott gerochen
An ihren Königen und ihrer Fürsten Pracht,
Sie haben nun hinfort gar keinen Fug noch Macht
Zu üben das Gesetz! Er saget den Propheten
Durch kein Gesichte mehr was etwan sey von Nöthen,
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Der Tochter Zion Zier, die Eltesten der Statt
Thun nur den Mund nicht auff und wissen keinen Rath.
Sie liegen hingestreckt zur Erden und bedecken
Ihr graues Haupt mit Staub und kleiden sich mit Säcken,
Das junge Weibesvolck Jerusalems bedenckt
Die Angst und hat den Kopff tieff unter sich gehenckt.
Mein' Augen beyde sind wie blutroth, daß man meinet
Es sey ein rohes Fleisch, sie sind fast außgeweinet,
Daß mir das Eingeweyd' hiervon zerbersten wil
Und daß die Leber mir für meine Füsse fiel',
Als ich die Traurigkeit und Jammer sah' umbfassen
Die Tochter meines Volcks, als Seugling' auff den Gassen
Und Kinder wegen Speis' und Tranck verschmachtet sind.
Wie kläglich war es doch, wann so ein liebes Kind
Zu seiner Mutter sprach: Last ihr mich Hungers sterben?
Ist gar kein Brod noch Wein? Sie musten doch verderben
Wie der, so tödlich wund, und gaben ungespeist
Der Mutter in dem Arm' auff ihren jungen Geist.
O Kind Jerusalems, wem sol ich dich vergleichen,
O Jungfrau, Zions Kind, wem nenn' ich, dem du weichen
An Pein und Schmertzen kanst, wen stell ich immer für,
Dem es noch ärger hat gegangen, als jetzt dir?
Dein Schaden ist so groß, als sich von allen Theilen
Der Welt die See erstreckt. Mein Kind, wer soll dich heilen?
Was der Propheten Volck dir fürgepredigt hat,
Ist Blindwerck und Geschwätz', es hat die Missethat
Dir nicht geoffenbahrt, sonst werest du entgangen
Dem Uebel, das dich trifft, und legest nicht gefangen.
Sie haben dir Gewäsch und Lügen fürgesagt
Und durch ihr falsches Wort zum Land hinauß gejagt.
Kein Mensch ist, der dich sieht, der in die Handt nicht klopffe
Und pfeiffe dich nicht an und wincke mit dem Kopffe
Dir, Kind Jerusalems. Ist diß die schöne Statt,
Von der ein jederman bißher gesaget hat,
Sie sey deß Landes Lust, die Königinn der Erden,
Deß Himmels Nachbarin, der nichts wird gleiche werden,
Nichts gleiche war, noch ist. Jetzt freut der Feind nun sich,
Pfeifft höhnisch, macht ein Maul, bleckt alle Zähn auff dich
Und spricht: Noch ist sie fort, wir haben es erlanget,
Wir haben sie vertilgt, die vor so sehr gepranget.
O den gewünschten Tag! Der Herr hat so gethan,
Als wie er längst gewollt; er hat dich umb und an
Verwüstet und verheert, sein Wort recht war zu machen,
Er hat den Feind erfüllt mit grosser Lust und Lachen,
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Sein stoltzes Horn erhöht. Ihr Hertz und gantzer Sinn
Schrey' auff deß Herren Hülff' in ihren Nöthen hin.
O Mau'r, betrübte Mau'r der Tochter Zion, klage,
Laß fliessen als ein Quell die Thränen Nächt' und Tage:
Schrey' allzeit, schone dein und deiner Augen nicht,
Steh' auff, steh' auff und schrey eh' als der Tag anbricht;
Steh' auff in Mitternacht, wann die Gestirne sincken,
Und wann das erste Licht wil auff den Hügeln blincken,
So schütte dein Hertz' auß für dein gerechten Gott
Als einen starcken Strom; heb' auff in deiner Noth
Die Hände gegen ihm umb deiner Kinder willen,
Die ihren Hunger jetzt nicht haben mehr zu stillen,
Die schmächtig und halb todt dir im Gesichte gehn
Und einem Schatten gleich' an allen Gassen stehn.
O drey mal grosser Gott, schau her doch, nim zu Hertzen
Und dencke, wen du schlägst mit solchen grossen Schmertzen.
Gestehst du, was ein Weib auß Hungersnöthen thut?
Ist ihres Leibes Frucht, ihr Kind, ihr Fleisch und Blut,
Kaum einer Spannen lang? Ach, soll man die Propheten
Und Priester deines Volcks im Heyligthumbe tödten?
Die Gassen waren gantz mit Leichen vollgefüllt
Durch beyden Alters Volck: manch junges Weibesbild,
Und meine Jüngling' auch sind durch das Schwerd gefallen,
Du hast den heissen Zorn so lassen bey dir wallen,
Hast alles hingewürgt und weit und breit umbher
Beruffen meinen Feind, als wann ein Festtag wer',
Auff daß ja niemand nicht vermöchte zu entrinnen.
Die so ich hab ernehrt, die mein Gemüt und Sinnen
Mehr als sich selbst geliebt, für die ich Tag und Nacht
Getreue Sorge trug, sind feindlich umgebracht.

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TextGrid Repository (2012). Opitz, Martin. Das andere Klagelied. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-63D3-C