[148] Die Schwalbe und der Storch

Die Schwalbe.

Freund, klappre nicht, und laß uns fliehn,
Sieh dort am schwarzen Kirchhofthore
Den Jäger mit gespanntem Rohre,
Ein leiser Druck, so sind wir hin!
Der Storch.

Ich flöhe, wär ich eine Lerche,
Ein Rebhuhn oder ein Fasan;
Allein die Jäger sehn uns Störche,
Von Alters her, als heilig an.
Mit uns wird, wie das Sprüchwort saget,
Die Freyheit aus dem Land gejaget.
Die Schwalbe.

Verlaß dich nicht auf diesen Wahn,
Mein guter Freund, sonst hieß es immer,
Wir Schwalben brächten Glück ins Haus;
Der Junker selbst litt uns im Zimmer,
Und nun hat kaum die Fledermaus
Ein härtres Loos. Ich flog beym Küster
Schon sieben Sommer ein und aus;
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Da kam sein Enkel, ein Magister,
Von hohen Schulen jüngst zurück,
Und fluchte, trotz Minervens Eule
Mit so viel Kunst und so viel Glück
Auf Barbarey und Vorurtheile,
Daß ihm der Alte Vollmacht gab,
Mein Nest, um die Vernunft zu rächen,
Mit sieben Eyern auszustechen,
Und kaum entrann ich selbst dem Grab.
Der Storch.

Heißt das die Menschheit aufgekläret?
Ha! besser für das Glück der Welt
Ist frommer Irrthum, der erhält,
Als kalte Weisheit, die zerstöret.

Notes
Entstanden 1786.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Pfeffel, Gottlieb Konrad. Die Schwalbe und der Storch. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-7472-E