Franziska Gräfin zu Reventlow
Vater

Mein Vater starb plötzlich. Wir waren vor zwei Jahren im Zorn voneinander gegangen. Ich hatte damals meinen Willen durchgesetzt, ich stand allein draußen in der Welt, und das Leben wehte stürmisch um mich her.

Zuerst hatte ich gehört, daß mein Vater krank sei. Ein leidenschaftlich zorniger Brief meines ältesten Bruders, der mir in erregten Worten die Schuld beimaß, hatte mich davon benachrichtigt.

Das brüderliche Schreiben hielt sich in Ausdrücken, die mir jede Annäherung, jede Nachfrage unmöglich machten.

Von Fernstehenden hörte ich kurze Zeit darauf, mein Vater habe sich erholt. Und dann kam eines Tages das Telegramm, daß er im Sterben liege.

Ich konnte nicht vor Nachmittag reisen, und während des Morgens kam ein Telegramm um das andere, alle von meinem jüngsten Bruder, der mich ohne Wissen der übrigen Familie benachrichtigte – eins um das andere: Zustand hoffnungslos – Zustand unverändert – Nicht kommen – und so fort.

An demselben Morgen kam ein Brief von dem Manne, um dessentwillen ich mit den Meinen gebrochen hatte. Ich konnte ihn kaum lesen, und er war mir auch gleichgültig – jetzt so unsagbar gleichgültig.

Wie sonderbar, daß ich ihn damals geliebt hatte.

Ich fuhr ab.

Acht Stunden, bis ich daheim sein konnte – zu Hause! Ja, ich fuhr nach Hause, nach zwei Jahren wieder nach Hause. Wie gut das war. Ich sagte es mir selbst immer wieder vor: nach Hause!

[305] Das mußte den brennenden, aufsteigenden Schmerz kühlen. Zur Mutter! Ihr in die Arme. Mutter! Schluchzen dürfen, Mutter! Stammeln dürfen – so hatte ich es noch nie sagen können.

Acht Stunden am schwülen Julitag im sonnendurchglühten Wagen, acht Stunden mußte ich in qualvoller Aufregung dahinfahren.

Wird er noch leben? Werde ich noch vor ihn hinknien können, seine sterbenden Hände küssen, in seine verlöschenden Augen sehen, reuig und sehnsüchtig? Oder wird er meine Schuld unvergessen mit hinabnehmen?

Es wurde Abend. Ich war allein und fuhr durch mir bekannte Landschaften, und meine Aufregung wuchs zum Wahnsinn, zur Todesangst. Wird er noch leben? Eine Stimmung, ein Ton, ein Kindheitston wurde in mir wach, ein seltsamer, lang vergessener, und er zitterte nur noch wehmütig gebrochen in mir auf.

Meine Hände wollten sich falten, aber sie krampften sich nur wütend ineinander und über meine Lippen kam ein irrsinniges Stammeln. Er muß noch leben, er muß noch leben!

Draußen war es Nacht.

Ich fühlte nicht mehr, daß ich mich bewegte und lebte, ich fühlte nur, wie meine fiebernde Stirn gegen die kalten, glatten Fensterscheiben stieß und wie meine Zähne in Frostschauern aufeinander schlugen.

»Bitte, die Billetts!« Wir waren dicht an der Stadt.

Die Türme stiegen gegen den dunklen Nachthimmel auf. Die Bahnhofslichter flackerten unruhig. Die große Uhr stand auf elfeinhalb, als der Zug einfuhr. Der Perron war nachtverödet und leer. Ich stieg mechanisch aus.

Wo war ich, und was wollte ich da, wo ich jetzt war? Zwei dunkle Gestalten kamen heran: mein jüngster Bruder mit einem älteren Herrn, einem Geistlichen, welcher [306] der Familie nahe stand. Mein Bruder und ich lagen uns einen Augenblick in den Armen und sahen uns durch Tränen der Verzweiflung an.

Dann zog er sich zurück. Der Priester hatte mit mir zu sprechen im Auftrage meiner Mutter und der anderen. Ein kalter, harter Auftrag war es: – alles, was meine Mutter mir in diesem Augenblick zu sagen hatte, war: »Geh wieder fort, du hast hier nichts mehr zu suchen.« – Meine Mutter hatte recht: so sagte mir der Geistliche wenigstens. Ich hatte mich ja von ihnen losgelöst, und nun gehörte ich nicht mehr zu ihnen. Meine Schuld mußte sehr schwer gewesen sein, wenn meine Mutter mir das sagen konnte.

– Du hast hier nichts mehr zu suchen. – Am Sterbebett deines Vaters hast du nichts zu tun, du hast kein Recht um ihn zu trauern, kein Recht an dein Zuhause, geh wieder hinaus in die traurige Welt. Unstet und flüchtig sollst du sein, aber zur Variation der alten Legende wollen wir dir das Kainszeichen nicht auf die Stirn, sondern ins tiefste Herz hineinbrennen, an die weichste, verwundbarste, geheimste Stelle, die nie wieder heilen kann, und wo es doch keines Menschen Auge sieht, wenn es schmerzt und blutet. – –

Der Priester ging. Seine Mission war vollbracht. – Habe Dank für dein Evangelium, du Mann des Friedens. –

Ich stand allein auf dem Bahnhof. Ich war völlig bei Sinnen. Mein Vater lebte noch und (so hatte der fromme Mann gesagt): »Sie werden ihn nicht sehen und wenn ich selbst mich vor die Tür stellen müßte.«

Ich ging zu guten Freunden, die um meinen Bruch mit der Familie wußten, und die nahmen mich auf, ohne viel zu fragen.

– Dann kamen zwei Tage, an denen ich brünstig wünschte, sterben zu dürfen.

[307] Mehrmals am Tage ging ich zum Arzte, der meinen Vater behandelte, und holte mir Nachrichten, die zwischen völliger Aussichtslosigkeit und schwacher Hoffnung wechselten. Am Mittwochnachmittag hieß es: Er wird die Nacht nicht mehr erleben.

Ich weiß nicht, wie ich dann aus dem Hause des Arztes und aus der Stadt hinausgekommen war. Da lag ich an der Erde in dem kleinen Gehölz und wußte, daß mein Vater starb, daß es vorbei war. Mein Kopf war wie leergebrannt. Die Gedanken schwirrten wie Mücken in dem öden Schädel herum, und ich vermeinte es zu fühlen, wie sie summend gegen die Innenwände stießen.

Als ich zu meinen Gastfreunden zurückkehrte, war eine Botschaft von meiner Familie da – noch kälter und unbarmherziger wie die vorige. Mein Vater war gestorben, und jetzt durfte ich kommen und ihn noch einmal sehen. – –

Auf dem Bett im kahlen Krankenzimmer lag etwas Kaltes, Lebloses, Schreckliches, und das war mein Vater gewesen. Und ich kniete davor und wußte nur, daß er es nicht mehr war, daß es für alle Zeiten zu spät war.

Gebrochen und in wahnsinnigem Schmerzausbruch warf ich mich über die kalten Glieder meines Vaters hin. Die glühenden Tränen seines verlorenen Kindes mußten seine eisige Stirn und seine toten Hände netzen, und zur Vergebung war die Zeit vorüber. –

Dann kamen Menschen ins Zimmer.

Jemand zog mich vom Bett in die Höhe. Es war mein ältester Bruder.

Für eine Minute zog uns der Kummer in eine traurige, geschwisterliche Umarmung. Ich weiß nur noch, daß mich der Bruder in seinen Armen hielt und daß der Priester da war, und seine Stimme schwirrte mir mit kalten Worten in den Ohren.

[308] Meine Mutter wollte mich nicht sehen. Ich blieb noch einen Tag in der Stadt. Als der Abend kam, ging ich aus. Das Haus meiner Eltern wollte ich noch einmal sehen, und ich ging um den Wall nach der alten, bekannten Straße, und dann viele Male um das Haus herum, am Gartenzaun entlang. An der Südseite standen die Fenster offen. Die Vorhänge waren nicht herabgelassen. Da saßen sie beim Lampenlicht um den Teetisch.

Ich sah meine Mutter, meinen Bruder, konnte verstehen, was sie sprachen. Ich packte das Gitter und dachte einen Augenblick daran, mich an ihm aufzuspießen. Wahnsinn. – Aber erschießen konnte ich mich. Meinen Revolver hatte ich ja mitgenommen. In all die glühenden Schmerzen hinein die kalte Kugel. Und auf die Haustreppe sich hinlegen, gerade auf die Schwelle, und dort sterben.

Warum habe ich es nicht getan? Es wäre gut gewesen. Warum mußte mich die feige Angst noch an den Fetzen Leben schmieden? –

Im Hofe bellten die Hunde, meine alten, treuen Hunde mit ihren heiseren Stimmen. Ich stand noch da – ich starb ja nicht – tötete mich nicht – wurde auch nicht toll. Es fror mich in der Nachtkühle und in meinem Elend. – Nun wollte ich gehen. Noch einmal über die Straße zurück. Da oben auf dem Balkon stand eine Gestalt. Es war meine Schwester. Das war ihr Zimmer, und die andern waren alle unten bei der Lampe gewesen. Ich stand wieder am Gitter und sah hinauf zur Schwester. – Kein Wort. – Ich hörte sie weinen.

Sie hatte mich gesehen und sah hinunter, während ich zu ihr emporstarrte und kein Wort sprach.

Dann ging ich.

Die letzte weiche Saite in mir sprang klirrend entzwei.

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Notes
Erstdruck in: Simplicissimus, München (Albert Langen) 1. Jg., Nr. 5, 1896.
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TextGrid Repository (2012). Reventlow, Franziska Gräfin zu. Vater. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8F48-8