[374] Museumsschweigen

Wie's Gedanken gibt,
Die durch Stein und Welten gehn,
Kann's geschehn,
Daß die Fliege den Ichthyosaurus liebt.
Still ist's im Museumssaal.
»Lieber Freund, ich liege
Fest in Bernstein«, sagt die Fliege,
»Bernstein ist ein Mineral.
Und ich liebe dich, du Riesenexemplar,
Und ich möchte deinetwegen
Nur noch einmal Eier legen.«
»Bernstein?
Kann gern sein«,
Sagt das Ichthyosau,
»Aber ich bin auch eine Frau,
Eine sehr entschlossene sogar.
Weil ich noch in dem Momente,
Als gewisse Elemente
Mich erstickten, noch ein Kind halb gebar.«
»Eier oder lebendig – –«,
Sagt die Fliege, »wir wohnen
Beide auf der Welt seit Millionen
Jahren. – Wissen Sie die Zahl noch auswendig?«
»Nicht so ganz genau«,
Sagt Frau Ichthyosau,
»Aber wollen wir doch nicht sentimental
Flöten oder winseln.
Nein, versuchen wir jetzt wieder einmal,
Ganz verliebt einander anzublinzeln.«
Da betrat den Museumssaal
Der pensionsberechtigte Museumswärter.
Und da blinzelten die beiden nicht.
[375]
Denn solch Wärter
Tut eben seine Pflicht
Und schürft nicht tiefer.
Denn Beamtenpflicht ist härter
Als Bernstein und Schiefer.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Ringelnatz, Joachim. Museumsschweigen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9673-7