Joachim Ringelnatz
Kinder-Verwirr-Buch
1931

[7]

[Kleine Lügen und auch kleine]

Kleine Lügen und auch kleine

Kinder haben kurze Beine.

[Das ABC ist äußerst wichtig]

Das ABC ist äußerst wichtig.

Im Telefonbuch steht es richtig.

[Der Klapperstorch hat krumme Beine]

Der Klapperstorch hat krumme Beine.

Die Kinder werfen ihn mit Steine.

Aber Kinder bringt er keine.

[Der Spanier lebt in fernen Zonen]

Der Spanier lebt in fernen Zonen

Für die, die weitab davon wohnen.

[Und der Osterhase legt]

Und der Osterhase legt

(Bald sehr eitel, bald bewegt)

Rührei oder Spiegelei.

Schauerlich stöhnt er dabei.

[Sechs Beine hat der Elefant]

[7] Sechs Beine hat der Elefant.

Er wird auch Mißgeburt genannt.

Babies

Daß eure Windeln wie Segel sind,

Das wißt ihr Kinder noch nicht.

Ihr kümmert euch nicht um den eigenen Wind,

Um den fremden Wind, um das fremde Licht.

Ihr reist wie Passagiere.

Und wenn das Schiff mit euch ersauft,

Dann seid ihr himmeltief getauft,

Unschuldige, glückliche Tiere.

Kind, spiele!

Kind, spiele!

Spiele Kutscher und Pferd! –

Trommle! – Baue dir viele

Häuser und Automobile! –

[8] Koche am Puppenherd! –

Zieh deinen Püppchen die Höschen

Und Hemdchen aus! – Male dann still! –

Spiele Theater: »Dornröschen«

Und »Kasperl mit Schutzmann und Krokodil!« –


Ob du die Bleisoldaten

Stellst in die fürchterliche Schlacht,

Ob du mit Hacke und Spaten

Als Bergmann Gold suchst im Garten im Schacht,

Ob du auf eine Scheibe

Mit deinem Flitzbogen zielst, – – –


Spiele! – Doch immer bleibe

Freundlich zu allem, womit du spielst.

Weil alles (auch tote Gegenstände)

Dein Herz mehr ansieht als deine Hände.

Und weil alle Menschen (auch du, mein Kind)

Spielzeug des lieben Gottes sind.

Beinchen

Beinchen wollen stehen.

Beinchen wollen gehen,

Sich im Tanze drehen.

Beinchen wollen ruhn.

Beinchen wollen spreizen,

Wollen ihren Reizen

Jegliche Gelegenheit

Geben. Haben jederzeit

Muskulös zu tun.


Beine dick und so und so,

Beine dünn wie Stange.

Alle Beine sind doch froh.


Arme, arme Schlange!

[9] Schlängelchen

Schlängelchen zum Teufel kam,

Ganz still und bescheiden.

Und der Teufel das Schlängelchen nahm

Und es streichelte.

Mochte es gut leiden.


Kam ein Schlängelchen

Zu einem Engelchen,

Neigte sich und wollte wieder scheiden.

Engelchen mochte das Schlängelchen

Gut leiden,

Sagte fromm:

»Komm!«

Nie bist du ohne Nebendir

Eine Wiese singt.

Dein Ohr klingt.

[10] Eine Telefonstange rauscht.

Ob du im Bettchen liegst

Oder über Frankfurt fliegst,

Du bist überall gesehen und belauscht.


Gonokokken kieken.

Kleine Morcheln horcheln.

Poren sind nur Ohren.

Alle Bläschen blicken.


Was du verschweigst,

Was du den andern nicht zeigst,

Was dein Mund spricht

Und deine Hand tut,

Es kommt alles ans Licht.

Sei ohnedies gut.

[Die Guh gibt Milch und stammt aus Leipzig]

Die Guh gibt Milch und stammt aus Leipzig.

Wer zuviel Milch trinkt, der bekneipt sich.


Der Ochse gibt statt Milch: Spinat.

Er spielt am Nachmittage Skat.


[11]

Unter Wasser Bläschen machen

Kinder, ein Rätsel! Hört mich an!

Wer es herausbekommt, kriegt Geld! – Wie kann

Man unter Wasser Bläschen machen?

Das müßt ihr versuchen – unbedingt! –

In der Badewanne. Und wenn es gelingt,

Werdet ihr lachen.

Kinder, spielt mit einer Zwirnsrolle!

Gewaltigen Erfolg erzielt,

Wer eine große Rolle spielt.


Im Leben spielt zum Beispiel so

Ganz große Rolle: der Popo.


[12] Denkt nach, dann könnt ihr zwischen Zeilen

Auch mit geschlossenen Augen lesen,

Daß Onkel Ringelnatz bisweilen

Ein herzbetrunkenes Kind gewesen.

Das Hexenkind

Das junge Ding hieß Ilse Watt.

Sie ward im Waisenhaus erzogen.

Dort galt sie für verstockt, verlogen,

Weil sie kein Wort gesprochen hat

Und weil man ihr es sehr verdachte,

Daß sie schon früh, wenn sie erwachte,

Ganz leise vor sich hinlachte.


Man nannte sie, weil ihr Betragen

So seltsam war, das Hexenkind.

Allüberall ward sie gescholten.

Doch wagte niemand, sie zu schlagen.

Denn sie war von Geburt her blind.


Die Ilse hat für frech gegolten,

Weil sie, wenn man zu Bett sie brachte,

Noch leise vor sich hinlachte.


In ihrem Bettchen blaß und matt

Lag sterbend eines Tags die kranke

Und stille, blinde Ilse Watt,

Lächelte wie aus andern Welten

Und sprach zu einer Angestellten,

Die ihr das Haar gestreichelt hat,

Ganz laut und glücklich noch »Ich danke.«

[Den Unterschied bei Mann und Frau]

Den Unterschied bei Mann und Frau

Sieht man durchs Schlüsselloch genau.

[13] Emanuel Pips

(Zu seinem 81. Geburtstag)


Den Kammerjäger Emanuel Pips

Vom linken Ufer des Mississipps

Mochte jedermann leiden.

Er war äußerst bescheiden.

Er trug acht Zentimeter Rips

Als Anzug und einen Seiden-

faden in Grün als Schlips,

Fragte niemals nach Rennbahntips,

Hatte überhaupt keinen Grips,

Aß einmal am Tage (potato-chips),

Trank alkoholfreie Salzwasserflips,

Wurde trotz alledem magenkrank

Und starb am Schwips.

Seine kleine Büste aus Gips

Steht unter anderen Nippes

Heute auf meinem Bücherschrank.


Berichtigung: Kammerjäger Pips

Schrieb sich eigentlich innen mit Yps-

ilon, doch war so bescheiden und lieb,

Daß es ihm gleich war, wie man ihn schrieb.

[14] Arm Kräutchen

Ein Sauerampfer auf dem Damm

Stand zwischen Bahngeleisen,

Machte vor jedem D-Zug stramm,

Sah viele Menschen reisen


Und stand verstaubt und schluckte Qualm,

Schwindsüchtig und verloren,

Ein armes Kraut, ein schwacher Halm,

Mit Augen, Herz und Ohren.


Sah Züge schwinden, Züge nahn.

Der arme Sauerampfer

Sah Eisenbahn um Eisenbahn,

Sah niemals einen Dampfer.

Ernster Rat an Kinder

Wo man hobelt, fallen Späne.

Leichen schwimmen in der Seine.

An dem Unterleib der Kähne

Sammelt sich ein zäher Dreck.


An die Strähnen von den Mähnen

Von den Löwen und Hyänen

Klammert sich viel Ungeziefer.

Im Gefieder von den Hähnen

Nisten Läuse; auch bei Schwänen.

(Menschen gar nicht zu erwähnen,

Denn bei ihnen geht's viel tiefer.)


Nicht umsonst gibt's Quarantäne.

Allen graust es, wenn ich gähne.
Ewig rein bleibt nur die Träne
Und das Wasser der Fontäne.
Kinder, putzt euch eure Zähne!!
[15]

[Kinder, ihr müßt euch mehr zutrauen!]

Kinder, ihr müßt euch mehr zutrauen!

Ihr laßt euch von Erwachsenen belügen

Und schlagen. – Denkt mal: Fünf Kinder genügen,

Um eine Großmama zu verhauen.

Bist du schon auf der Sonne gewesen?

Bist du schon auf der Sonne gewesen?

Nein? – Dann brich dir aus einem Besen

Ein kleines Stück Spazierstock heraus

Und schleiche dich heimlich aus dem Haus

Und wandere langsam in aller Ruh

Immer direkt auf die Sonne zu.

So lange, bis es ganz dunkel geworden.

Dann öffne leise dein Taschenmesser,

Damit dich keine Mörder ermorden.

[16] Und wenn du die Sonne nicht mehr erreichst,

Dann ist es fürs erstemal schon besser,

Daß du dich wieder nach Hause schleichst.

Kindersand

Das Schönste für Kinder ist Sand.

Ihn gibt's immer reichlich.

Er rinnt unvergleichlich

Zärtlich durch die Hand.


Weil man seine Nase behält,

Wenn man auf ihn fällt,

Ist er so weich.

Kinderfinger fühlen,

Wenn sie in ihm wühlen,

Nichts und das Himmelreich.


Denn kein Kind lacht

Über gemahlene Macht.

[Kinder weinen]


Kinder weinen.

Narren warten.

Dumme wissen.

Kleine meinen.

Weise gehen in den Garten.

[17] An Berliner Kinder

Was meint ihr wohl, was eure Eltern treiben,

Wenn ihr schlafen gehen müßt?

Und sie angeblich noch Briefe schreiben.

Ich kann's euch sagen: Da wird geküßt,

Geraucht, getanzt, gesoffen, gefressen,

Da schleichen verdächtige Gäste herbei.

Da wird jede Stufe der Unzucht durchmessen

Bis zur Papagei-Sodomiterei.

Da wird hasardiert um unsagbare Summen.

Da dampft es von Opium und Kokain.

Da wird gepaart, daß die Schädel brummen.

Ach schweigen wir lieber. – Pfui Spinne, Berlin!

[18]

Silvester bei den Kannibalen

Am Silvesterabend setzen

Sich die nackten Menschenfresser

Um ein Feuer, und sie wetzen

Zähneklappernd lange Messer.


Trinken dabei – das schmeckt sehr gut –

Bambus-Soda mit Menschenblut.


Dann werden aus einem tiefen Schacht

Die eingefangenen Kinder gebracht

Und kaltgemacht.

Das Rückgrat geknickt,

Die Knochen zerknackt,

Die Schenkel gespickt,

Die Lebern zerhackt,

Die Bäuchlein gewalzt,

Die Bäckchen paniert,

Die Zehen gesalzt

Und die Äuglein garniert.


Man trinkt eine Runde und noch eine Runde.

Und allen läuft das Wasser im Munde

Zusammen, ausnander und wieder zusammen.

Bis über den feierlichen Flammen

Die kleinen Kinder mit Zutaten

Kochen, rösten, schmoren und braten.


Nur dem Häuptling wird eine steinalte Frau

Zubereitet als Karpfen blau.

Riecht beinah wie Borchardt-Küche, Berlin,

Nur mehr nach Kokosfett und Palmin.


Dann Höhepunkt: Zeiger der Monduhr weist

Auf zwölf. Es entschwindet das alte Jahr.

Die Kinder und der Karpfen sind gar.

Es wird gespeist.


Und wenn die Kannibalen dann satt sind,

Besoffen und überfressen, ganz matt sind,

Dann denken sie der geschlachteten Kleinen

Mit Wehmut und fangen dann an zu weinen.

[19]

Geplapper an Grosspapa


»Großpapa, ach, bist du dumm!

Weil du nichts verstehst.

Großpapa, was bist du krumm,

Wenn du gehst!


Und du zitterst immerzu

Wie ein Pappelwald.

Großpapa, wann stirbst denn du?

Stirbst du bald?«

[20]

Die neuen Fernen

In der Stratosphäre,

Links vom Eingang, führt ein Gang

(Wenn er nicht verschüttet wäre)

Sieben Kilometer lang

Bis ins Ungefähre.


Dort erkennt man weit und breit

Nichts. Denn dort herrscht Dunkelheit.

Wenn man da die Augen schließt

Und sich langsam selbst erschießt,

Dann erinnert man sich gern

An den deutschen Abendstern.

Doch ihre Sterne kannst du nicht verschieben

Das Sonderbare und Wunderbare

Ist nicht imstande, ein Kind zu verwirren.

Weil Kinder wie Fliegen durch ihre Jahre

Schwirren. – Nicht wissend, wo sie sind.


Nur vor den angeblich wahren

Deutlichkeiten erschrickt ein Kind.


Das Kind muß lernen, muß bitter erfahren.

Weiß nicht, wozu das frommt.

Hört nur: Das muß so sein.


Und ein Schmerz nach dem andern kommt

In das schwebende Brüstchen hinein.

Bis das Brüstchen sich senkt

Und das Kind denkt.

[21]

Vom andern aus lerne die Welt begreifen 1

Es sind die harten Freunde, die uns schleifen.
Sogar dem Unrecht lege Fragen vor.
Wer nimmer fragt, merkt nicht, was er verlor.
Vom andern aus lerne die Welt begreifen.

Fußnoten

1 Vers am Ende der gleichnamigen Erzählung, vgl. Bd. 4, S. 351.


Notizen
Erstdruck: Berlin (Ernst Rowohlt) 1931.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Ringelnatz, Joachim. Kinder-Verwirr-Buch. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-993D-B