Die Gräber zu Ottensen

Erstes Grab

Zu Ottensen auf der Wiese
Ist eine gemeinsame Gruft;
So traurig ist keine wie diese
Wohl unter des Himmels Luft.
[29]
Darinnen liegt begraben
Ein ganzes Volksgeschlecht,
Väter, Mütter, Brüder, Töchter, Kinder, Knaben,
Zusammen Herr und Knecht.
Die rufen weh zum Himmel
Aus ihrer stummen Gruft,
Und werden's rufen zum Himmel,
Wenn die Trommet' einst ruft.
Wir haben gewohnt in Frieden
Zu Hamburg in der Stadt,
Bis uns daraus vertrieben
Ein fremder Wütrich hat.
Er hat uns ausgestoßen
Im Winter zur Stadt hinaus,
Die hungernden, nackenden, bloßen,
Wo finden wir Dach und Haus?
Wo finden wir Kost und Kleider,
Wir zwanzigtausend an Zahl? –
Die andern schleppten sich weiter,
Wir blieben hier zumal.
Die andern nahmen die Britten
Und andre die Dänen auf;
Wir brachten mit müden Schritten
Bis hieher unsren Lauf.
Wir konnten nicht weiter keuchen,
Erschöpft war unsere Kraft;
Frost, Hunger, Elend und Seuchen,
Sie haben uns hingerafft.
[30]
Ein ungeheuerer Knäuel,
Zwölfhundert oder mehr;
Es zieht sich über den Greuel
Ein dünner Rasen her.
Der deckt nun unsre Blöße,
Ein Obdach er uns gab;
Man merkt des Jammers Größe
Nicht an dem kleinen Grab.

Zweites Grab

Zu Ottensen an der Mauer
Der Kirch' ist noch ein Grab,
Darin des Lebens Trauer
Ein Held gelegt hat ab.
Geschrieben ist der Namen
Nicht auf den Leichenstein;
Doch er samt seinem Samen
Wird nie vergessen sein.
Von Braunschweig ist's der Alte,
Karl Wilhelm Ferdinand,
Der vor des Hirnes Spalte
Hier Ruh' im Grabe fand.
[31]
Der Lorbeerkranz entblättert,
Den auf dem Haupt er trug,
Die Stirn vom Schlag zerschmettert,
Der ihn bei Jena schlug;
Nicht, wo er war geboren,
Hat dürfen sterben er:
Von seines Braunschweigs Thoren
Kam irrend er hieher;
Umirrend mit den Scherben
Des Haupts von Land zu Land,
Das, eh' es konnte sterben,
Erst allen Schmerz empfand;
Das erst noch mußte denken
Der Zukunft lange Not,
Eh' es sich durfte senken
Beschwichtigt in den Tod.
Jetzt hat sich's hier gesenket,
Doch hebt sich's, wie man glaubt,
Noch aus der Gruft und denket
Das alte Feldherrnhaupt.
Da sieht es die Befreiung
Nun wohl auf deutscher Flur,
Doch auch von der Entweihung
Die unvertilgte Spur.
Da sieht es der Zwölfhundert
Grabstätte sich so nah',
Und ruft wohl aus verwundert:
Ein Feldherr ward ich ja.
O Feldherrnamt wie grausend!
Um mich, den Feldherrn, her
Gelagert sind die Tausend,
Ein großes Schmerzenheer.
Euch hat auf andern Pfaden,
Und doch aus gleichem Grund,
[32]
Der Tod hieher geladen,
Ihr seid mit mir im Bund.
Daß ohne Totenhemde
Ihr auf den Gräbern sitzt,
Das schmerzt mich, weil der Fremde
Noch geht in Purpur itzt.
Ist keiner mehr am Leben,
Den Purpur auszuziehn
Dem Fremden, und zu geben
Euch nackten Toten ihn?
Mit seinen dunklen Schützen
Der Öls, mein wackrer Sohn,
Der könnte wohl euch nützen;
Doch fiel auch der nun schon.
Jetzt kann ich keinen nennen,
Da ihn der Tod geraubt;
Und schmerzlich fühl' ich brennen
Die Spalt' in meinem Haupt.

Drittes Grab

Zu Ottensen, von Linden
Beschattet, auf dem Plan,
Ist noch ein Grab zu finden,
Dem soll, wer trauert, nahn.
Dort in der Linden Schauer
Soll lesen er am Stein
Die Inschrift, daß die Trauer
Ihm mag gelindert sein.
Mit seiner Gattin lieget
Und ihrem Sohne dort
Ein Sänger, der besieget
Den Tod hat durch ein Wort.
[33]
Es ist der fromme Sänger,
Der sang des Heilands Sieg,
Zu dem er, ein Empfänger
Der Palm', im Tod entstieg.
Es ist derselbe Sänger,
Der auch die Hermannsschlacht
Sang, eh' vom neuen Dränger
Geknickt ward Deutschlands Macht.
Ich hoffe, daß in Frieden
Er ruht' indes in Gott,
Nicht sah bei uns hienieden
Des Feinds Gewalt und Spott.
Und so auch ruht' im Grabe
Sein unverstört' Gebein,
Als ob geschirmt es habe
Ein Engel vorm Entweihn.
Es sind der Jahre zehen
Voll Druck und Tyrannei,
Voll ungestümer Wehen,
Gegangen dran vorbei.
Sie haben nicht die Linden
Gebrochen, die noch wehn,
Und nicht gemacht erblinden
Die Schrift, die noch zu sehn.
Wohl hat, als dumpfer Brodem
Der Knechtschaft uns umgab,
Ein leiser Freiheitsodem
Geweht von diesem Grab.
Wohl ist, als hier den Flügel
Die Freiheit wieder schwang,
O Klopstock, deinem Hügel
Enttönt ein Freudenklang.
[34]
Und wenn ein sinn'ger Waller
Umher die Gräber jetzt
Beschaut, tret' er nach aller
Beschau'n an dies zuletzt.
Wenn dort ein trübes Stöhnen
Den Busen hat geschwellt,
So ist als zum Versöhnen
Dies Grab hieher gestellt.
Die Thränen der Vertrieb'nen,
Des Feldherrn dumpfe Gruft,
Verschwinden vorm beschrieb'nen
Stein unterm Lindenduft;
Wo wie in goldnen Streifen
Das Wort des Sängers steht:
Saat von Gott gesät,
Dem Tag der Garben zu reifen.

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TextGrid Repository (2012). Rückert, Friedrich. Die Gräber zu Ottensen. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-A17D-5