[269] Winterleben

1. Die Winternachtigall

So laut im Winterzimmer schmettert
Die Nachtigall,
Daß sich ein Frühlingshain beblättert
An ihrem Schall:
Zum blauen Himmel wird die Decke
Und jede Wand zur grünen Hecke,
Zur Schattengrotte jede Dunkelecke,
Des Vorhangs Weh'n zu Bäche-Rieselfall.
Nur wenn der Himmel oft so schaurig
Durchs Fenster schaut,
Dann klagt die Nachtigall so traurig
Den Klagelaut,
Als wollte sie ihr Los verklagen,
Daß sie in Winterhaft muß schlagen
Und schweigen einst, wann in beglücktern Tagen
Der freie Frühling seinen Tempel baut.
Doch laß dich das nur nicht verdrießen
Und singe zu!
Ein Lenz muß auch im Winter sprießen,
Den wirkest du.
O Himmelskehl' im Zeitenfroste,
Du bist gegeben uns zum Troste;
Sing' nur, und ob es dir die Seele koste,
In jede Seele Sehnsucht, Schmerz und Ruh'.

2. Winter-Lerchenton

In Lüften hängt ein Lerchenton,
Mein Ohr hat staunend ihn vernommen.
Ist's eine, die noch nicht entflohn?
Ist's eine, die zurückgekommen,
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Gelockt von Frühling schon,
Da rings die Schöpfung noch von Winter ist beklommen?
Durch meine Seele zieht ein Schwung,
Den jener Ton hat angeschlagen.
Ist's Ahnung, ist's Erinnerung
Von künftigen, von vor'gen Tagen?
Ich fühle nur mich jung,
Ob wie ich's war, ob wie ich sein werd'? ist zu fragen.
Verklungen ist die Melodie,
Verschlungen von Schneewolkenherden;
Und Winter ist's im Herzen, wie
Am Himmel Winter und auf Erden,
So Winter, als ob nie
Gewesen Frühling sei und nimmer sollte werden.

3. Der Abglanz der Rose

Wenn der Rose Liebesrot
Ist im kurzen Lenz verglüht,
Bleibt in Erdenwinternot
Dir kein Trost, o mein Gemüt;
Blick' hinauf! am Himmel sprüht
Ew'ges Abend-Morgenrot:
Deine Ros' ist hier nicht tot,
Die dort oben doppelt blüht.

4. Erwartung

Wenn ich gegen Tages Mitte
Setz' ins Zimmer meine Schritte,
Die auf Schnee und Eis geweilt;
Denk' ich, auf dem Wust des Tisches
Liegen müss' ein Blatt, ein frisches
Das vom Freunde Kund' erteilt,
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Wie die rötlich angeglühte
Mandelblüte,
Die voraus dem Frühling eilt.
Oder wann ich lange träumte,
Wie er nun so lange säumte,
Sich zu melden; kommt mir's vor,
Selber müss' er aus den Ecken
Treten, froh mich zu erschrecken,
Ohne Meldebrief zuvor,
Überraschend, wie die Feige
Aus dem Zweige
Ohne Blüte tritt hervor.

5. Wintersonne

Mond und Sonne scheint so schön,
Wie im Frühling immer;
Öder nur die Winterhöh'n
Macht der kalte Schimmer.
Ach vom Himmel kann die Lust
Nicht hernieder steigen,
Wenn der Erde, wenn der Brust
Sie nicht schon ist eigen.

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TextGrid Repository (2012). Rückert, Friedrich. Winterleben. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AA75-2