[36] Die Parzen

1.

[37] [41]I.

In einer jener ausgedehnten, entlegenen Straßen, die sich, früher zur »Vorstadt« gehörend, im Laufe der Jahre so unbeträchtlich verändert haben, daß sich darin noch heute fast alles so ausnimmt wie in meiner Jugend, befand sich bis ins letzte Dezennium hinein ein Kaffeehaus, das ich im Winter 1854 täglich zu besuchen pflegte. Denn ich versah damals den Dienst eines Aufsichtsoffiziers im Garnisonsspital Nr. 2 und war auf dieses Lokal angewiesen, das sich schon zu jener Zeit höchst unvorteilhaft von den einladenden Interieurs anderer Wiener Kaffeehäuser unterschied. Die niedrig gewölbten Räume waren bis zur Unkenntlichkeit der einst lichtgrün gewesenen Tapeten verräuchert, die altmodischen Tische wackelten, und dem abgenützten Nohrgeflecht der Stühle drohte der Durchbruch. Zwei plumpe Billards, wahre Ungetüme, standen mehr im Wege, als daß sie benützt wurden; zog man aber doch hin und wieder die krummen Kugelstäbe aus der Lade, schepperten sie bedenklich. Zudem waren die dargereichten Getränke keineswegs von besonderem Wohlgeschmack, und da auch Beleuchtung und Beheizung zu wünschen übrig ließen, so erschien, namentlich im Winter, die übliche Bezeichnung »das kalte Kaffeehaus« nur zu gerechtfertigt. Infolgedessen war auch der Besuch ein geringer. Mit Ausnahme einiger alter bürgerlicher Stammgäste waren meistens bloß Offiziere des Trainregiments, das seine Kaserne ganz in der Nähe hatte, hier zu finden; ein unbekannter [41] Zivilist, der sich zufällig von der Straße herein verirrte, wurde immer mit dem größten Erstaunen betrachtet. Der lahmbeinige und einäugige Mensch, der gemeinhin auf den Ruf »Zyklop« hörte und sich in einem schäbigen Frack als Marqueur gebärdete, brauchte sich also um so weniger anzustrengen, als er bei der Bedienung der Gäste von den Eigentümerinnen des Lokals unterstützt wurde, die – wohl hauptsächlich ihrer Dreizahl wegen – die »Parzen« genannt wurden.

Es waren die hinterlassenen Töchter des früheren Besitzers, dessen Geschäft sie in wahrhaft patriarchalischer Weise fortführten. Wer die Eltern nicht gekannt hatte und daher keinen Schluß auf maßgebende Vererbungen ziehen konnte, dem mußte beim Anblick dieser Damen die Vermutung ferne liegen, daß er drei Schwestern vor sich habe, so grundverschieden waren sie in jeder Hinsicht voneinander.

Die Erstgeborene, namens Berta und über die Dreißig schon hinaus, war eine rundliche, vollbusige Person mit einem kugelförmigen, von dichten schwarzen Haarflechten umwundenen Kopfe. Lebhafte Augen, frische Wangen und Lippen verliehen ihrem stumpfnasigen Gesicht einen gewissen Reiz, und da sie sich überdies einer höchst zutunlichen Koketterie befliß, so fehlte es unter den Offizieren nicht an solchen, die ihr in richtiger Erkenntnis ihres liebebedürftigen Wesens flüchtig den Hof machten, wobei sie nicht unterließen, sie um die Taille zu fassen oder ihr kurzfingeriges, fleischiges Händchen zu küssen. Einer jedoch liebte sie wirklich. Es war dies ein Stabsoffizier des Trains, kahlköpfig und einen sehr langen Haynauschnurrbart zur Schau tragend. Sie aber, so versicherte sie, machte sich gar nichts aus dem alten »Schippel«. Nichtsdestoweniger ging sie ihm, wenn er zur gewohnten abendlichen Whistpartie erschien, mit der weißen Patschhand sehr aufmunternd um den Bart.

Die Nächstälteste, die den höchst unpassenden Namen Laura führte, erschien als der gerade Gegensatz ihrer Schwester. Sehr [42] hoch gewachsen, war sie von erschreckender Magerkeit, die sie aber, jeder weiblichen Eitelkeit bar, weit eher ans Licht stellte, als verbarg. Sie trug statt der damals modischen Krinoline ein ganz schlaffes Kleid, das sie sackähnlich umschlotterte und die Eckigkeit ihrer Formen allenthalben erkennen ließ. Um den langen, knöchernen Hals hatte sie stets ein weißes oder eigentlich weiß sein sollendes Tüchlein gebunden. Denn sie litt an einem chronischen Kehlkopfkatarrh, der ihre Stimme teils rauh und schartig, teils schrill und kreischend er klingen machte. Das Tüchlein also, dessen Knoten und Zipfel sich beständig verschoben, so daß sie bald an der Seite, bald hinten zu sitzen kamen, bildete mit dem fahlen, stets mehr oder minder zerzausten Haar die unzertrennliche Folie zu einem hageren, fleckig geröteten Gesichte, das an Bissigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Diesem wenig einnehmenden Äußeren entsprach auch Lauras Wesen, das ihr ad personam den Supernamen »Furie« eingetragen hatte. Die meisten Kaffeehausgäste fürchteten sie, besonders die jüngeren. Denn sie sagte jedem unaufgefordert die unangenehmsten Wahrheiten ins Gesicht, wobei ihre kleinen, wimper- und brauenlosen Augen sehr boshaft in grünlichem Feuer leuchteten. Dennoch war sie im Grunde des Herzens teilnehmend und zu jeder Gefälligkeit bereit, wenn es auf eine solche wirklich ankam. Vor allem aber war sie grundgescheit, und wer sich einmal mit ihrer Häßlichkeit und absprechenden Art ausgesöhnt hatte, verkehrte mit ihr ganz gerne. Sie besaß einige selbsterworbene Bildung und blickte mit klarem Sinn in Welt und Leben hinein. Mit wahrer Leidenschaft las sie Zeitungen, besonders den politischen Teil. Höchst ergötzlich war es, zu vernehmen, wie sie dabei Kaiser, Könige und Minister abkanzelte, während sie gleichzeitig über die Frechheit und Niedertracht der Zeitungsschreiber loszog. Unter den Strich ließ sie sich nur selten hinab, und das nur, um zu sehen, welche Abgeschmacktheit dieser oder jener Feuilletonist wieder zu Markte gebracht habe. Mit der Belletristik stand sie überhaupt auf [43] gespanntem Fuße. Denn diese beschäftigte sich, ihrem Ausspruche nach, eigentlich bloß mit der Liebe, welche die größte Dummheit sei, die es auf Erden gebe. Das Recht zu dieser Dummheit gestand sie zwar notgedrungen der Jugend zu; wer aber schon in gewissen Jahren stand und sich noch mit derlei befaßte, den verachtete sie gründlich; ihre Schwester Berta nannte sie nie anders, als die alte verliebte Gans. Nichtsdestoweniger besaß auch sie einen Anbeter, den sie freilich mit besonders scharfer Hervorhebung des Wortes nur als ihren »Fraint« bezeichnete. Dieser Freund war ein schmächtiges, säbelbeiniges Männchen, das eine goldene Brille trug und an einem benachbarten Knabenpensionate als Lehrer angestellt war. Jeden Nachmittag, Schlag fünf, trat der Herr »Professor«, einige Bücher unter dem Arm, ins Kaffeehaus und ließ sich an einem zunächst der Tür stehenden Tische nieder, wo ihm Laura eigenhändig die »Jausen-Melange« kredenzte. In diesem bedeutungsvollen Moment nahm sein breites, rosenrotes Antlitz, das ein kurzes, fuchsiges Backenbärtchen zierte, einen strahlenden Ausdruck an, und seine wasserblauen Augen verklärten sich unter der Brille. Laura setzte sich dann ihm gegenüber, und es begann eine intime Unterhaltung, der man sich in schweigendem Einverständnis möglichst ferne hielt. Diese Unterhaltung dauerte so lange, bis die sogenannte »Kurze«, die sich der Professor nach andächtig genossenem Kaffee behutsam anbrannte, zu Ende geraucht war. Dann verschwand der Freund, nachdem er Laura ehrerbietig die Hand gedrückt, lautlos wie er gekommen.

Die jüngste Schwester, Selma genannt, war ein zartes, blutleeres Geschöpf, das sich durch prachtvolles aschblondes Haar und große braune Augen auszeichnete. Wenn sie – diese Obliegenheit war ihr bei der Arbeitsteilung zugefallen – in dem altmodischen Kassagehäuse saß, das Spiegelkästchen mit den Likörflaschen im Rücken, konnte man sie aus der Entfernung für eine Schönheit halten. Trat man aber näher, so erkannte man, [44] daß ihre Gesichtszüge sich wie verzeichnet ausnahmen. Dazu ein trocken gelblicher Hautton und ein etwas schiefgestellter Mund mit schadhaften Zähnen, die sie durch krampfhaftes Zusammenpressen der farblosen Lippen zu verbergen trachtete. Sie war daher nicht leicht in ein Gespräch zu verwickeln und gab meistens nur pantomimische oder kurz geflüsterte Antworten. Zu lachen getraute sie sich schon gar nicht. Überhaupt war sie eine schwermütige, sentimentale Natur und überließ sich am liebsten ihren Gedanken und Empfindungen, die sie, wie ihre Rehaugen, nur einem einzigen Gegenstand zukehrte – aller dings einem Gegenstande, der solcher Ausschließlichkeit nicht unwert erscheinen mochte.

Unter den militärischen Gästen sah man auch einen Rittmeister von den Kürassieren. Er hieß De Brois und war Reitlehrer an dem höheren Equitationsinstitute, das sich gleichfalls in dieser Gegend befand. Von ganz besonderer männlicher Schönheit, gehörte er zu den auffallendsten Straßenfiguren jener Zeit. Wenn er über den Graben und Kohlmarkt ging oder sich sonst an öffentlichen Orten zeigte, bewunderte man allgemein seinen ebenmäßig hohen Wuchs und sein vornehmes, dunkel gefärbtes Antlitz, das den Ausdruck strengen Ernstes trug. Er war sich des Eindrucks, den er hervorbrachte, voll bewußt und sichtlich stolz darauf, wenn er auch, hochmütig zurückhaltend, nie darüber sprach. Laura nannte ihn einen Hohlkopf und behauptete, er warte nur auf den Augenblick, wo ihm irgend eine Millionärin das Schnupftuch zuwerfen würde. Aus einer verarmten, seit langem in Österreich naturalisierten lothringischen Familie stammend, war er auf seine Gage angewiesen und daher gezwungen, sich in jeder Hinsicht einzuschränken. Während seine Schüler, die fast durchgehends dem hohen und höchsten Adel angehörten, gleich nach dem Unterrichte mit Fiakern in die Stadt fuhren, dort in den ersten Hotels dinierten und dann ihren vielseitigen Vergnügungen nachgingen, lebte er im allgemeinen sehr zurückgezogen. Er speiste bei dem Traiteur des [45] Instituts und nahm hierauf den »Schwarzen« mit einem Gläschen Kirsch im Kaffeehause, wo er Selma in herablassender Weise den Hof machte. Er richtete bei seinem Erscheinen einige Worte an sie und brachte ihr hin und wieder auch irgend eine Blume, die sie mit seligem Erröten ins Haar oder vor die Brust steckte. Im übrigen gönnte er ihr das Glück seines Anblicks. Und dieses Glück wurde ihr in reichlichem Maße zuteil, wenn er auch abends eintrat, um mit dem Verehrer Bertas und noch zwei anderen Herren einige Robber zu machen. Der Spieltisch befand sich der Kassa ziemlich nahe, und so konnte Selma oft und lange genug den so einzig schönen Mann betrachten, der auch sie zuweilen mit einem Augenaufschlag begnadete.

Wie Selma dem Rittmeister, so verhielt sich ihr gegenüber ein junger Mensch, der das lange fahle Haar hinter die Ohren gestrichen trug und seit einiger Zeit gleichfalls abends erschien, obgleich er sich in der soldatischen Umgebung sehr beengt fühlen mußte. Er war offenbar Student – und wie sich bald herausstellte, der Sohn eines wohlhabenden Hausbesitzers aus der Nachbarschaft. Dieser Jüngling nahm stets an einem der entlegensten Tische Platz, von welchem aus er jedoch die Kassa, oder vielmehr Selma ins Auge fassen konnte, die er über ein vorgenommenes Zeitungsblatt hinweg unverwandt anstarrte. Diese stumme Huldigung wurde anfangs gar nicht bemerkt, dann aber hartnäckig ignoriert. Dessenungeachtet fand der junge Mann den Mut, seinen Gefühlen durch ein Veilchenbukett Ausdruck zu geben, das der mit einem ansehnlichen Trinkgeld bestochene Zyklop verstohlen überreichen sollte. Der hinkende Liebesbote benahm sich aber so ungeschickt, daß man allseits gewahren konnte, wie Selma das Sträußchen befremdet betrachtete und gleich darauf mit einer entschiedenen Handbewegung zurückwies. Trotzdem fand sich schon am zweitnächsten Morgen im Kassabuche das Manuskript eines schwärmerischen Gedichtes vor. Dieses Blatt kam aber durch einen unglücklichen Zufall zuerst in die Hände Lauras, die sich schon [46] längst über den faden Toggenburg lustig gemacht hatte und nun die ätzendste Lauge ihres Spottes über den »gereimten Blödsinn« ausgoß.

So standen die Dinge, als ich eines Tages infolge dienstlicher Verzögerung viel später als sonst zum Frühstück erschien. Ich fand das Kaffeehaus ganz leer; nicht einmal der Zyklop war zu sehen, auch saß Selma nicht an der Kassa. Um meine Anwesenheit kund zu geben, ließ ich den Säbel klirren. Da noch immer niemand kam, pochte ich eindringlich. Nun vernahm ich aus der Kaffeeküche heraus die kreischende Stimme Lauras: »Gleich!« Und schon zeigte sie sich selbst in dem düsteren Hinterzimmer, um nach dem Dränger zu forschen. »Ah, Sie sind es! Was wünschen Sie denn?«

»Mein Frühstück, verehrte Laura.«

»Richtig! Sie haben heute noch nichts genommen. Bitte, nur einen Augenblick Geduld!«

Sie verschwand wieder, und es dauerte noch eine Weile, bis sie den Kaffee vor mich hinstellte. »Er wird nicht mehr am besten sein«, sagte sie, ein Körbchen mit Weißbrot herbeischaffend.

»Daran bin ich selbst schuld, weil ich so spät gekommen. Aber was haben Sie denn? Sie sehen ja ganz aufgeregt aus.« In der Tat war ihre Frisur noch zerzauster, ihr Gesicht noch fleckiger als sonst, und die Zipfel des Tüchleins standen wie zwei Lanzenspitzen nach der Seite ab.

»Ach ja. Manchmal kommt alles zusammen. Ich bin heute der einzige Mensch hier. Jean hat einer Zeugenaussage wegen Vorladung zu Gericht erhalten. Auf neun Uhr – da hat er schon um sieben Toilette gemacht. Berta mußte in einer wichtigen Angelegenheit nach der Stadt, und Selma ist unwohl – liegt zu Bett. Zu allem Überfluß haben wir heute noch Waschtag. – Aber wissen Sie schon das Neueste?« fuhr sie fort, indem sie sich rasch mir gegenüber niederließ.

»Das Neueste –?«

[47] »De Brois heiratet.«

»Heiratet? Wen denn? Doch nicht –« Ihre Schwerster wollte ich sagen, brach aber ab.

Sie hatte mich trotzdem verstanden. »Wie kann Ihnen nur so ein Unsinn einfallen! Übrigens wär' es nicht weniger dumm, als das andere. Die Cortesi heiratet er.«

»Die Cor – –«

»Ja, ja: die Cortesi. Diese Lionne! Diese stadtbekannte Kokette, die mehr Liebhaber hat, als Haare auf dem Kopf!«

»Na hören Sie – bei der Lockenfülle der Dame –«

»Ach was! Das war so eine Redensart. Jedenfalls hat sie so viel Anbeter, wie täglich Herren mit ihr in den Prater reiten.«

»Aber De Brois gehört ja zu denen gar nicht –«

»Das ist's eben. Er hat sie erst kürzlich auf dem Balle des Kavallerieinspektors kennen gelernt. Und da hat sich alles im Handumdrehen gemacht. Schon im Mai soll die Hochzeit sein. Die Sache kommt mir nicht richtig vor.«

»Warum denn nicht? Die Cortesi wird sich in ihn verliebt haben. Das ist ja kein Wunder. Ein so schöner Mann –«

»Lassen Sie mich in Ruhe mit dieser Stallmeisterschönheit!«

»Nun gerade. Das stimmt zusammen. Sie ist eine passionierte Reiterin – und er –«

»Ach was! Pferde longieren können auch andere. Und so verblüht ist sie noch lange nicht, daß sie just einen De Brois nehmen müßte. Ihn aber wird hauptsächlich die Mitgift verblendet haben. Die dürfte jedoch so großartig nicht ausfallen. Der Herr Bankier hat seit jeher den luxuriösesten Aufwand getrieben, und wenn sich nicht die Geschichte mit dem Prinzen zugetragen hätte, wär' er vielleicht heute ein Bettler.«

»Mit dem Prinzen?«

»Das wissen Sie nicht? Vor sechs Jahren diente in der [48] Armee ein junger Prinz W ..., der, sowie andere hohe Aristokraten, auch in den Salon Cortesi kam. Der ausländische Grünling verliebte sich wie ein Narr in die Tochter, die gerade in ihrer Blüte stand und, man muß es sagen, schön war wie ein Engel – wenn auch damals schon geschminkt. Es hätte zu einer morganatischen Ehe kommen sollen. Aber im entscheidenden Augenblick wurde der junge Herr an seinen kleinen Hof abberufen, und man suchte von dort aus die Sache mit Geld zu applanieren. Papa Cortesi, der eben vor dem Bankrott stand, nahm es – und einen Orden dazu. Seitdem ist er wieder flott.«

»Ich staune, wie genau Sie unterrichtet sind!«

»Ja, ich weiß alles, mein Lieber«, erwiderte Laura und sah mich mit ihren grünlichen Augen durchdringend an. »Übrigens aus dem Finger hab' ich es nicht gesogen. Vox populi – –«

»Sie meinen wohl die weibliche Volksstimme«, sagte ich nun auch ein wenig boshaft.

»Weiblich hin, weiblich her. Ich sage Ihnen nur, diese Heirat nimmt kein gutes Ende.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und der Zyklop trat herein. Statt des gewohnten Fracks trug er einen defekten schwarzen Rock; den fragwürdigen Zylinder nahm er schon auf der Schwelle ab.

»Ah, da ist Jean!« rief Laura. »Nun verlasse ich Sie, Sie liebe Unschuld. Es ist Zeit, daß ich nach den Wäscherinnen sehe.«

Damit ging sie. Ich bezahlte Jean meinen Kaffee und entfernte mich gleichfalls. Auf dem Heimweg überdachte ich alles, was Laura mit ihrer giftigen Lästerzunge vorgebracht. In manchem mochte sie nicht unrecht haben, jedenfalls übertrieb sie. Sollte sie nicht doch ihrer Schwester wegen gar so sehr gegen diese Heirat voreingenommen sein? Gleichviel. Was kümmerte es mich? Und so sah ich zuletzt im Geiste nur[49] das zukünftige, so ausgezeichnet schöne Paar vor mir, wie es Arm in Arm durch die Straßen Wiens schreiten würde. Er, im blendend weißen Waffenrock, das Antlitz gebräunt, dunkeläugig; sie, fast in gleicher Größe, ganz eigentümlich schlank und elastisch, das rötlich blonde Haar – diese Nuance war damals durch die Kaiserin Eugenie zu besonders hohem Ansehen gekommen – in langen Locken weit über den Rücken hinabfallend.

2.

II.

Das Gespräch, das ich mit Laura gehabt, war das letzte gewesen. Denn sehr bald darauf mußte ich zum Regiment einrücken, das gleichzeitig den Marschbefehl erhielt. Es kam daher nur zu einem ganz raschen Abschied von den Parzen – das heißt, eigentlich bloß von zweien, weil Selma noch immer nicht zu sehen war. Ich ging also nach Böhmen ab, woselbst ich bis zum Beginn des italienischen Feldzuges verblieb.

Inzwischen aber hatten sich die schlimmen Prophezeiungen Lauras merkwürdigerweise in sehr kurzer Zeit erfüllt. De Brois war kaum ein Jahr nach seiner Hochzeit im Duell gefallen. Es war eine mysteriöse Geschichte, die niemals vollständig aufgehellt wurde. Man erzählte sich jedoch (die Zeitungen mußten damals über derlei Ereignisse schweigend hinwegsehen) mit allerlei Variationen folgendes. De Brois sei zum Major befördert und als Flügeladjutant zum Korpskommando in Budapest versetzt worden. Dort habe er eines Tages seine Frau tête à tête mit einem hohen ungarischen Magnaten überrascht und diesen mit der Reitpeitsche behandelt. Dem Magnaten blieb natürlich nichts übrig, als ihn zu fordern und beim ersten Schusse in den Sand zu strecken. Die Gattin De Brois' aber habe aus Schreck und Aufregung eine Frühgeburt getan, infolge deren sie gleichfalls gestorben sei. Der Vorfall mochte in gewissen Kreisen großes Aufsehen erregt haben; auf Fernerstehende wirkte er [50] nur als pikantes Tagesgespräch, wurde daher bald vergessen. Selbst von mir. Erst als sich das Regiment gleich nach beendetem Feldzuge wieder in Wien befand, wurde ich daran erinnert, und zwar hauptsächlich durch das kalte Kaffeeehaus, das ich ja doch einmal aufsuchen mußte. Es kam nicht so bald dazu. Denn ich war damals gerade im Begriff, den Dienst zu quittieren, und hatte mich in Erwartung meines Abschiedes schon aller militärischen Leistungen entheben lassen. In Bücher und Schriften versenkt, blieb ich tagsüber auf meinem Zimmer in der Getreidemarktkaserne, ließ mir das Essen bringen und unternahm erst zu ziemlich später Stunde längere Spaziergänge, die mich jedoch nach ganz anderen Richtungen hinführten. Endlich, an einem neblichten Oktoberabende, lenkte ich meine Schritte dem Parzensitze zu.

Als ich in die bekannten Räume trat, hatte ich die Empfindung, daß sich hier gar nichts verändert habe. Die Wände dunkelten wie früher; selbst der Zyklop war kaum lahmer und hinfälliger geworden. Auch die Gäste schienen dieselben geblieben zu sein – bis zu den Whistspielern in der Nähe der Kassa, wo Selma, still wie einst, vor dem Kästchen mit den Likörflaschen saß. Allerdings erkannte ich bald, daß es Offiziere eines anderen Trainregiments waren, die sich im Lokal befanden, und bei der Whistpartie fehlten De Brois und der Verehrer Bertas. Auch diese vermißte ich jetzt. Laura jedoch saß in einer Ecke; ihre zerzauste Frisur kam über einem Zeitungsblatt zum Vorschein, in das sie vertieft war. Als sie zufällig nach der Seite blickte, erkannte sie mich sofort und streckte mir sichtlich erfreut die Hand entgegen.

»Das ist schön, daß man Sie wiedersieht! Sie waren in Italien unten und haben den Krieg mitgemacht – nicht wahr?«

»Eigentlich ja. Aber das Bataillon, bei dem ich stand, ist gar nicht ins Feuer gekommen. Ich habe die Kugeln nur in der Ferne pfeifen gehört.«

[51] »Desto besser. Es war ein unglückseliger Feldzug. Aber ich hab's vorausgesagt!«

»Sie sind eben eine Prophetin, Fräulein Laura«, sagte ich, unwillkürlich lächelnd.

»Kann ich dafür, daß mir die Tatsachen recht geben? Erinnern Sie sich noch, was ich damals über die Heirat des De Brois – – Sie werden doch erfahren haben –«

»Allerdings. Aber lassen wir die Toten ruhen. Und was mich betrifft, so werde ich nicht lange mehr Soldat sein.«

»Sie wollen austreten?«

»Ja.«

»Und was werden Sie dann anfangen?«

Bei der mir bekannten Mißachtung, die Laura gegen alles Belletristische hegte, hielt ich mit meinen Absichten hinter dem Berge und sagte bloß: »Ich weiß noch nicht recht – ich bin eben auf der Suche –«

»Na, Sie werden schon etwas finden. Es ist übrigens ganz vernünftig von Ihnen. Beim Militär ist jetzt nichts mehr zu holen.«

»Für mich gewiß nicht. – Aber sagen Sie mir, haben Sie in Ihrer Familie vielleicht einen Verlust erlitten?« Es war mir nämlich inzwischen aufgefallen, daß Selma in Trauer gekleidet war. Laura allerdings trug wie sonst einen farblosen Habit.

»Verlust? Gott sei Dank, nein. Seit unsere Eltern tot sind, haben wir nicht viel mehr zu verlieren. Aber Sie meinen das wahrscheinlich, weil Selma in Schwarz ist? So ziemt es sich ja für eine trauernde Witwe.«

»Witwe?«

»In ihrem Sinn. Sie ist nämlich überzeugt, daß De Brois eigentlich sie geliebt und die Cortesi nur geheiratet hat, weil er infolge seiner Stellung eine reiche Partie machen mußte. Damit versöhnte sie sich also schließlich, weil sie selbst ihm nichts, oder nur äußerst wenig hätte mitbringen können. Aber sie [52] war seine Seelenbraut – und im Geiste hatte er die Ehe mit ihr geschlossen. Daher betrachtet sie sich jetzt auch als Witwe.«

»Das ist aber –«

»Ein Wahnsinn ist's. Sie befindet sich jedoch sehr wohl dabei. Sie hat ja seit jeher in Einbildungen gelebt und stets ihr Glück im Unglück gefunden. Doch was sagen Sie zu dem dort?« Sie deutete mit den Augen nach einem Herrn, der an einem entfernteren Tische saß und uns halb den Rücken zukehrte.

»Zu dem – –?«

»Erkennen Sie ihn nicht mehr?«

»Bei Gott, das ist ja – –«

»Freilich ist er's. Unser Toggenburg. Aber nicht mehr Student, sondern wohlbestallter Hausbesitzer, da sein Papa das Zeitliche gesegnet hat. Er ist auch, wie Sie sehen, inzwischen ziemlich feist geworden und hat einen Bart gekriegt. Er liebt Selma noch immer. Drei Heiratsanträge hat er ihr schon im Laufe der Jahre gemacht – und immer einen Korb erhalten. Nach jedem blieb er eine Zeitlang weg – nach dem letzten sogar sechs Monate. Ich dachte schon, jetzt hat er genug – aber er hat sich wieder eingefunden – und sitzt dort wie ein angemalter Türk.«

»Er setzt also seine Bewerbungen fort?«

»So scheint's. Und diesmal möglicherweise nicht ohne Erfolg. Selma zeigt sich jedenfalls mürber. Sie gestattet ihm, daß er für einen Augenblick an die Kassa tritt. Sie nimmt Blumen in Empfang, auch Gedichte. Er hat sich nämlich jetzt ganz auf die Dichterei geworfen und gibt Bücher auf eigene Kosten heraus.«

»Vielleicht nimmt sie ihn noch –«

»Ich hätte nichts dagegen. Obgleich es ein Unsinn wäre. Der Mensch ist wenigstens zehn Jahre jünger als sie. Aber wenn er durchaus will, geb' ich meinen Segen. Um so mehr, als wir jetzt das Kaffeehaus verkaufen werden.«

[53] »Warum denn das?«

»Sie sehen ja, in welchem Zustand sich das Lokal befindet. Es ist schon eine wahre Schande. Um es jedoch von Grund auf restaurieren zu lassen, dazu fehlen uns die Mittel. Würde auch nicht viel nützen. Denn das Kaffeehaus ist doch zu entlegen, als daß trotzdem mehr Gäste kämen. Und da sich ein Käufer gefunden hat, so geben wir's her. Just zur rechten Zeit, denn auch ich werde heiraten.«

»Sie!«

»Nicht wahr, da staunen Sie? Aber ich begehe keine Torheit. Ich heirate meinen Fraint. Also eine Vernunftehe, wie sich's gehört. Der Inhaber des Pensionats ist alt und müde geworden, er will die Anstalt aufgeben. Mein Zukünftiger wird sie übernehmen. Das heißt, eine andere, größere ins Leben rufen.«

»Ich gratuliere.«

»Danke. Wir werden schon prosperieren. Denn wir wollen alles aufs zeitgemäßeste einrichten. Haben auch schon ganz passende Lokalitäten in einem neu gebauten Hause der Marokkanergasse in Aussicht. Ich leite das Ökonomische. Auch sonst bin ich nicht auf den Kopf gefallen.«

»Das ist bekannt, verehrte Laura. Aber so geht jetzt die Schwestertrias auseinander. Und zwar auf dem ganz naturgemäßen Wege der Ehe. Wenn ich recht vermute, hat Fräulein Berta diesen Weg bereits betreten.«

»Ja. Die hat schon vor drei Jahren geheiratet. Ihren Oberstleutnant.«

»Also doch.«

»Gewiß. So dumm sie ist, ihren Vorteil hat sie doch wahrgenommen. Dabei ist sie aber die alte Närrin geblieben. Noch immer den Kopf voll mit Liebesgedanken – und desperat, daß sie ihren Mann, der krankheitshalber in Pension ging, Pflegen und warten muß. – Aber wenn man sie nennt, kommt sie gerennt.« Laura wies nach der Eingangstür.

[54] Diese war hastig geöffnet worden, und herein trat Berta in auffallendem Straßenputz, das runde Antlitz dicht verschleiert; auf den noch immer sehr vollen dunklen Haaren saß ein unter Blumen und Federn verschwindender Hut. Kaum hatte man sie wahrgenommen, so sprangen auch schon einige Offiziere von ihren Sitzen auf und eilten ihr entgegen. Sie ergriff und schüttelte die dargereichten Hände, wobei sich sofort ein lautes Geschäker entwickelte.

»Da sehen Sie nur,« raunte mir Laura zu, »wie sie sich schön tun läßt! Der Mensch ändert sich nicht.«

Nun trat Berta auch an uns heran. Es gab eine Erkennungsszene. Berta war sehr liebenswürdig. Da sie endlich sagte, sie sei gekommen, ihrer Schwester eine Mitteilung zu machen, nahm ich die Gelegenheit zum Aufbruch wahr und empfahl mich.

»Leben Sie wohl«, sagte Laura. »Und kommen Sie bald wieder. Sie dürften uns nicht lange mehr hier antreffen.«

3.

III.

Ich sah die Parzen nicht wieder. Zwar hatte ich mir vorgenommen, das Kaffeehaus wenigstens noch einmal zu besuchen, aber es kam allerlei dazwischen – und als ich endlich doch hingelangte, war es bereits in anderen Besitz übergegangen. So schwanden die drei Schwestern aus meinem Gesichtskreis und im Laufe der nächsten Jahre auch ganz und gar aus meinem Gedächtnis.

Da schrieb mir eines Tages ein Bekannter, der auf dem Lande lebte, er sei gesonnen, seinen nunmehr zehnjährigen Knaben in einem Wiener Privatinstitute unterzubringen. Er baue dabei auf mich, und ich möchte fürs erste Erkundigungen einziehen, dann würde er auf meinen Rat hin das Weitere beschließen. Mir fiel natürlich sofort das Institut ein, das Laura mit ihrem Zukünftigen errichten wollte. Ihre damaligen Angaben erschienen mir vertrauenswürdig, und so wollte ich jedenfalls [55] nachsehen, der Ort war mir ja bekannt. Nachdem ich eines schönen Morgens – es war im Juni – im Stadtpark gefrühstückt hatte, schlenderte ich gemächlich nach der Marokkanergasse. Ich nahm auch bald eines der neuern Häuser wahr, an welchem eine schwarze Tafel mit der Inschrift prangte: Institut Feichtenböck. Laura hieß also jetzt Frau Feichtenböck, was ich nicht wissen konnte, da man ihren Freund immer nur den »Professor« genannt hatte. Im ersten Stockwerk angelangt, las ich gleich an der nächsten Tür das Wort »Direktion«. Ich drückte an die Klingel. Ein nettes Stubenmädchen in weißem Häubchen öffnete und nahm mir auf die Anfrage, ob die »Gnädige« anwesend sei, meine Karte ab. Nach einer Weile kam sie mit dem Bescheid zurück: die Frau Direktor lasse bitten, in das Sprechzimmer zu treten, sie werde gleich dort erscheinen. Ich begab mich also in den mäßig großen, ziemlich kahlen Raum. An den Wänden das Bildnis Pestalozzis und eingerahmte Veduten in photographischer Aufnahme. Ein schmales, grünbezogenes Sofa, einige Stühle mit sehr hohen geraden Lehnen. Jetzt öffnete sich eine Seitentür, und Laura erschien, die ich beim ersten Blick nicht wieder erkannte, so sehr hatte sie sich verändert. Sie war nämlich, wie das bei mageren Personen zuweilen vorkommt, unförmlich dick geworden. Ein wahrer Koloß stand vor mir, und ich hatte Mühe, ein Auflachen zu unterdrücken.

»Sie sind es also wirklich?« fragte sie jetzt gedehnt, indem sie mich mit ihren hinter den Wangenwülsten fast verschwindenden Augen nicht allzu freundlich ansah. »Was wünschen Sie denn eigentlich?« Sie musterte dabei ziemlich mißtrauisch meinen äußeren Menschen. Jedenfalls hatte sie Kenntnis von meinem Berufe und vermutete vielleicht irgend ein mißliebiges, rein persönliches Anliegen. Da ich aber sogleich mit knappen Worten auf meinen Gegenstand zu sprechen kam, erhellte sich ihr nunmehr vollständig kupfriges Antlitz. Sie lud mich ein, neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen, und nach einer kurzen, [56] energisch geführten Verhandlung waren wir vollständig im Reinen.

»Also abgemacht!« sagte sie, halb kreischend, halb fauchend. »Ihr Freund wird allen Grund haben, zufrieden zu sein. Wir werden auf den Knaben besonders achten. Zu Beginn des nächsten Schuljahres kann er aufgenommen werden. Auch sofort, wenn es besonders gewünscht wird.«

Das Geschäftliche war somit erledigt. Eine kleine Pause trat ein. Dann aber wandte sich mir Laura mit halbem Leibe zu und sagte wieder einigermaßen gedehnt: »Sie sind also unter die Dichter gegangen?«

»Leider, Frau Direktor, leider –«

»Nun, Sie haben ja Erfolge aufzuweisen. Aber freilich, ein Schiller oder ein Goethe kommt nicht wieder.«

Ich ließ diese sehr richtige Bemerkung schweigend über mich ergehen.

»Und wie geht es Ihnen sonst?« fuhr Laura fort.

»Erträglich. Jedenfalls nicht so gut wie Ihnen. Sie sehen wahrhaft blühend aus.«

»Ja. Ich habe sehr zugenommen in den letzten Jahren. Auch sonst macht sich alles aufs beste. Die Anstalt floriert.«

»Und haben Sie vielleicht Familie?« fragte ich anzüglich. Die Möglichkeit war ja nicht völlig ausgeschlossen.

»Familie? Was fällt Ihnen ein! Damit befassen wir uns nicht. Das lassen wir anderen Leuten über.«

»Wenn jeder so dächte, Verehrte, wie stände es da um Ihr Pensionat? – Aber was machen denn Ihre Schwestern?«

Laura tat einen Ruck nach seitwärts. »Meine Schwestern? Die haben einen sehr traurigen Ausgang genommen. Selma sitzt im Irrenhause.«

»Im Irrenhause?«

»Wie vorauszusehen war. Übrigens gab ein eigentümlicher Umstand die nächste Veranlassung. Sie hatte sich zuletzt doch entschlossen, ihren Toggenburg zu nehmen. Es war [57] schon alles in Ordnung gebracht und der Hochzeitstag festgesetzt. Da erkältet sich der glückliche Bräutigam, bekommt eine Lungenentzündung – und stirbt. Dieser Tod erschütterte den schwachen Geist Selmas. Nicht daß sie etwa diesen Verlust sehr schmerzlich empfunden hätte. Er ließ sie vielmehr ziemlich gleichgültig. Aber sie betrachtete ihn als höhere Fügung. Sie hatte immer bigotte Anwandlungen gehabt und erkannte nunmehr, daß sie zur Himmelsbraut bestimmt sei. Sie wollte durchaus ins Kloster gehen. Aber es gab da Schwierigkeiten. Sie hatte ja das Novizenalter längst überschritten, nur ein Orden der Barmherzigkeit würde sie aufgenommen haben. Dazu jedoch fehlte ihr das Zeug. Sie wurde also Betschwester in optima forma. Von früh bis abends saß und kniete sie in der Universitätskirche. Dabei vernachlässigte sie ihr Äußeres, daß es ein Jammer und eine Schande war. Das reine Kerzelweib, sage ich Ihnen. Endlich kam der religiöse Wahnsinn mit einer fixen Idee zum Durchbruch. Sie bildet sich ein, sie sei die unbefleckte Jungfrau Maria, die den Heiland gebären muß. Unheilbar.«

»Sehr bedauerlich. – Und Berta?«

»Von der sollte man eigentlich gar nicht reden. Mich wundert nur, daß Sie ihr Schicksal nicht durch die Zeitung erfahren haben.«

»Es muß mir jedenfalls entgangen sein.«

»Nun also. Sie hatte das Unglück – oder ihrer Empfindung nach das Glück, ihren Mann zu verlieren. Er starb an der Wassersucht. Das Vermögen, das er ihr hinterließ, war nicht unbeträchtlich; sie selbst besaß einiges – und überdies hatte sie Anspruch auf Pension. Sie hätte also ein sorgenloses Wittum gehabt. Aber die Liebe! Denken Sie nur – man schämt sich ordentlich, es auszusprechen: sie vernarrte sich in einen ganz jungen Menschen – in den Kommis einer Modewarenhandlung, der übrigens aus ziemlich gutem Hause war. Ein sehr flotter Jüngling, der sich um so mehr zu einem fliegenden [58] Verhältnis herbeiließ, als ihm Berta ein höchst angenehmes Leben bereitete. Übrigens übte sie ja noch immer höchst merkwürdigerweise eine gewisse Anziehungskraft aus. Als sie aber weiterging und ihm mit einer Heirat auf den Leib rückte – sie wollte für ihn ein ansehnliches Stadtgeschäft erstehen – da riß er aus. Und als sie jetzt nicht nachgab, ihn verfolgte und mit ihren Zärtlichkeiten bestürmte, wurde er brutal. Darüber geriet sie außer sich, bekam Nervenzufälle, magerte ab bis zum Schatten. So ging sie umher, ein Bild der Verzweiflung, mit zitternden Armen und Händen. Nach einem letzten fruchtlosen Versuche, ihn wieder zu fesseln, lief sie in das nächste Haus, stieg zum obersten Stockwerk hinan und stürzte sich durchs Fenster auf das Pflaster hinab.«

Ich erwiderte nichts.

»Und mit solchen aberwitzigen Sachen haben jetztSie sich zu beschäftigen! Müssen noch ärgere erfinden! – Aber das Merkwürdigste dabei war, daß sie dem Treulosen testamentarisch ihr ganzes Vermögen vermacht hat. Übrigens muß zu seiner Ehre gesagt sein, daß er es nicht annehmen wollte. Aber seine habgierigen Eltern – er selbst war ja noch nicht einmal majorenn – hatten die Frechheit, in seinem Namen darauf zu bestehen. Wir haben natürlich Einsprache erhoben, denn der geistige Zustand der Erblasserin war kein normaler. Es kam zum Prozeß, den wir allerdings nur halb gewannen. Das heißt, bloß die Hälfte des Kapitals konnte für uns gerettet werden.«

Inzwischen war die Seitentür leise aufgegangen und der Herr Direktor im Gemach erschienen. An ihm hatte sich nichts verändert; nur in dem schütteren Haupthaar und in dem fuchsigen Backenbärtchen zeigten sich Silberfäden. Er trat näher, wobei er mich mit seinen kurzsichtigen wasserblauen Augen forschend durch die Brille betrachtete.

»Der Herr ist wegen Aufnahme eines neuen Zöglings gekommen«, sagte Laura, die gleich mir vom Sofa aufstand, mit [59] erhobener Stimme. »Du kennst ihn wohl noch? Aus dem Kaffeehause –«

Der Gatte brachte mir das rosenrote Antlitz noch näher, schüttelte jedoch den Kopf.

»Herr –«, sie nannte meinen Namen.

»Ah, der – der –«

»Dichter!« schrie Laura. Herr Feichtenböck schien etwas schwerhörig zu sein.

»Richtig, richtig – sehr bekannt –«

»Und ich wünsche ihm Glück auf seiner weiteren Laufbahn«, sagte Laura, die mir jetzt wohlwollend die Hand zum Abschied reichte. »Freilich, ein Goethe oder Shakespeare –« Sie vollendete den Ausspruch nicht und verschwand, während mich der Herr Direktor äußerst höflich ins Vorzimmer hinaus komplimentierte.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 5. Teil. Die Parzen. Die Parzen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AE8C-E