[292] St. Amarus

Wer bist du, wunderbarer Greis? Es regt
Sich rastlos, wie das Laub, vom Wind bewegt,
Im Sturme des Gedankens deine Lippe!
Du scheinst kein Sterblicher von unsrer Art;
Vom Kinn zur Erde fließt dein weißer Bart,
So wie der Bergstrom von bemooster Klippe.
Von Runzeln ist die Stirn dir tief gefurcht;
Auf deinem Antlitz scheint – ich seh's mit Furcht –
Der Schatte von Jahrtausenden zu liegen;
Die greise Erde dünkt mich minder alt;
Wie Wetterleuchten durch Gewölke, wallt
Ein ruheloser Geist in deinen Zügen.
Bist einer du – denn alte Kunden gehn,
Man habe solche hie und da gesehn –
Von jenen, die schon vor der Sündflut waren?
Bist von den Brüdern du aus Ephesus,
Die in der Höhle felsigem Verschluß
Den Schlaf verträumt von siebenhundert Jahren?
»Du fragst, o Fremdling, und mein Mund bekennt!
Von dem, was ihr auf Erden Jahre nennt,
Sah ich kaum dreißig mir vorüberschweben;
Doch wenn du jenen düstern Abgrund meinst,
In dem das Jetzt verschwindet und das Einst,
So lebt' ich hundert Menschenleben.
Was, blöde Thoren, redet ihr von Zeit,
Von Zukunft was und von Vergangenheit?
Ich sah das Eine, Ew'ge, Riesengroße!
In ihm verwehn Jahrtausende wie Rauch,
Und wieder trägt ein Augenblick, ein Hauch,
Die ganze Ewigkeit im Schoße.
[293]
»Noviz im Kloster ward ich vor nicht lang;
Ich strebte brünstig und mit heißen Drang
Nach jenem Glauben, den wir haben sollen;
Doch oft von Zweifeln ward mein Geist versucht
Und irrte, wie ein Strom in finstrer Schlucht,
Im Labyrinth des Wundervollen.
Einst beteten die Mönche nachts im Chor.
Ich kniete beim Altare; an mein Ohr
Schlug ihr Gesang so wie mit Geisterschwinge;
Es war der Psalm, der von der Ewigkeit
Und ihren Wundern spricht – wie vor der Zeit
Sie war, und wie sie alle Zeit verschlinge.
Dies Unermeßliche, dies ew'ge Eins –
So dacht' ich, und die Tiefe meines Seins
Erzitterte den wogenden Gedanken –
Es kann nicht sein! Ein Thor, wer solches glaubt!
Der Zweifel lag wie Nacht auf meinem Haupt,
Und unter mir den Boden fühlt' ich wanken.
Da scholl die Glocke eins herab vom Turm;
Es brauste durch die Wölbung wie ein Sturm,
Und einen Engel sah ich niedersteigen;
Vom Glanz, der ihm entfloß, ward ich wie blind:
›Du zweifelst?‹ – sprach er – ›Komm denn, Erdenkind,
Und was noch keiner sah, will ich dir zeigen!‹
Ich bebte scheu zurück, doch wundersam,
Als in die Hand er meine Rechte nahm,
Ward ich vom Wirbelwind hinweggerissen;
Das Kloster schwand, die Erde schwand zurück;
Nur schwach noch glomm sie meinem zagen Blick,
Ein Lämpchen, aus den Aetherfinsternissen.
Und wie mich, schneller als Gedankenflug,
Der Gottesbote durch den Himmel trug,
[294]
Sah ich sich die Unendlichkeit verbreiten,
Sah Firmament gereiht an Firmament,
Und jene Lichter, die ihr Sterne nennt,
So groß wie Welten mir vorübergleiten.
Es flatterte das unheure All
An mir vorbei mit Sonnenball an Ball
Und goß – so tanzen auf des Stromes Wogen,
Der in den Abgrund rollt, die Perlen Schaums –
Hinunter in den Schlund des ew'gen Raums
Die Sternennebel und die Himmelsbogen.
Was, wenn zu Trümmern längst die Erde ward,
Erst nach Jahrtausenden des Daseins harrt,
Trat vor mich fremd und unverstanden,
Indes der Urzeit Riesen wunderbar
Mit der verschollnen Welt, die sie gebar,
Sich dem äonenalten Grab entwanden.
O Ewigkeit! Nur stammelnd spricht mein Mund
Von deinen Wundern! Keiner thut sie kund,
Selbst die Erles'nen nicht und die Propheten!
Im Staube und verhüllt bet' ich dich an,
Und was die Zunge ferner sagen kann,
Verstumme auf der Lippe zu Gebeten!
Du aber wisse, Freund, und dann genug!
Ertragen hab' ich, was kein Geist ertrug,
Nicht Ahasver noch die Sibylle;
Der Schöpfung erstes Aufblühn und Vergehn,
Das ungeborne Einst hab' ich gesehn
Und in dem Jetzt der Zeiten ganze Fülle.
Und als ich Myriaden so geschaut
Von Menschenaltern – nein, mir fehlt der Laut
Für das, was jener Augenblick verschlungen –
Da kniet' ich am Altare wie zuvor;
[295]
Noch schlug der Psalm der Mönche an mein Ohr,
Noch war der Schlag der Glocke nicht verklungen.
Zernichtet sank ich nieder, lauten Schreis;
Die Brüder nahten sich: ›Wer ist der Greis?
Für seine Ruhe betet aus dem Psalter!
Wohl hundert Winter bleichten ihm das Haar!‹
Sie ahnten nicht, daß der Noviz ich war
Und so im Nu verwelkt zum Greisenalter.«

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TextGrid Repository (2012). Schack, Adolf Friedrich von. Gedichte. Gedichte. 3. Romanzen und Balladen. St. Amarus. St. Amarus. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B531-0