[505] 4. Verwehte Blätter
Zweites Buch

1.

Einst glänzte am Himmel droben
Ein Stern so hell, so rein;
Oft hab' ich den Blick erhoben
Zu seinem goldenen Schein.
Wenn ich ihm mein Sehnen vertraute,
Mein Hoffen und meine Qual,
Trost und Entzücken taute
Auf mich hernieder sein Strahl.
Wo blieb er? Suchend am Himmel
Schweift mein Auge umher;
In all der Sterne Gewimmel
Find' ich den einen nicht mehr!

2.

Heb, o hebe die Hülle nie
Von den modernden Särgen,
Die in der Seele begraben sind!
Ruhen, bis dein Leben verrinnt,
[506]
Mögen die Toten alle, die sie
Drunten dem Tagslicht bergen.
Weh dir, wenn du den Deckel hubst!
Hin durch dein Inneres schleichen
Wird bis tief in sein Mark ein Graun,
Wenn sie dir starr in das Antlitz schaun,
Alle die Freuden, die du begrubst,
Aller der Hoffnungen Leichen.

3.

Wenn mitternächtig auf den Gassen
Des Tages letzter Lärm verhallt,
Weil' ich allein in deinem Zimmer
Und sehe, wie des Mondes Schimmer
Zu all den Plätzen, nun verlassen,
Mit blassem Dämmerscheine wallt.
Ein leises Zittern schleicht, ein Beben
Hin an den Wänden, bang und stumm;
Der Rosenstrauch, den du begossen,
Strömt Duft aus Kelchen, neu erschlossen,
Und träumend hinter seinen Stäben
Regt sich der Zeisig wiederum.
Im Strahl des Mondes tönt mit matten,
Gebrochnen Klängen das Klavier;
In Wonne halb und halb in Trauer
Zieht durch die Saiten hin ein Schauer –
Ich fühle, aus dem Reich der Schatten,
Adele, ist's ein Gruß von dir!

[507] 4.

Giebt es noch neuen Gram für mich,
Seitdem ich sie verloren habe?
Wohl manches Mal noch überschleicht
Mich ein Gefühl, das neuem Kummer gleicht;
Dann will ich zu ihr eilen,
Bei ihr die Wunde auszuheilen;
Doch plötzlich sag' ich mir: sie liegt im Grabe,
Und in dem alten stirbt der neue Schmerz.
Ist eine Freude noch für mich,
Seitdem ich sie verloren habe?
Wohl hie und da noch, halb mir unbewußt,
Regt sich ein froh Gefühl in meiner Brust;
Dann will ich zu ihr eilen,
Sie soll mit mir die Freude teilen;
Doch plötzlich sag' ich mir: sie liegt im Grabe,
Und fühle größer noch den alten Schmerz.

5.

Was fliegt das Schiff, was lenkt das Steuer
Den Kiel durch dunkelblaue See?
Ach! zu der einen, die mir teuer,
Trägt mich der Wellen keine je!
Klar, aus des Ostens Purpurquelle,
Strömt auf das Meer des Frührots Glut,
Und jubelnd in der goldnen Helle
Berauscht sich die beschäumte Flut.
Und Inseln, duft'ge Küsten schwimmen
An mir vorbei im Morgenwehn,
Und zwischen Palmenhainen glimmen
Die goldnen Kuppeln von Moscheen.
[508]
Doch ob sich mir mit lichten Thoren
Der Orient erschließen mag,
Zu ihr zurück, die ich verloren,
Blick' ich in den gesunknen Tag.
Fern dort bei Sturm und Blättertreiben
Blinkt weiß ein Grabstein durch die Nacht;
Da schläft sie unter dunklen Eiben
Den Schlaf, aus dem sie nie erwacht.

6.

Wieder schreit' ich längs des Stromes,
Wo uns, wenn mit ihr ich ging,
Trunken an des Himmelsdomes
Abendglanz das Auge hing.
Da bei Glocken-Spätgeläute,
Das in milden Melodien
Durch das Laub scholl, überstreute
Uns mit Blüten der Jasmin;
Und die Abendnebel rauchten
Golden aus der Felsenkluft;
Zwischen unsre Küsse hauchten
Wilde Rosen ihren Duft.
Stumm ist nun der Klang der Glocken,
Längst der Blumen Duft verweht,
Und des Stromes Wellen stocken,
Wo mein Fuß vorübergeht;
Auf zum dunkel-abendroten
Himmel blick' ich trauerbang:
Denn der Schatten einer Toten
Geht mit mir das Thal entlang.

[509] 7.

Welch ein Schimmern rings und Leuchten!
Funkelnd in des Morgens Strahl
Sprühn die Tropfen von den feuchten
Zweigen nieder in das Thal.
Licht auf den beeisten Spitzen,
Licht selbst tief im Abgrundschacht!
Ach! durch all das Strahlen, Blitzen
Trag' ich einsam meine Nacht.

8.

Die Nacht ist schaurig und finster,
Der Friedhof mit weißen Flocken bestreut;
Hernieder vom alten Münster
Im Winde wallt der Glocken Geläut.
Sie alle, die oft mir erklungen,
Wie tönen mir ihre Stimmen vertraut!
Die hat mich in Schlaf gesungen,
Und die mich geweckt mit dem ersten Laut.
Und unter den steinernen Platten
Quillt es hervor wie Leichenduft;
Geschwundener Stunden Schatten
Entschweben bei den Klängen der Gruft.
Errötend, dann neu sich entfärbend,
Von sel'ger Zeit mir flüstern sie;
Um ihre Lippen hallt sterbend
Verschollener Lieder Melodie.
Von weißen Rosen umwunden
Sind ihre Stirnen; sie reißen sie ab
[510]
Und zeigen mir blutende Wunden –
Ich sinke bebend hin auf ein Grab.
Hernieder durch stäubende Flocken
Bricht matt des Mondes Glanz,
Und fort beim Schalle der Glocken
Wallt mir zu Häupten der Geistertanz.

9.

Am Tage bang und herzbeklommen
Schreit' ich dahin auf ödem Pfad,
Bis, wenn sein dreistes Licht verglommen,
Die vielersehnte Stunde naht.
Sie, die im Tod mich nicht vergessen,
Auf kurz dann darf ich wiedersehn;
Herüber von den Grabcypressen
Schwebt sie zu mir im Abendwehn.
Von ihrem Atemzug, dem reinen,
Umhaucht fühl' ich mich wiederum;
Sie drückt die Lippen auf die meinen,
Und Seele hängt an Seele stumm.
Wie mahnend in mein Auge sieht sie
Legt ihre Hand in meine matt,
Und leis zu sich hinab mich zieht sie
In ihre dunkle Grabesstatt.
Und wo ich nach des Lebens Streite
Ruhn soll im stillen Friedenshaus,
Dort unten träum' ich ihr zur Seite
Den Traum des Todes schon voraus.

[511] 10.

Das mir sonst so froh erklungen,
Deinem Liede, o! warum
In den grünen Dämmerungen
Lausch' ich jetzt so trauerstumm?
Schwer von Wonnen, nun geschwunden,
Holde Sängerin der Nacht,
Mahnt es mich an jene Stunden,
Die ich selig hier durchwacht.
Wieder nun wallt von den Beeten
Blütenodem durch die Luft,
Doch von frühern, längst verwehten
Lenzen ist es nur der Duft;
Und Erinnerungen fluten
Auf der Töne Strom heran –
Ach! mir will das Herz verbluten
In des Liedes süßem Bann.
Antwort einst mit frohem Pochen
Gab es ihm, o Nachtigall!
Doch in Herzen, die gebrochen,
Traurig tönt sein Wiederhall!

11.

Ringsum nun wird es stille,
Indes der Tag versinkt
Und froh im Gras die Grille
Den Tau der Dämmrung trinkt.
Aufsteigt die Nacht im Westen,
Sie atmet hörbar kaum
[512]
Und wiegt von Ast zu Aesten
Den Wald in Schlaf und Traum.
Den Vögeln, wie sie brüten,
Drückt sie die Augen zu
Und lullt im Thal die Blüten,
Die Aehren all in Ruh.
Komm, Mutter Nacht, und lege
Die Hand aufs Herz mir mild,
Daß sie die wilden Schläge
Dem Ruhelosen stillt!

12.

So find' ich wieder dich nach Jahren
Und sehe wiederum die Zeit,
Als schuldlos wir und glücklich waren,
Erstehen, doch im Sterbekleid.
Wie matt dahin durch deine Rechte
Das Blau der welken Ader schleicht!
Wie hat der Gram durchweinter Nächte
Das schöne Antlitz dir gebleicht!
Wozu die alte Liebe wecken?
Entsteigen würde, schattenbleich,
Nur ihr Gespenst, um uns zu schrecken,
Sie selber nicht, dem Totenreich.
Für immer sei es denn geschieden,
Wie wir für immer ausgeliebt!
Im Tode such', wie ich, den Frieden,
Den uns das Leben nimmer giebt.

[513] 13.

Der Landmann geht zu feiern,
Von Sonnenglut versengt,
Die sanft mit seinen Schleiern
Der Abend nun verhängt:
Es huscht durch laub'ge Aeste
Der Hänfling heim zum Neste,
Wo auf den warmen Eiern
Sein Weibchen ihn empfängt.
Schon ruht in süßer Zelle
Die Biene arbeitsmatt,
Zum Schlaf streckt die Libelle
Sich auf das Lindenblatt;
Zum Dorfe kehrt der Mäher,
Und nah schon glänzt und näher
Das Lämpchen ihm, das helle,
Von seiner Lagerstatt.
Nicht fehlt die Ankerkette
Dem müden Rudersmann,
Dem Rehe nicht sein Bette
In Buchwald oder Tann,
Und nicht die Schlucht dem Winde,
In der er Ruhe finde;
Wo aber ist die Stätte,
Darauf ich ruhen kann?

14.

Auf morgen mir ein Wiedersehen
Verhießest du mit letztem Wort;
Da riß des Schicksals Sturmeswehen
Dich unerbittlich von mir fort.
[514]
Umsonst durchforscht' ich Länder, Städte,
Wo deine Spur auf Erden sei;
Statt deiner zog, so viel ich spähte,
Die fremde, kalte Welt vorbei.
Von Orte trieb es mich zu Orte,
An alle Häuser klopft' ich an;
Doch immer wurde mir die Pforte
Von fremden Händen aufgethan.
Und ob zum fernsten der Gestade
Wir schweifen über Land und Meer,
Nicht einer führt der Erdenpfade
Mich zu dir hin, dich zu mir her.

15.

Nach des Frühlings blühendem Glück
Und des Herbstes strotzenden Garben
Nun Felder, kalt vom November bereift!
Durch Nebel und stäubende Flocken schweift
Mein Blick in dämmernde Fernen zurück
Zu Wonnen, die lang erstarben.
Nach des Morgens tauigem Glühn
Und des Mittags leuchtendem Strahle
Nun Nacht und des Mondes eisiger Schein –
In Mitte des Friedhofs steh' ich allein
Und kränze mit dunklem Cypressengrün
Verwitternde Totenmale.

[515] 16.

Noch, die Zweige überdeckend,
Herbstlaub, das nicht weichen will!
Und schon neue Knospen weckend
Naht der fröhliche April.
Seine Wipfel ihm entgegen
Freudeschauernd wirft der Wald;
Nur in meiner Brust kein Regen!
Alles starr und winterkalt!
Eh bei Nachtigallenschmettern
Wieder grünt das junge Laub,
Stumm mit den gewelkten Blättern
Sinkt mein Leben in den Staub.

17.

Fremd ging ich sonst an dir vorüber;
Froh lachte mir der Lebenstag;
Ich floh den Gram, der wie ein trüber
Nachtschatten auf der Stirn dir lag.
Verstummt an Gräbern, über Leichen
Seitdem ist meiner Lippen Scherz;
Laß uns die Hand einander reichen!
Dein Bruder bin ich nun im Schmerz.

18.

Getrost! der Weg war heiß und lang,
Allein der Abend kommt;
Gesorgt ist, sei darum nicht bang,
Für alles, was dir frommt.
[516]
Die Schatten werden länger schon
Und kühl're Lüfte wehn;
Vom Turme hallt der Glocke Ton
Und mahnt zum Schlafengehn.
Bald thut sich dir das Rasthaus auf,
In dem für alle Raum;
Da labt dich nach dem Tageslauf
Ein Schlummer ohne Traum.

19.

In der Schlucht hat schon zu dichten
Haufen sich das Laub getürmt.
Während neu der Herbstwind Schichten
Welker Blätter niederstürmt.
Aber durch das Sturmgetose
Und den Moderdunst der Kluft
Haucht noch einsam eine Rose
Ihres Kelches süßen Duft.
Liebe! Aus begrabnen Jahren
In mein Leben, längst verdorrt,
Hauchst du deine wunderbaren
Milden Düfte fort und fort.

20.

Wenn flüchtig wir einander nahten,
War deine Rede scheu und karg;
Durch nichts ward mir der Schatz verraten,
Den deine Seele still verbarg.
[517]
Erst kurz, eh unter schwarzer Hülle
Sie dich im Tempel aufgebahrt,
Hat sich in ganzer Liebesfülle
Dein schönes Herz mir offenbart.
Empor schlug da im dunkelroten
Lichtglanz die lang verhaltne Glut;
Doch schon auch in das Reich der Toten
Trug dich hinab die dunkle Flut.
Nun neu im wilden Weltgetriebe
Steh' ich verlassen, wie ich stand,
Und such' umsonst ein Herz voll Liebe
Wie deins, das ich zu spät erkannt.

21.

Deine blassen, blassen Wangen,
O des Himmels Purpurlicht
In des Frührots erstem Prangen
Deucht so schön wie sie mir nicht.
Hie und da noch um die weißen
Spielt ein rötlich-matter Strahl,
Dann dem Grab sie zu entreißen
Ringt das Leben noch einmal.
Doch erloschen schnell, vergangen
Ist das flücht'ge Rosenrot;
Deine blassen, blassen Wangen
Locken mich zu süßem Tod.

[518] 22.

Mein Herz ist stumm, mein Herz ist kalt,
Erstarrt in des Winters Eise;
Bisweilen in seiner Tiefe nur wallt
Und zittert und regt sich's leise.
Dann ist's, als ob ein mildes Taun
Die Decke des Frostes breche;
Durch grünende Wälder, blühende Aun
Murmeln von neuem die Bäche.
Und Hörnerklang, von Blatt zu Blatt
Im Frühlingswinde getragen,
Dringt aus den Schluchten ans Ohr mir matt,
Wie ein Ruf aus seligen Tagen.
Doch das alternde Herz wird jung nicht mehr,
Das Echo sterbenden Schalles
Tönt ferner, immer ferner her,
Und wieder erstarrt liegt alles.

23.

Nacht ruht auf dem Geist mir düster und schwül,
Ich fühl' ein Brausen im Hirn;
O neig dich herab auf meinen Pfühl
Und leg mir die Hand auf die Stirn!
Nur sie, die liebe, die weiße Hand,
Vermag mir zu lindern den Fieberbrand.
Das wallt von ihr nieder wie Frühtau mild,
Wie West, der um Blüten kost;
Es legt sich der Sturm, ob noch so wild,
Der mir im Haupte getost,
Und meine Seele blickt klar wie zuvor
In deiner Augen Himmel empor.

[519] 24.

Verhängt dein Fenster, dein Stübchen leer,
Und du in die Weite gezogen!
Was soll mir der Mai in den Gärten umher,
Und des Kornfelds Wallen und Wogen?
Ich wünsche den eisigen Januar
Zurück, und die Nächte, die langen,
Als mich umwallte dein Lockenhaar,
Mich deine Arme umschlangen.
Da schritt ich über den dröhnenden See
Zu dir und dem harrenden Glücke
Und wieder von dannen durch Sturm und Schnee
Auf des Eises fliegender Brücke.
Mir wußte das Herz vom Froste nicht,
Noch den nächtlichen Finsternissen:
Es strahlte von deiner Augen Licht
Und glühte von deinen Küssen.

25.

So oft in mein Aug', o Kleine,
Von deinen Blicken ein Lichtstrahl fällt,
Wird wieder von Frühlingsscheine
Die erstorbene Seele mir sanft erhellt;
Ein Beben und Sprossen und Keimen,
Wie auf der Flur bei des Ostwinds Wehn,
Beginnt in ihren geheimen
Grabkammern, ein Werden und Auferstehn.
Bei Nachtigallengeschmetter
Regt Knosp' an Knospe, die aufblühn will,
[520]
Im Kelche die zarten Blätter;
Dann wieder alles öde und still.
Und ach! wenn der wonnige Schauer
Verflogen, der mich flüchtig durchrann,
Bleibt mir im Herzen nur Trauer,
Daß ich wie sonst nicht mehr lieben kann.

26.

Nun ziehen die Wolken durchs lichtere Blau,
An grünen Halmen zittert der Tau;
Von Blumen schillert der Rasen bunt
In der fröhlichen Winde Wehen,
Und die Primel steigt aus dem Wiesengrund,
Um den leuchtenden Himmel zu sehen.
Mit Drosselgesang und Wachtelschlag,
Wie umfängst du mich wonnig, strahlender Tag!
Doch wo ist die Stimme, die einst mich rief,
Und die Hand, die meine gedrückt,
Und wo das Auge, so blau, so tief,
Das einst in meines geblickt?

27.

Verstummt, ihr fröhlichen Gesänge
Von Liebeslust und Lebensglück!
Wie in Ruinen, tiefzerfallen,
Die Abendwinde wiederhallen,
Dumpf tönt ihr nur als Trauerklänge
Aus meinem Herzen noch zurück.
Versunken liegt, in fernen Weiten,
Die Welt, in der ich glücklich war,
[521]
Und hauptverhüllte Schatten tragen
Mir Bilder her aus alten Tagen
Und schluchzen in den Schall der Saiten:
Dahin, dahin für immerdar!

28.

Im brausenden Sturz hinab in die Schlünde
Wie jubeln die Bäche, vom Eise frei!
Wie hallt im Winde durch Schluchten und Gründe
Das Alpenhorn und des Hirten Schalmei!
Heim kehrt durch des Himmels lichtere Bläue
Von Süden der wandernden Vögel Schar,
Und jeder findet den Zweig aufs neue,
Auf dem er genistet im letzten Jahr.
Und bei der Lieder fröhlichem Schalle
Auf grünt und blüht und duftet der Baum –
Ich kenn' euch, ihr Stimmen, ich kenn' euch alle;
Mir ist, als erwacht' ich aus düsterem Traum.
Komm, Jugend, komm, Liebe! Was laßt ihr mich harren?
Zum Herzen, das einst so froh, so kühn,
Kehrt wieder zurück, dem winterlich starren,
Und laßt es von neuem duften und glühn!

29.

Der mich geboren, zweiter August,
Deiner tauigen Dämmerung Lust,
Könnt' ich je sie versäumen?
Eh noch ein Lichtstrahl die Lerche weckt,
Auf den Hügel lieg' ich gestreckt
Unter den schlummernden Bäumen;
[522]
Höre den Bach im Morgenwind
Lallen wie ein erwachendes Kind,
Und das frohe Geschmetter
All der gefiederten Sänger umher,
Wie sie mit Flügeln, von Tau noch schwer,
Huschen durch zitternde Blätter.
Und in der Frühe säuselndem Hauch
Alle die munteren Geister auch
Fühl' ich im Herzen erwachen;
Wie, wenn die Stunde des Lernens vorbei,
Knaben sich jagen mit Jubelgeschrei,
Tummeln sie sich und lachen,
Wecken zum Singen die Vögel im Nest,
Schütteln mir Aepfel herab für das Fest,
Nüsse vom Haselgestäude –
Zweiter August, du, der mich gebar,
Immer verjünge von Jahr zu Jahr
So mir der Kindheit Freude!

30.

Während mit den Sternenaugen
Ueber uns der Himmel wacht,
Oeffne deinen duft'gen Kelch mir,
Heil'ge Wunderblume, Nacht!
Wonne, der zerstreuten Seele,
Die der Tag verwirrt, zu groß,
Himmlisches Entzücken strömt mir
Tief aus deinem Blätterschoß.
Von dem Duft, der unergründlich
Aus dem Weltenabgrund quillt,
[523]
Mehr, o mehr noch laß mich schlürfen,
Bis der Durst mir ganz gestillt!
Wenn das Morgenlicht in feur'gen
Funken auf die Erde stäubt,
Saugend noch an deinem Kelche
Häng' ich selig, süßbetäubt.

31.

Noch sind die Hähne alle stumm,
Und schwer liegt auf den Augenliden
Mir noch der Schlaf der Nacht; warum
Weckt ihr so überfrüh den Müden?
Kaum um den Himmelsrand spielt fern
Ein Schein, als ob die Dämmrung graute;
Schlaftrunken grüßt den Morgenstern
Die Lerche mit dem ersten Laute.
Und matt im Osten hebt der Tag
Sich halb empor vom Wolkensaume,
Dann auf den Pfühl, auf dem es lag,
Sinkt neu sein Haupt zurück zum Traume.
Drück mir die Augen wieder zu!
Fern von dem lauten Lebensschwarme,
Allmutter Nacht, vergönne du
Mir lang noch Rast in deinem Arme!

32.

Ob auch mein Abend längst begonnen,
Doch oft, hellleuchtend wie zuvor,
Noch steigen lang versunkne Sonnen
Vor meinem trüben Blick empor.
[524]
Dann ist mir, wieder herrlich glänze
Die Welt, wie ich sie einst gesehn;
Den Atem lang verblühter Lenze
Fühl' ich durch meine Seele wehn.
Kühl rauscht's in ihrer Wipfel Blättern;
Entgegen quillt mir Blütenduft,
Und lang gestorbne Lerchen schmettern
Von neuem hoch in blauer Luft.
O jubelt fort! Sanft auf dem Pfühle
Laßt mich entschlummern beim Gesang,
Der in des Sonnenaufgangs Kühle
Am Himmel meiner Kindheit klang!

33.

Ums Haupt der alten Bergesriesen
Spielt noch der erste Morgenstrahl
Und gleitet, auf dem Rauch der Wiesen
Hinzitternd, nieder in das Thal.
Leis beben von den Atemzügen
Der Schlafenden die Lüfte noch;
Noch ruht der Stier, bevor zum Pflügen
Der Ackersmann ihn schirrt ans Joch.
O weckt zu seinem Werk voll Mühe
Den Tag aus seinem Schlummer nicht!
Umfang uns lang noch, sel'ge Frühe,
Mit Morgenluft und Morgenlicht!

[525] 34.

Schon lagern über den Mooren
Die Nebel des Abends schwer;
Kaum zittert ein Strahl verloren
Durch der Dünste wallendes Meer.
Die Blätter, die Blüten siechen
Im kalten Oktoberhauch,
Und giftige Lüfte kriechen
Verheerend von Strauch zu Strauch.
Doch ich träume von grünenden Matten
Und Wiesen, mit Tau besprengt,
Darüber an felsigen Platten
Die Rose der Alpen hängt,
Von Gipfeln mit eisiger Firne,
Die hoch in den Himmel ragt
Und den Morgen auf ihrer Stirne
Schon trägt, bevor er noch tagt.
Wer je sich an deiner Quelle
Den Durst, o Liebe, gestillt,
Von ewiger Morgenhelle
Ist ihm die Seele erfüllt.

35.

Dahin der Jugend Wonnen,
Und selbst ihr süßes Weh
Zerstoben und zerronnen
Wie Frühlings-Blütenschnee.
Nicht jauchzt mehr zu den Sternen
Mein Herz wie sonst empor;
Es starrt in öde Fernen
Nach dem, was es verlor.
[526]
Nicht mehr in Schmerz zu bluten
Vermag's, wie einst es that,
Als es die roten Fluten
Erlabten wie ein Bad.
Nur wenn in holdem Sinnen
Dein Auge auf mir ruht,
Wohl regt sich noch tief-innen
In ihm die alte Glut.
Hoch klopfend dann entgegen
Pocht es dem jungen Glück –
Doch sinkt mit matten Schlägen
Bald neu in sich zurück.

36.

Wie war mir so beklommen,
Als ich am Fenster lag!
Ich sah, er war gekommen,
Der erste Wintertag.
In blassem, grauem Streife
Zog Heerrauch ob dem Moor,
Weiß angehaucht vom Reife
Erglänzte Halm und Rohr.
Ein Fink sang auf der Linde
Beim halbgestürzten Nest,
Welk bebten noch im Winde
Die Blätter am Geäst.
Erst in der Abendspäte
Erstarb die Stimme matt –
Der eis'ge Nordwind wehte
Herab das letzte Blatt.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Schack, Adolf Friedrich von. 4. Verwehte Blätter. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B63B-3