Der ewige Wanderer

Rastloser, der, vom alten Fluche wankend,
Im Wettersturme des Vergangnen schwankend,
Mit irren Tritten durch das Weltall schweift,
Dem immer neu der Winterfrost der Jahre
Und der Jahrhunderte die greisen Haare,
Wie Schnee der Alpen Haupt, bereift!
Vorüber sahst du gehn die Menschenalter,
Und neu zur Gruft erstehen gleich dem Falter,
Der ew'gen Tod auf seinen Schwingen trägt,
Und sahst die Völker zu den toten Reichen,
Wie blasse Kinder zu der Mütter Leichen,
Staub zu dem Staub, ins Grab gelegt.
[388]
Um Freude bettelnd klopfst du an die Pforte
Von jeder Zeit; doch jede ruft die Worte
Entgegen dir: Nimm unsre Schmerzen mit!
Ein Lachen, um den Jammer zu betäuben,
Dünkt dich die Lust; wie welkes Laub umstäuben
Der Menschheit Seufzer deinen Tritt.
Jetzt, da nach Aufgang deine Blicke schweifen,
Zählst du am Himmelsrand die blassen Streifen,
Ob einer noch zum ew'gen Morgen fehlt;
Die Dämmrung naht, und auf die vierte Stunde
Weist jene Sternenuhr, die als Sekunde
Das älteste Jahrtausend zählt.
Ein frost'ger Hauch dringt durch des Ostens Spalten,
Und Heerrauch wallt herab in grauen Falten;
Der Morgen tagt, doch tagt in Finsternis;
Angstvoll nur flattern einzle Himmelslichter;
Der Erdstoß schreitet näher, der Vernichter;
Von Pol zu Pole klafft ein Riß.
Ein Donner dröhnt von fallenden Lawinen,
Und Welt an Welt, Ruine an Ruinen,
Stürzt zitternd durch die aschenbleiche Luft;
Die Monde und die Wandelsterne rollen,
Wie auf den Sarg der Sterblichen die Schollen,
Zu ihren Sonnen in die Gruft.
Es knicken, losgerissen aus den Fugen,
Die Säulen, die den Bau der Schöpfung trugen,
Wie nächt'ge Schatten in dem Strahl des Lichts,
Und durch die Nebel, wie sie niedertriefen,
Gähnt in den ausgeleerten Himmelstiefen
Das öde, grenzenlose Nichts.
Doch du, o Seufzer auf des Ew'gen Lippe,
O Wandrer, spähst noch von der Trümmerklippe
[389]
Des toten Weltalls nach dem künft'gen Einst;
Verronnen sind die Ströme und die Meere;
Noch aber ist sie nicht versiegt, die Zähre,
Die brennendheiße, die du weinst!
Und um dich her, wie Blasen auf dem Schaume,
Gärt neues Leben in dem wüsten Raume
Und schleudert Sonnen, Ball an Ball gereiht,
Durch neue Himmel hin mit ihren Erden,
Und schäumend überschwillt das neue Werden
Die Marken der Unendlichkeit.
Aufs neue dann, von ew'gem Durst getrieben,
Indes gleich Flocken Welten um dich stieben,
Raffst du dich auf an deinem Wanderstab
Und fragst die Brandung neuer Oceane,
Die Flammenherde werdender Vulkane:
Habt ihr für meinen Schmerz ein Grab?
O Bild der Menschheit, Bild der gramerkornen,
Die ewig seufzt ums Glück der Ungebornen,
Doch nie dem Fluch entrinnt, der sie ergreift
Und sie als Opfer mit den beiden Schergen,
Geburt und Tod, auf Wiegen und auf Särgen
Von Dasein fort zu Dasein schleift!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Schack, Adolf Friedrich von. Gedichte. Gedichte. 4. Vermischte Gedichte. Der ewige Wanderer. Der ewige Wanderer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B7B7-5