208. Der dreibeinige Hase.

1.

Als einst die Armee bei Luxemburg stand, war ein Soldat auf dem Posten eingeschlafen. Er wurde schlafend gefunden und zum Spießruthenlaufen verurtheilt. Die Strafe ward an ihm vollzogen und er dabei so geschlagen, daß er bald nachher starb. Ein Korporal, der sich dabei besonders unmenschlich bewiesen hatte, erhielt späterhin seinen verdienten Lohn und starb auf eine schmähliche Weise. Der Soldat aber ist nach seinem Tode in einen dreibeinigen Hasen verwandelt und geht als solcher Nachts ruhelos umher von einem Posten zum andern, und wo er einen Soldaten auf dem Posten eingeschlafen findet, den schlägt er mit seinen Pfoten, so daß er aufwacht. Auf diese Weise wendet er von den Soldaten die grausame Strafe ab, die er selbst erlitten hatte.

2.

Einst trieb der Kuhhirt aus Vogelbeck seine Kühe an einen Platz nahe bei der Vogelsburg, wohin er sie nicht treiben durfte. Doch da er das schon mehrmals gethan hatte, ohne von dem Förster dabei ertappt zu werden, so war er dreist geworden und glaubte es wieder wagen zu dürfen. Er hatte sich auf den Boden gesetzt, als plötzlich ein dreibeiniger Hase daher kam, sich dicht vor ihm hinsetzte und die Vorderpfoten in die Höhe hob, als wenn er ihn schlagen wollte. Bei diesem Anblick hetzte der Hirt seinen Hund auf den Hasen, doch dieser rührte und regte sich nicht, obgleich er sonst gern auf Hasen Jagd machte und schon mehrmals einen gefangen hatte. Jetzt sprang der Hirt selbst auf und jagte den Hasen mit dem Stocke fort. Nach einer kleinen Weile erschien aber der Förster und ertappte den Hirten an der verbotenen Stelle. Der dreibeinige Hase hatte ihn vor dem Förster warnen wollen.

3.

Vor den Goschenthore in Hildesheim lag vor alten Zeiten [191] ein Dorf, das hieß Hohensen. Dieß Dorf ist »untergegangen,« doch nennt man noch heute die Gegend, wo es gestanden hat, Hohensen und viele Leute haben dort ihre Gemüsegärten. Wenn am Sonntag des Morgens Alles so recht still ist, hört der Schweinehirt oft noch die Kirchenglocken tief unten in der Erde läuten, auch will er darauf schwören, daß er einmal die Orgel hörte, als er das Ohr auf die Erde gelegt hatte. – So viel ist gewis, in Hohensen ist's nicht richtig, und jeder der dort ein Kampstück hat, kann am andern Morgen die Spuren von dem Dreibein eingedrückt sehen. Einige sagen das Dreibein sei ein dreibeiniger Esel, der gehe zwischen zwölf und eins in Hohensen und dann in die Stadt bis in die kleine Gasse an der St. Annenkirche im Poggenhagen. Das Dreibein ist aber kein Esel, sondern ein dreibeiniger Hase; man muß sich nur überzeugen und die Spuren genau ansehen, Doch mag uns der liebe Gott davor bewahren, daß wir den Hasen selbst sehen, denn es ist dem noch nie gut gegangen, dem das Dreibein begegnet ist. Wer deshalb des Nachts in Hohensen nichts zu thun hat, bleibe da weg.


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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 208. Der dreibeinige Hase. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BA30-C